Die Niederlage von Syriza bei den griechischen Parlamentswahlen
Robert Stevens. In der ersten Runde der griechischen Parlamentswahlen am Sonntag hat die rechte Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) mit fast 41 Prozent der Stimmen deutlich gewonnen. Für die größte Oppositionspartei Syriza („Koalition der radikalen Linken“), die nur 20 Prozent der Stimmen erhielt, war es eine Niederlage mit einem Rückgang um 12 Prozentpunkte gegenüber 2019.
Die ND siegte trotz des weit verbreiteten Widerstands in der Arbeiterklasse gegen ihre Sparpolitik, ihre mörderische Pandemiepolitik mit sechs Millionen Corona-Fällen und über 36.000 Toten und die Einbindung Griechenlands in den Nato-Krieg gegen Russland.
Das Ergebnis wurde nicht einmal von den wochenlangen Massenprotesten und Streiks nach dem schrecklichen Zugunglück von Tempi beeinflusst. 57 Menschen, vor allem junge Studenten, kamen bei der Katastrophe im Februar ums Leben, die durch jahrzehntelange Kürzungen und Personalabbau verursacht wurde.
Nach 15 Jahren Sparpolitik ist die soziale Not der Arbeiter enorm. Unter diesen Bedingungen war der Sieg der ND nur möglich, weil es keine linke Alternative gab. Die große Mehrheit der Arbeiterklasse kam zu dem Schluss, dass sich keine der offiziellen Parteien der nominellen Linken – Syriza, PASOK und die stalinistische Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) – wesentlich von der ND unterscheidet. Trotz der Wahlpflicht in Griechenland haben sich etwa 40 Prozent der Wähler enthalten.
Syriza hat während ihrer Regierungszeit von 2015 bis 2019 und in den Jahren nach ihrer Abwahl bewiesen, dass sie die Partei der Spardiktate ist. Sie hat Griechenland außerdem in ein Gefängnis für Flüchtlinge verwandelt und eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung des Nato-Kriegs gegen Russland gespielt.
Die Bilanz von Syrizas Politik ist eine strategische Erfahrung für die internationale Arbeiterklasse. Die Behauptung pseudolinker Tendenzen auf der ganzen Welt, sie könnten über die Wahl ihrer prokapitalistischen Parteien in die Regierung grundlegende Veränderungen erreichen, ist völlig bankrott. Arbeiter müssen diese politische Falle bewusst zurückweisen. Die zunehmenden Streiks und Proteste weltweit erfordern einen sozialistischen Kampf gegen den Kapitalismus.
Syriza kam im Januar 2015 mit Massenunterstützung an die Macht, weil sie versprochen hatte, die brutale Sparpolitik der vorherigen PASOK- und ND-Regierungen zu beenden. Stattdessen setzte sie mindestens sieben umfassende Sparpakete durch, die von der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds, der sogenannten „Troika“, gefordert wurden. Darunter waren 15 Renteneinschnitte, Lohnkürzungen, Steuererhöhungen, Entlassungen und Haushaltskürzungen im Sozialbereich sowie im Bildungs- und Gesundheitswesen.
Syriza ging eine Regierungskoalition mit den rechtsextremen und fremdenfeindlichen Unabhängigen Griechen (Anel) ein. In Zusammenarbeit mit der Gewerkschaftsbürokratie setzte sie eine pro-kapitalistische Politik um, die zu einer beispiellosen sozialen Verelendung und einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 30 Prozent führte. Viele Arbeiter haben sich von diesen Sozialangriffen nie erholt.
Das ist der Grund, warum Syriza nicht in der Lage war, von dem Unmut der Arbeiter und der Jugend gegen die ND zu profitieren. Ihr Vorsitzender Alexis Tsipras versuchte zwar das Zugunglück von Tempi für sich zu nutzen, aber niemand hat vergessen, dass Syriza die Verantwortung dafür trägt. Sie hat die Bedingungen für die Katastrophe geschaffen, indem sie die Bahn 2017 privatisierte, als Teil einer ganzen Reihe von Privatisierungen im Wert von über 6 Milliarden Euro.
Tatsächlich ist Syriza seit 2019 weiter nach rechts gerückt und hat sich in Syriza-Progressive Allianz umbenannt, um im Lager der sozialdemokratischen PASOK zu fischen. Tsipras erklärte in der Wahldebatte, er sei sich „der fiskalischen Möglichkeiten des Landes voll bewusst“.
Syriza stimmte im vergangenen September gemeinsam mit der ND und der PASOK für die Annahme der Nato-Beitrittsanträge Schwedens und Finnlands. Während ihrer Amtszeit war die Partei auch ein zuverlässiger Nato-Partner, der dem Bündnis wichtige Militärstützpunkte zur Verfügung stellte, darunter die Marinebasis in der Bucht von Souda, die jetzt für den Krieg gegen Russland unverzichtbar ist.
Syrizas Verrat entlarvt auch die unzähligen pseudolinken Gruppen, die sie zum Modell für den Aufbau ähnlicher „breiter linker“ Bewegungen in Europa und international erklärt haben. Parteien wie Podemos in Spanien, der Linksblock in Portugal oder die Anhänger des ehemaligen britischen Labour-Führers Jeremy Corbyn und Gabriel Boric in Chile haben denselben politischen Verrat begangen, für den die Arbeiterklasse nicht nur mit brutalen Sparmaßnahmen, sondern auch mit der Verschärfung von Militarismus und Krieg bezahlt.
Da Syriza völlig diskreditiert war, versuchten einige Pseudolinke, denselben Betrug zu wiederholen, indem sie für MeRA25 (Europäische Front des realistischen Ungehorsams) warben, die Partei von Tsipras’ ehemaligem Finanzminister Yanis Varoufakis. Einige Tage vor der Abstimmung am Sonntag veröffentlichte die Zeitschrift Jacobin, die mit den Demokratischen Sozialisten Amerikas (DSA) verbündet ist, ein Interview mit Mariana Tsichli, die für das Wahlbündnis der MeRA25 mit einer anderen Syriza-Abspaltung, der Volkseinheit, antrat. Tsichli behauptete, sie wollen das „verhängnisvolle Erbe“ von Syriza „überwinden“, indem sie „einen geeinten radikal-linken Raum wieder aufbauen und in der Lage sind, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und auf die Herausforderungen der Gegenwart zu reagieren“.
Varoufakis ist nicht nur himmelweit davon entfernt, eine solche Alternative darzustellen, sondern war vielmehr führend am Verrat von Syriza beteiligt. Beim Regierungsantritt 2015 erklärte er, dass er die Austeritätspolitik nur etwas abwandeln wolle und „normale, an Thatcher und Reagan orientierte“ Wirtschaftsmaßnahmen vorschlage. Auf dieser Grundlage verhandelte er mit der Troika.
Da Varoufakis bei den Arbeitern ebenso verhasst ist wie Tsipras, erhielt die MeRA25-Allianz weniger als drei Prozent der Stimmen, verpasste damit den Einzug ins Parlament und verlor die neun Sitze, die sie 2019 gewonnen hatte. Varoufakis brachte seine rechte Agenda selbst auf den Punkt, als er seine Niederlage damit erklärte, dass „die Menschen die Wahrheit nicht wirklich wollen“. Gleichzeitig griff er die ND von rechts an. „Vier Jahre lang Ausgaben, Ausgaben, Ausgaben mit Unterstützung der Europäischen Zentralbank“ warf er der Regierung vor.
Das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI), die trotzkistische Bewegung, hat als einzige Partei die Arbeiter rechtzeitig vor dem Klassencharakter und der politischen Rolle Syrizas gewarnt.
Am 27. Januar 2015, als Tsipras die Macht übernahm, schrieb die World Socialist Web Site:
Syrizas Wahlsieg ist kein Ausdruck einer politischen Entwicklung der Arbeiterklasse, oder ein Schritt vorwärts oder ein Fortschritt für die Arbeiterklasse.
Syriza ist von ihrem Ursprung, ihrer sozialen Zusammensetzung und ihrer Politik eine bürgerliche Partei, die – wie die amerikanischen Demokraten unter Präsident Barack Obama und viele ähnliche Parteien – mit dem Versprechen auf „Hoffnung“ und „Wandel“ an die Macht kommen konnten, dann jedoch Austeritäts- und Kriegspolitik betrieben haben. Sie wird die Hoffnungen auf ein Ende des sozialen Elends und Leidens, das sie zynisch ausgenutzt hat, unweigerlich enttäuschen und verraten, eher früher als später.
Das IKVI veröffentlichte im November 2015 die Erklärung „Die politischen Lehren aus dem Verrat Syrizas in Griechenland“, nachdem Syriza das „Nein“-Votum der griechischen Bevölkerung mit Füßen getreten hatte. Sie hatte selbst ein Referendum über das Diktat der Troika angesetzt, in dem die Mehrheit der Bevölkerung gegen die Sparmaßnahmen stimmte. Doch dann peitschte Syriza ein massives neues Sparprogramm durch das Parlament. In dem WSWS-Statement heißt es:
Es muss offen ausgesprochen werden, dass die Erfahrung der Syriza-Regierung eine große Niederlage für die Arbeiterklasse war. … Die zentrale Aufgabe ist die politische Neubewaffnung der Arbeiterklasse und der Aufbau einer neuen revolutionären Führung, die sich auf die erbarmungslose Kritik an den Parteien, Persönlichkeiten und politischen Konzepten stützt, die für die Niederlage verantwortlich sind. Das ist die Bedeutung der Arbeit des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in Bezug auf die Ereignisse in Griechenland.
In Griechenland, in Europa und überall auf der Welt kann die Arbeiterklasse sich nur verteidigen durch den Aufbau neuer Parteien der Arbeiterklasse, die völlig unabhängig sind von allen Teilen der kapitalistischen Klasse und sich auf ein internationalistisches revolutionäres Programm gründen. Dessen Ziel muss die Errichtung der Arbeitermacht, die Abschaffung des Kapitalismus und die Errichtung einer weltweiten sozialistischen Gesellschaft sein.
In ihrer Einschätzung der vierjährigen Regierungszeit von Syriza und der Wahlniederlage im Jahr 2019 betonte die WSWS, dass die Arbeiter mit der gesamten pseudolinken Politik abrechnen müssen:
Die Erfahrung in Griechenland hat gezeigt, dass es unmöglich ist, das bankrotte kapitalistische System zu bekämpfen, indem man für „linkspopulistische“ Parteien stimmt, die Reformen im Kapitalismus versprechen. Der Verrat von Syriza, die ihre Klassenbasis im wohlhabenden Kleinbürgertum hat, wird sich wiederholen, wenn ähnliche Parteien anderswo an die Macht kommen.
Ein Weg vorwärts ist nur durch die Hinwendung zur Perspektive des klassischen Marxismus, d.h. zum Trotzkismus möglich: die revolutionäre Mobilisierung der gesamten ökonomischen Kraft der internationalen Arbeiterklasse, um die Kontrolle über das Wirtschaftsleben und den Staat zu gewinnen.
Die weitsichtigsten Arbeiter und Jugendlichen müssen jetzt mit dem Aufbau einer griechischen Sektion des IKVI beginnen, als Teil einer neuen revolutionären Wende der europäischen und internationalen Arbeiterklasse.
#Titelbild: Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras bei einer Parteiveranstaltung in Athen am 27. Mai 2019. Nach der schweren Niederlage von Syriza bei den Europawahlen hatte er vorgezogene Neuwahlen angesetzt [AP Photo/Yorgos Karahalis]
Quelle: wsws.org… vom 26. Mai 2023
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitswelt, Breite Parteien, Chile, Frankreich, Griechenland, Neoliberalismus, Neue Rechte, Spanien, Strategie
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