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documenta 15: Eine hysterische Antisemitismus-Debatte gegen Kunst

Eingereicht on 11. November 2022 – 10:27

Sybille Fuchs & Franci Vier. Am 25. September ging in Kassel nach hundert Tagen die documenta 15 zu Ende. Sie wurde von immer neuen Verleumdungen wegen angeblichem Antisemitismus der Kuratoren, Künstler und Organisatoren überschattet.

Nach dem Ende der renommierten Ausstellung für zeitgenössische Kunst wurde die Hetzkampagne noch heftiger. Der Spiegel, der sie in seiner Berichterstattung nur noch als „Antisemita“ bezeichnet hatte, erklärte die gesamte documenta 15 für gescheitert. Spiegel-Autor Dietmar Pieper rückte sie sogar in die Nähe der berüchtigten Völkerschauen am Ende des 19. Jahrhunderts.

Auch die toxische Debatte über den „Antisemitismus“ des indonesischen Kuratorenteams Ruangrupa geht unvermindert weiter. Sie richtet sich jetzt gegen die Gastprofessur der Ruangrupa-Mitglieder Reza Afisina und Iswanto Hartono in Kassel und an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Auch hier protestieren Politiker, Antisemitismusbeauftragte, die Jüdische Gemeinde und Verteidiger der Politik der israelischen Regierung. Die Hochschulen wollen jedoch bisher daran festhalten.

Trotz der üblen Berichterstattung ließen es sich 738.000 Besucher und Besucherinnen nicht nehmen, die auf der documenta 15 ausgestellten Werke und Projekte zu sehen. Das waren nur unwesentlich weniger Besucher als bei der letzten Ausstellung 2017.

Der Interims-Nachfolger der am 16. Juli wegen der Vorwürfe zurückgetretenen Generaldirektorin der documenta 15 Sabine Schormann, Alexander Farenholtz, erklärte dazu in seinem Fazit: „Diese documenta hatte es angesichts der sie begleitenden Antisemitismusdebatte nicht leicht, ihre eigentlichen künstlerischen Anliegen zu platzieren. Ich wünschte mir, dass die Ausstellung in der Retrospektive auch als das gesehen werden kann, was sie in der Wahrnehmung vieler Besucher*innen war: nämlich ein künstlerisches Unterfangen, das wichtige Fragen unserer Zeit adressiert.“

Wer sich auf die ungeheure Vielfalt der gezeigten Projekte aus aller Welt einließ und nicht nur gekommen war, um nach Spuren israelkritischer Darstellungen zu suchen, war meist begeistert. Diese documenta war so spannend, gerade weil die Kuratoren einen ganz anderen Ansatz hatten als bei früheren Ausstellungen, denen es mehr oder weniger um individuelle Werke einzelner Künstlerpersönlichkeiten ging. Im Gegensatz zur öffentlichen Kampagne fanden zahlreiche Besucher viele der ausgestellten Werke und Projekte als ausgesprochen „gemeinschaftsstiftend“ – und sowohl künstlerisch als auch im Sinn einer positiven Veränderung von Gesellschaft und Wirtschaft höchst anregend.

Zur Konzeption der Kuratoren

Das Konzept der Kuratoren, des indonesischen Künstlerkollektivs Ruangrupa, richtete sich gegen Kolonialismus, Kapitalismus, Rassismus, Ausbeutung, Unterdrückung durch diktatorische Regime und Zensur. Ihr Ziel war es, der Kunst verschiedener Kollektive des globalen Südens eine Chance zu geben, weltweit wahrgenommen zu werden, sowie Möglichkeiten der internationalen Vernetzung und des Austauschs zu schaffen. Sie propagierten das Lumbung-Prinzip der indonesischen Reisscheune, in die alle Bauern ihre überschüssige Ernte einfahren, um diese gemeinschaftlich zu teilen.

Der ganze Ansatz von Ruangrupa ist der Versuch, Personen und Orte über das gängige Kunstpublikum hinaus zu erreichen und einzubeziehen. Ruangrupa hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die künstlerischen Ansätze von Kollektiven meist aus südlichen und ehemaligen Kolonialländern zu zeigen, die versuchen, mit ihrer Kunstpraxis Auswege aus Elend und Unterdrückung zu finden oder globale Probleme, wie den Klimawandel, anzupacken.

Kritik an solchen Konzepten und etwa den postkolonialistischen Kunst-Projekten ist möglich und nötig. Es geht nicht einfach um den ausgebeuteten globalen Süden und reichen Norden. Die größten Probleme der Welt im Süden wie im Norden – Rassismus, Ausbeutung, Klimakatastrophen und Kriege – haben eine gemeinsame Ursache, den globalen Kapitalismus und den Gegensatz zwischen kollektiver Produktion durch die ausgebeuteten Massen und privater Aneignung durch die Unternehmen und Finanzaristokraten.

Das von Ruangrupa propagierte Lumbung-Prinzip ist zwar sehr sympathisch, lässt sich aber ebenso wenig wie die Allmende der mittelalterlichen Bauern mit dem Kapitalismus vereinbaren, was sich schon daran zeigt, dass gerade in Indonesien die soziale Ungleichheit enorm ist und die Regenwälder brutal abgeholzt und in Kokosplantagen verwandelt werden.

Im Suchen nach Auswegen oder Alternativen blicken die Künstlerkollektive der documenta 15 oftmals auf vorindustrialisierte Lebensbedingungen, wo Technik als solche vor allem als feindlich und zerstörerisch dargestellt und wahrgenommen wird. Auch die starke Fokussierung auf das Lokale lässt globale, internationale Perspektiven und Politiken nur schwer zu. An vielen Stellen zeigten die Projekte und Werke antimoderne, folkloristische, antiwissenschaftliche Charakterzüge.

Aber was die Auseinandersetzung mit dieser documenta so spannend machte, war, dass zum einen die Dichotomie zwischen Kunst und Publikum durchbrochen wurde und dass sie fundamentale Fragen aufwarf: Was ist Kunst, wer darf/kann Kunst machen, was kann Kunst bewirken, wie kann Kunst Teil des Lebens sein/werden, wessen Geschichte wird gehört? Und: wie sieht die Welt jenseits von Europa und Nordamerika aus?

Viele der Arbeiten zeigten einfach – sozusagen fast „unpolitisch“ – das Leben marginalisierter oder abseits lebender Gemeinschaften und deren kulturelle Praxis. Man sah Orte und die Vielfalt von Leben in kultureller oder politischer Hinsicht. Dabei war sehr interessant, dass in den gezeigten Communities Kunst viel stärker in ihren oft mühsamen Alltag integriert bzw. mit ihm verflochten ist. Man erfuhr so etwas von Welten, die sonst unsichtbar bleiben. Viele Besucher fanden das sehr inspirierend.

Wajukuu Art Project [Photo by documenta 15 / Nicolas Wefers]

Um nur einige Projekte zu nennen:

Return to Sender: Groß sichtbar liegen auf der Karlswiese riesenhafte Pakete gebrauchter Kleidung, die aus Europa nach Afrika geschickt worden war, Kleidung, die durch Billiglohnarbeit in Ländern wie Bangladesch hergestellt und in Europa verkauft, getragen und entsorgt wurde.

Künstlerisch höchst anspruchsvoll waren die Objekte des Kollektivs Wajukuu aus einem Slum in Nairobi (Kenja). Sie zeugten gleichzeitig von hohem sozialem Engagement, weil das Kollektiv aus Wellblech und Stroh nicht nur Kunstwerke schafft, sondern auch dafür kämpft, dass die Kinder, denen kaum Bildungschancen geboten werden, dort Schreiben und Lesen lernen und Kunst machen können.

Aufgrund ihrer prekären sozialen und ökonomischen Situation arbeiten sehr viele der gezeigten Kollektive mit ihnen vor Ort zur Verfügung stehenden Mitteln. Sie verstehen Kunst bzw. künstlerische Tätigkeiten sowohl als individuellen Ausdruck wie auch als gesellschaftliche Teilhabe und nicht als elitäres Dekor oder akademische Spielerei. Der Kunstmarkt, wie wir ihn vor allem im Westen kennen, ist eher ein Ort und ein Instrument der Exklusion und breiten Schichten der Bevölkerung kaum zugänglich.

Das drückte sich auch im Konzept von RuruKids aus. Normalerweise stören Kinder die Ruhe und Sicherheit in Ausstellungen. Hier erhielten sie einen eigenen Raum, in dem die teilnehmenden Künstler für sie Workshops etc. anboten.

Auch das Project Art Works aus dem britischen Hastings ist bemerkenswert. Neurodiverse Künstler und ihre Betreuerinnen zeigen, wie kognitiv oder körperlich eingeschränkte Menschen mit der entsprechenden Unterstützung durch Malen oder auf verschiedene Art künstlerisch tätig werden und ihre Traumata bewältigen können.

Was die documenta 15 besonders machte, war auch, dass ihre Ausstellungsorte und Interventionen sich weit über das Zentrum Kassels hinaus in die Peripherie erstreckten. Sie durchzogen die ganze Stadt und bezogen sie mit ein, gerade auch Orte jenseits etablierter Institutionen, wo sonst Kultur stattfindet, insbesondere in „benachteiligten Stadtgebieten“.

Um neue Verbindungslinien zu knüpfen, arbeitete Ruangrupa mit „Künstler*innen und Kollektiven zusammen, die sich in ihrer Praxis außerhalb von Kunst- und Kulturräumen bewegen“. [1] Insgesamt waren mehr als 1500 Menschen an der Ausgestaltung beteiligt.

Die documenta traf damit auf eine Sehnsucht beim Publikum, nämlich gerade in dieser Zeit von Krieg, extremer Ausbeutung und Verarmung großer Teile der Gesellschaft, Kunst und Gemeinschaft anders zu denken und zu leben und die kapitalistische und leistungsorientierte Vereinzelung zu überwinden. Dass sich die Lebensbedingungen vieler Menschen zusehends verschlechtern, macht ihnen die gesellschaftliche Teilhabe nicht nur an Kultur immer schwieriger.

Insgesamt lag der Fokus der documenta nicht auf finalen Kunstwerken, sondern auf vielfältigen offenen, sich erweiternden Prozessen. Sie war damit keine Ausstellung im klassischen/herkömmlichen Sinne. Daher waren sowohl künstlerische als auch kulturelle, ja soziale Tätigkeiten wie Workshops, Diskussionen, Vernetzung, Austausch, Happenings wichtiger Bestandteil.

Als künstlerische Mittel galten nicht mehr nur Farbe, Stein oder Fotografie, sondern Pflanzungen, Essen und seine Zubereitung, Radio, mündliche Erzählungen und vielfältige Alltagsmaterialien und Gespräche. Das Publikum selbst wurde aus der passiven Rezeption herausgeholt und mit in die künstlerischen Prozesse einbezogen.

Das Prinzip Lumbung von Ruangrupa ist, um es mit den Worten des Kollektivmitglieds Iwanto Hartonos auszudrücken, „politisch, insofern Politik einer seiner Inhalte ist, ebenso Ökonomie und Kultur, besonders in der heutigen Zeit, in der das Bedürfnis der Menschen nach einem System wächst, welches das Gegenteil des kapitalistischen ist“.

Antisemitismus-Vorwürfe schon vor der Eröffnung

Aber diese Weltkunstausstellung litt schon seit Januar, Monate vor ihrem Beginn im Juni, unter der Anschuldigung, sie wolle Antisemitismus verbreiten oder der antizionistischen Kampagne BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) ein Forum bieten. Dabei hatte zu diesem Zeitpunkt noch niemand etwas von der Ausstellung gesehen. Es war lediglich bekannt geworden, dass unter vielen anderen auch palästinensische Künstlerkollektive eingeladen waren.

Der israel-kritischen BDS-Kampagne haben sich international viele – auch jüdische – Künstler angeschlossen. Gegen den Bundestagsbeschluss von 2020, BDS-nahen Künstlern und Veranstaltungen weder Förderung noch öffentliche Räume zur Verfügung zu stellen, wandten sich zahlreiche Kulturschaffende und warnten vor Zensur und Unterdrückung der Meinungsfreiheit. Wie berechtigt diese Warnungen waren, hat jetzt die documenta gezeigt.

Als dann kurz nach der Eröffnung der documenta im Juni ein übergroßes Banner des Kollektivs Taring Padi auftauchte, das die Vorwürfe angeblich bestätigte, war dies Wasser auf die Mühlen der gleichgeschalteten Medien und Politiker.

Das vor 20 Jahren gemalte Großbild mit dem Titel „The People´s Justice“ (Gerechtigkeit des Volkes) war im Rahmen einer Kampagne gegen die damals noch frisch erinnerte blutige Diktatur von Haji Mohamed Suharto entstanden. Das Banner, das erst abgehängt und dann vollständig entfernt wurde, enthielt über hundert karikierte Figuren. Davon ähnelte eine stark den Judendarstellungen der Nazis. Eine weitere, ein Soldat mit Schweinekopf, SS-Runen mit der Aufschrift „Mossad“ am Helm und einem Halstuch mit Davidstern sollte, so die Künstler, an die Unterstützung des israelischen Geheimdiensts für das Suharto-Regime erinnern.

Das Künstlerkollektiv entschuldigte sich dafür, dass diese Darstellungen in Deutschland wegen der Verbrechen des Holocaust offensichtlich Gefühle verletzt hätten. Den Vorwurf des Antisemitismus weisen Taring Padi und die Kuratoren Ruangrupa jedoch entschieden zurück.

Taring Padi zeigte im Hallenbad Ost eine Retrospektive, in der es sein umfangreiches Oeuvre der letzten 22 Jahre vorstellte. Da konnte man sehr genau sehen, mit welchen Fragen sich die Künstler auseinandergesetzt haben. Doch damit hat man sich in den Medien nicht genauer beschäftigt. Das Motiv des Schweins z.B. tritt dort als Repräsentanz verschiedener Unterdrücker auf. Die Künstler arbeiten mit Karikaturen, Überzeichnungen, ja auch mit wiederkehrenden Stereotypen im Stile von Agit-Prop. Zu erkennen ist auch, dass etliche Karikaturen reicher Potentaten eindeutig Züge indonesischer Oligarchen oder Landlords tragen und keineswegs an Juden erinnern.

„Guernica Gaza“

Auch die Bilder der Collagen-Serie von Mohammed Al Hawajri „Guernica Gaza“ riefen wütende Kommentare hervor. Der Künstler hat Bilder von Angriffen der israelischen Armee auf das Palästinensergebiet mit klassischen Motiven von Millet, Delacroix, Chagall oder van Gogh kombiniert und erinnert mit seinem Titel an Pablo Picassos Gemälde von 1937.

Dass Al Hawajri die Zerstörung der spanischen Stadt Guernica durch einen Luftangriff der deutschen „Legion Condor“ mit den Luftangriffen der israelischen Armee auf Gaza verglich, wurde als illegitim angeprangert. Wie wäre es wohl gewesen, wenn Künstler derartige Bilder mit dem Titel „Guernica Odessa“ oder „Guenica Charkiw“ gezeigt hätten?

Im Verlauf der Ausstellung wurden weitere angebliche Beweise für den „Judenhass“ der documenta-Verantwortlichen zu Tage gefördert.

So fanden sich in einer Broschüre der „Archives des luttes des femmes en Algérie“ („Archive der Frauenkämpfe in Algerien“) Zeichnungen aus dem Jahr 1988 von gewalttätigen Übergriffen israelischer Soldaten auf palästinensische Kinder und Frauen. Unter anderem ging es um ein Bild, auf dem ein israelischer, roboterartig dargestellter Soldat mit Davidstern ein Kind attackiert, und eines mit einer Frau, die einen israelischen Soldaten mit grotesker Hakennase und Davidstern angreift.

Die beanstandeten Zeichnungen sind Teil eines frei zugänglichen Archivs und müssen als historisches Material politischer und sozialer Auseinandersetzung aus jener Zeit verstanden werden. Das Kollektiv sammelt und digitalisiert „seit der Unabhängigkeit sowohl in Algerien selbst als auch in der Diaspora produziertes schriftliches, fotografisches und anderes Material,“ heißt es auf der documenta-Website.

Die mediale Berichterstattung ging kaum auf den historischen Kontext dieser Arbeit ein und verwies stattdessen auf die antisemitische Propaganda von jüdischen Kindermorden. Die Direktorin des Einstein Forums Potsdam, Susan Neiman, machte in ihrer Kritik an der „Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs“ darauf aufmerksam, dass in Gaza letztes Jahr 67 Kinder durch israelische Bomben getötet wurden. [2] Das Kollektiv antwortete auf die Vorwürfe mit einer ausführlichen Kontextualisierung und Positionierung. [3]

Expertengremium bestätigt „Antisemitismus“

Auch ein wissenschaftliches Expertengremium, das eingesetzt worden war, um die gesamte Ausstellung gründlich auf weitere „antisemitische“ Darstellungen zu durchforsten, wurde fündig.

Es forderte die Einstellung der Vorführung der propalästinensischen „Tokyo Reels“, Videos aus den 1970er Jahren. Darin werde erklärt, Israel betreibe einen „Genozid“ an den Palästinensern, es werde so mit dem nationalsozialistischen Deutschland und dem Holocaust gleichgesetzt. Das Gremium erklärte, eine Vorführung der Filme sei nur möglich, „wenn diese in einer Form kontextualisiert würden, die ihren Propagandacharakter verdeutlicht, ihre antisemitischen Elemente klar benennt und historische Fehldarstellungen korrigiert“.

So rissen die Antisemitismus-Vorwürfe die ganze Ausstellungszeit über nicht ab, sondern wurden immer giftiger. Es wurden sogar Forderungen laut, die Ausstellung sofort zu schließen, ihr auf der Stelle und künftig die Gelder zu streichen und dem Staat ein Mitspracherecht einzuräumen. D.h. nicht die Künstler und Kuratoren, sondern die Politik sollte das letzte Wort haben, was gezeigt wird. Das würde darauf hinauslaufen, in Zukunft jede Kunstveranstaltung politisch zu zensieren.

Auch angeblich liberale Medien wie Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung distanzierten sich nicht von den Vorwürfen, sondern gossen weiteres Öl ins Feuer. Mit den vielfältigen und interessanten Kunstwerken und Projekten der Ausstellung an 32 Orten in Kassel, die zum Teil sogar kostenlos zu sehen waren, beschäftigten sich die Mainstreammedien dagegen kaum. Nur auf Arte, in der Berliner Zeitung, in den Magazinen Art und Kunstforum sowie im online Monopol Magazin gab es vereinzelte positive Beiträge und etwas differenzierte Kritik.

Einer der perfidesten Vorwürfe gegen documenta-Künstler und Veranstalter lautete, sie betrieben Täter-Opfer-Umkehr. Dabei gelten pauschal alle Israelis, samt ihrer Regierung, als Opfer von Antisemitismus, während die Palästinenser und jeder, der sie verteidigt, als Täter identifiziert werden.

Andreas Fanizadeh behauptete in der taz, BDS habe die documenta „gekapert“. „Die Solidarität mit ausgeflippten, künstlerisch unbedeutenden Israelhassern – die auch nicht ‚die‘ Palästinenser repräsentieren – wurde zum gemeinschaftsstiftenden Band,“ schrieb er.

Viele Künstler/innen und Kollektive, darunter Tanja Bruguera aus Kuba, hatten dagegen den Eindruck, dass nicht BDS die documenta gekapert habe, sondern dass die documenta von denen gekapert wurde, die ihr Antisemitismus vorwarfen: „Plötzlich mussten wir alle befürchten, als antisemitisch abgestempelt zu werden, weil wir in dieser Ausstellung waren,“ erklärte sie in einem Interview mit dem Monopol Magazin.

Ruangrupa in der Installation Vietnamese Immigrating Garden von Tuan Mami [Photo by documenta 15 / Nicolas Wefers]

Ruangrupa empfand die immer wieder erhobenen Vorwürfe zu Recht als Zensur und rassistisch. „Wir sind wütend, wir sind traurig, wir sind müde, wir sind vereint. … Seit Monaten sind wir in den großen Medien, auf der Straße und in unseren Räumen immer wieder mit Verleumdungen, Demütigungen, Vandalismus und Drohungen konfrontiert“, heißt es in ihrer Stellungnahme vom 10. September, die von vielen anderen Teilnehmern der documenta unterschrieben wurde.

Weiter heißt es in Ruangrupas Offenem Brief: „In diesem feindseligen Umfeld waren Akteure mit einer koordinierten Agenda entschlossen, jeden Hinweis auf eine vorweggenommene ‚Schuld‘ zu finden, indem sie jedes kritische Detail in eine vereinfachende antisemitische Lesart verdrehten und dieselbe Anschuldigung immer wieder wiederholten, bis sie als Tatsache akzeptiert wurde.“

Antisemitimus-Vorwurf gegen kritische Kunst

Die documenta 15 ist solchen Anfeindungen ausgesetzt, weil sie Fragen der Ungleichheit, der Unterdrückung und des Kriegs aufgeworfen und oft eindeutig Stellung bezogen hat.

Immer häufiger wird mit Hilfe des Antisemitismus-Vorwurfs der Versuch gemacht, kritische Stimmen in Journalismus, Kunst und Kultur mundtot zu machen. Zahlreiche Beispiele aus den letzten Jahren zeugen davon: Ruhrtriennale, Jüdisches Museum in Berlin, Kamila Shamsie, Nemi Al Hasan, Roger Waters, um nur einige zu nennen.

Zweifellos gibt es in Deutschland Antisemitismus, aber er kommt in der Regel von rechts. Obwohl der Staat auf dem rechten Auge meist blind ist, weisen die offiziellen Statistiken nach, dass die weit überwiegende Zahl der identifizierten Täter aus dem rechtsradikalen Lager kommt. Zudem ist erwiesen, dass es enge Verbindungen zwischen Bundeswehr, Polizei, Verfassungsschutz und Rechtsradikalismus gibt. Dagegen ist es offizielle Politik, jeden, der die Besatzungspolitik Israels zu kritisieren wagt, des Antisemitismus zu beschuldigen und nach Zensur zu rufen. Das dient vor allem einer rechten Agenda und nicht der Bekämpfung des Antisemitismus.

Dieselben Politiker und Medien, die nicht müde werden Antisemitismus zu schreien, wenn es um Kunst oder linke Kritik geht, arbeiten in der Ukraine mit ausgesprochen rechten, profaschistischen Kräften zusammen, wie dem ukrainischen Ex-Botschafter Andrij Melnyk, der den Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera und die antisemitische Mordorganisation OUN als Helden preist, ja sogar den Holocaust verharmlost. Der AfD wurde im Bundestag der rote Teppich ausgerollt, ihr Programm wurde von den Regierungsparteien in der Migrationspolitik in die Tat umgesetzt.

Es ist auch bekannt, dass Israels Regierung gute Beziehungen zu rechtsextremen Kräften pflegt und diese zu den Hauptpropagandisten der Antisemitismus-Vorwürfe gehören. Bei der jüngsten israelischen Parlamentswahl wurde der faschistische Verbund der Religiösen Zionisten drittstärkste Partei. Sein Wortführer Itamar Ben-Gvir, ein vehementer Rassist, ist als Polizeiminister unter Benjamin Netanjahu im Gespräch.

Susan Neiman weist darauf hin, dass der von CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP 2020 verabschiedete Bundestagsbeschluss gegen die BDS-Kampagne wesentlich auf die Initiative der AfD zurückgeht, in deren Reihen sich jede Menge Rechtsradikale, Antisemiten und Rassisten tummeln. Jetzt wurden Forderungen laut, seinen Inhalten Gesetzeskraft zu verleihen, um jede Kritik an der Politik Israels zu kriminalisieren. Im nächsten Schritt würde dies dann wohl auch für Kritik an der Kriegspolitik der deutschen Regierung gelten.

So zeigt die Kampagne gegen die documenta 15, wie sich in der deutschen Politik und den Medien unter der falschen Flagge des Kampfs gegen Antisemitismus massive Angriffe auf die Meinungs- und Kunstfreiheit durchsetzen. Wachsender Militarismus und Kriegstreiberei zusammen mit extremer sozialer Ungleichheit können offene Kritik, demokratische Rechte und eine freie Kunst nicht mehr dulden.

Anmerkungen

1) Kunstforum, Band 283, Sonderband zu documenta 15

2) Kunstforum, Band 284, S. 196ff

3) https://documenta-fifteen.de/lumbung-member-kuenstlerinnen/archives-des-luttes-des-femmes-en-algerie/‘ https://documenta-fifteen.de/lumbung-member-kuenstlerinnen/archives-des-luttes-des-femmes-en-algerie/

#Bild: Taring Padi, „The Flame of Solidarity: First they came for them, then they came for us“, Installationsansicht, Hallenbad Ost [Photo by documenta 15 / Frank Sperling]

Quelle: wsws.org… vom 10. November 2022

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