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Seymour Hersh: Lagebeurteilung der Geheimdienste und die US-Regierung

Eingereicht on 30. Juni 2023 – 9:25

Florian Rötzer. Nach einem Geheimdienstinformanten soll Putin gestärkt auf dem Vorfall mit Prigoschin hervorgegangen sein. Der werde im Westen hochgespielt, um das Desaster der ukrainischen Offensive zu kaschieren.

Es war zu erwarten, dass auch von Seymour Hersh eine Einschätzung zu Prigoschin und dem von ihm am Freitag angezettelten Aufstand seiner Wagner-Truppen kommen wird. Hersh sagt, dass dem Westen die „Revolte“ gerade recht gekommen sei, um von der ukrainischen Offensive abzulenken, die trotz kleiner propagandistischer Erfolge nicht recht vorankommt.

Hervorgehoben wird im Westen von Politikern, Medien und Experten, dass Putins Macht durch den Aufmarsch der Privatarmee, die vom Staat im Ukraine-Krieg finanziert wurde, geschwächt sei. Das habe, so etwa US-Außenminister Blinken, Risse im System gezeigt. Man hofft, so scheint es, mit diesen Interpretation der Ereignisse, die massive Unterstützung der Ukraine, die Waffenlieferungen und den Willen zum Weiterkämpfen rechtfertigen zu können, weil nun Aussicht besteht, dass auch dann, wenn die Ukraine nicht militärisch siegt, was Präsident Selenskij immer wieder den westlichen Unterstützern versichert, die Hoffnung besteht, dass die russische Regierung zerfällt. Auch wenn dieser „Erfolg“ dann möglicherweise damit bezahlt würde, dass ein extremer Nationalist oder ein Krimineller wie Prigoschin an die Macht kommen könnte, was den Krieg nicht beenden würde.

Nach Hersh war Prigoschins Revolte keine Bedrohung für Putin, sie brach nach einem Tag in sich zusammen. Hersh zitiert wieder einmal einen ihm bekannten Informanten aus den amerikanischen Geheimdienstkreisen, der eine andere Sicht berichtet als die, die von der Regierung und den Medien verbreitet wird. Putin sei nach dem Showdown gestärkt, dass ein Konflikt zwischen Prigoschin und den Generälen ausbrechen werde, habe man seit Januar erwartet. Nach dem Informanten wurden die Wagner-Milizen für die Offensive, vor allem in Bachmut gebraucht. Dann habe man die Strategie von Angriff auf Verteidigung der bislang eingenommenen Territorien verändert. Prigoschin habe dies nicht akzeptieren wollen, weswegen die regulären Truppen ihm die Ressourcen entzogen habe. Das entspricht der Einschätzung von Jacques Baud:

„Wir haben nie erfahren“, so die Geheimdienstquelle, „dass Wagner vor drei Monaten von der Bachmut-Front abgezogen und zur Demobilisierung in eine verlassene Kaserne nördlich von Rostow am Don [im Süden Russlands] gebracht wurde. Die schwere Ausrüstung wurde größtenteils umverteilt, und die Truppe wurde auf etwa 8000 Mann reduziert, von denen 2000 in Begleitung der örtlichen Polizei nach Rostow gingen. Putin hat sich voll und ganz hinter die Armee gestellt, die es zugelassen hat, dass Prigo sich lächerlich gemacht hat und nun in der Versenkung verschwindet. Und das alles, ohne militärisch ins Schwitzen zu geraten oder Putin in eine politische Pattsituation mit den Fundamentalisten zu bringen, die glühende Verehrer Prigos waren. Ziemlich gewieft.“

Es gebe eine Kluft zwischen dem, wie die Geheimdienste die Situation bewerten, und dem, was Regierungsvertreter von sich geben. Nach den ihm vermittelten Zahlen stehe die amerikanische Außenpolitik auf schwachen Füßen, weil die Offensive nicht vorankomme: „Mir wurde gesagt, dass sich die ukrainischen Streitkräfte in den letzten zehn Tagen keinen nennenswerten Weg durch die russischen Verteidigungslinien gebahnt haben. Sie haben nur zwei weitere Quadratmeilen des von den Russen besetzten Gebiets zurückerobert. Bei diesem Tempo, so sagte ein informierter Offizieller scherzhaft, würde Zelenskys Militär 117 Jahre brauchen, um das Land von der russischen Besatzung zu befreien.“

Hersh meint, er sehe nicht, dass die Vertreter der Biden-Regierung die Situation verstünden. Putin habe die fast vollständige Kontrolle über vier Oblasten hergestellt. Er könne jetzt warten, ob die USA und die Ukraine den militärischen Stand der Dinge akzeptieren und Waffenstillstandsverhandlungen beginnen, wenn kein Wunder geschehe. Ob Hersh damit richtig liegt, dass die ukrainischen Truppen nicht die Verteidigungslinien durchbrechen können, ist Ansichtssache. Klar ist, dass die ukrainischen Truppen beim Umschalten von Verteidigung auf Angriff mit größeren Verlusten rechnen müssen und womöglich weder die Soldaten noch die  Waffenkapazitäten haben, größere Erfolge zu erzielen und zu halten.

Präsident Biden habe zudem schlechte Umfragewerte. Das drohende Desaster in der Ukraine sollte den demokratischen Abgeordneten ein Weckruf sein, die Biden unterstützen, aber Bedenken haben, weiter Milliarden in die Ukraine in der Hoffnung auf ein Wunder zu investieren: „Die Unterstützung der Demokraten für den Krieg ist ein weiteres Beispiel dafür, dass sich die Partei zunehmend von der Arbeiterklasse abwendet. Es sind ihre Kinder, die in den Kriegen der jüngsten Vergangenheit gekämpft haben und möglicherweise in jedem zukünftigen Krieg kämpfen werden. Diese Wähler haben sich in zunehmender Zahl abgewandt, da sich die Demokraten weiter den intellektuellen und wohlhabenden Klassen annähern.“ Für Biden sei es angesichts des kommenden Wahlkampfs weise, ehrlich über den Krieg und seine Folgen für die USA zu sprechen und zu erklären, warum die geschätzten 150 Milliarden USD, die seine Regierung bislang aufgebracht hat, sich als sehr schlechte Investition erwiesen haben.“

Ob das so ist, muss sich erst erweisen. Hersh steht unter Druck, jede Woche etwas zu liefern. Das war dieses Mal wenig an Gehalt. Dass Putin innenpolitisch nicht geschwächt aus dem Konflikt hervorgegangen ist, dürfte richtig sein. Und mit der Offensive geht es tatsächlich schleppend voran. Wenn das so bleibt, dürften sich die Risse eher in der Ukraine, in den USA und in der Nato bilden.

#Titelbild: Prigoschin am Samstag in Rostow. Wo er sich jetzt aufhält, ist noch nicht bekannt.

Quelle: overton-magazin.de… vom 30. Juni 2023

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