Putin und seine Rede von München 2007 – ein Wendepunkt?
Für den Krieg in der Ukraine zeichnet sich keine Lösung ab, das Sterben schreitet voran. Obwohl dieser Krieg täglich in den Traditionsmedien präsent ist, bleibt vieles unterbelichtet, denn seine Vorgeschichte wird lediglich unvollständig dargestellt oder sogar ignoriert. Eine zu einfache Schuldzuweisung hat sich etabliert und verringert die Chancen auf eine Verhandlungslösung. Jacques Baud hat für den Schweizer Strategischen Nachrichtendienst, die NATO und die Vereinten Nationen gearbeitet. Mit seinem gerade veröffentlichten Buch Putin – Herr des Geschehens? liefert er auf der Grundlage von Dokumenten einen sachlichen Blick auf die Realität und öffnet die Tür für eine unvoreingenommene Einschätzung des Kriegs in der Ukraine. Für Baud ist es Zeit, zurück zu den Fakten und vor allem zum Dialog zu kommen.
In einem Filmbericht zu Wladimir Putins Anfängen an der Spitze Russlands erinnert Caroline Roux an ein zunächst »eher herzliches« Einverständnis mit dem Westen. Mit seiner Münchner Rede vom 10.2.2007 habe Putin »schlagartig den Ton geändert«. Der Moskau-Korrespondent von Le Monde Benoît Vitkine bezeichnet die Rede als »feindlich gegenüber der unipolaren Welt und somit den Vereinigten Staaten«1. Man präsentiert uns einen unbeständigen und geradezu schizophrenen Wladimir Putin, obwohl man ihn im Westen häufiger als »Schachspieler« beschreibt, der selten emotionsgetrieben reagiert.
Um Putin als impulsiven Menschen und seine Aussagen als irrational darzustellen, übergeht Caroline Roux zwei bedeutende Ereignisse, die Putin in seiner Rede anspricht:
- die NATO-Osterweiterung;
- das schrittweise Verlassen des rechtlichen Rahmens der internationalen Sicherheitsstruktur durch die Vereinigten Staaten.
Diese zwei Elemente, die weitgehend von westlichen Kommentatoren übergangen werden, tauchen immer wieder im russischen Diskurs auf. Wladimir Putin wird sie fünfzehn Jahre später anlässlich der Ukraine-Krise auf den Verhandlungstisch mit den Amerikanern erneut vorbringen.
Der Filmbericht verschweigt, dass George W. Bush im Jahre 2001 entschieden hat, sich einseitig vom ABM-Vertrag zurückzuziehen und Raketenabwehrsysteme (ABM: anti-ballistic missile) in Osteuropa zu stationieren. Der ABM-Vertrag hatte zum Ziel, den Gebrauch defensiver Raketen zu beschränken.2 Die Logik des Vertrags bestand darin, die gegenseitige Abschreckung durch das Risiko wechselseitiger Zerstörung positiv zu nutzen. Es war erlaubt, die Entscheidungsorgane durch ein Raketenschild zu schützen (um die Möglichkeit von Verhandlungen offenzulassen). Daher beschränkte der Vertrag die Stationierung einer Raketenabwehr auf bestimmte Zonen (insbesondere rund um die Hauptstädte) und verbot sie außerhalb des Staatsgebiets.
Im Jahr 2007 befinden sich die Amerikaner bereits in Verhandlungen mit den Tschechen und Polen über die Stationierung einer solchen Raketenabwehr – offiziell, um sich vor der iranischen Bedrohung zu schützen. Dadurch zerstören sie das strategische Gleichgewicht, was durch den ABM-Vertrag gesichert wird, und schaffen eine neue konfliktträchtige Lage in Europa.
Wladimir Putin sieht darin nicht nur ein Sicherheitsrisiko für Russland. Er stellt außerdem fest, dass die Amerikaner sich mehr und mehr vom internationalen Recht loslösen, um eine unilaterale Politik verfolgen zu können. Dies erklärt Putins Ton in München.
Im Übrigen lässt sich beobachten, dass dieser Prozess seitdem an Fahrt gewonnen hat. So haben sich die Vereinigten Staaten schrittweise von allen Vereinbarungen zur Rüstungskontrolle, die noch aus dem Kalten Krieg stammen, zurückgezogen: dem ABM-Vertrag (2002), dem Vertrag über den Offenen Himmel (2018), dem Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag (INF) (2019). Diese Tendenz hat sich unter Trump und Biden fortgesetzt:3 Rückzug von der Wiener Nuklearvereinbarung (JCPOA) mit dem Iran (Mai 2018), vom Vertrag zu Freundschaft, Handel und konsularischen Rechten zwischen den USA und dem Iran von 1955 (Oktober 2018), vom Zusatzprotokoll über die obligatorische Streitschlichtung des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen von 1961 (Oktober 2018), vom Weltpostverein (Oktober 2018), von der UNESCO (Januar 2019), von der Weltgesundheitsorganisation (Juli 2020) und von anderen. Die Europäer beweinen den von Donald Trump vollzogenen Rückzug der Amerikaner vom Übereinkommen von Paris (November 2020). Und sie bemerken dabei nicht, dass das gesamte internationale Rechtssystem infrage gestellt wird.
Im Jahr 2019 hat Donald Trump seinen Rückzug vom INF-Vertrag mit einer angeblichen Vertragsverletzung von russischer Seite gerechtfertigt. Aber die Amerikaner haben nie den Beweis einer solchen Verletzung erbracht, wie das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) feststellt.4 In Wirklichkeit suchten sie nur einen Vorwand, um den Vertrag aufzukündigen und ihr AEGIS-Raketensystem in Polen und Rumänien aufstellen zu können. Laut der amerikanischen Administration sind diese Systeme offiziell dazu gedacht, iranische ballistische Raketen abzufangen. Es gibt allerdings zwei Umstände, die stark an der Aufrichtigkeit der Amerikaner zweifeln lassen:
- Erstens gibt es keinerlei Hinweis, dass die Iraner solche Raketen entwickeln würden,5 wie Michael Ellemann von der Firma Lockheed-Martin vor einem Ausschuss des amerikanischen Senats erklärt.6
- Zweitens nutzen diese Systeme Mk41-Raketenwerfer, die es erlauben, entweder antiballistische Abwehrraketen oder aber Atomraketen abzufeuern. Der Standort der Raketenabwehr im Ort Radzikowo bei Kołobrzeg (Kolberg, Polen) ist 800 Kilometer von der russischen Grenze und 1300 Kilometer von Moskau entfernt.
Im Februar 2022, nach dem Treffen zwischen Wladimir Putin und Emmanuel Macron, wundert sich der Polit-Journalist Patrick Cohen auf France 5, dass der russische Präsident den Atomkrieg erwähnt. Cohen behauptet, die in Europa stationierten Systeme seien rein defensiv.7
Diese Position wird in der Tat von den Bush- und Trump-Administrationen vertreten. Aber selbst wenn dies theoretisch wahr ist, so ist es doch technisch und strategisch falsch. Denn der Zweifel über den defensiven Charakter, der ihre Installation möglich gemacht hat, ist derselbe Zweifel, der sich legitimerweise im Konfliktfall bei den Russen einstellen kann. Das Vorhandensein dieser Raketen(-abwehr) in unmittelbarer Nähe des atomar geschützten »unantastbaren« russischen Staatsgebiets kann tatsächlich zu einem atomaren Konflikt führen. Denn im Konfliktfall kann die andere Seite nicht feststellen, welche Art von Raketen das System geladen hat: Sollen die Russen erst die Explosion abwarten, bevor sie reagieren können?
Was zudem keine unserer Medien berichtete, war, dass Präsident Joe Biden Ende April 2022 eine große Änderung in der US-Atomwaffenpolitik beschloss, indem er das Prinzip des »no-first use« von Atomwaffen aufgab. Bis dahin hatten sich die USA dazu verpflichtet, Atomwaffen nicht als Erste einzusetzen, und betrachteten den Einsatz von Atomwaffen ausschließlich zur Abschreckung (Politik des »sole purpose«). Seit April 2022 hat Biden jedoch eine Politik gebilligt, »die die Option offenlässt, Atomwaffen nicht nur als Vergeltung für einen nuklearen Angriff, sondern auch als Reaktion auf nicht-nukleare Bedrohungen einzusetzen«.8 Mit anderen Worten: Die USA erlauben sich, jederzeit Atomwaffen einzusetzen.
Das Problem Russlands könnte schnell zu einem Problem für ganz Europa werden: Da es keine Vorwarnzeit gibt, hätten die Russen praktisch keine Zeit, die Art einer abgefeuerten Rakete zu bestimmen, und wären daher gezwungen, präemptiv mit einem Nuklearschlag zu antworten.9 Aus diesem Grund spricht Wladimir Putin davon, dass die europäischen Länder in einen atomaren Konflikt hineingeraten könnten, ohne es zu wollen. Genau das erklärt er in seiner Pressekonferenz am 8. Februar 2022 anlässlich des Besuchs von Emmanuel Macron in Moskau.
1 Caroline Roux in der Sendung »C dans l’air« vom 17.10.2021 (»Poutine, maître du jeu #cdanslair 17.10.2021«, France 5/YouTube, 18.10.2021) (1h33’30’’)
2 https://www.armscontrol.org/factsheets/abmtreaty
3 Jack Detsch & Robbie Gramer, »Biden Halts Russian Arms Control Talks Amid Ukraine Invasion«, Foreign Policy, 25.2.2023 ( https://foreignpolicy.com/2022/02/25/biden-russia-arms-control-talks-ukraine-invasion/)
4 Dr Tytti Erästö & Dr Petr Topychkanov, »Russian and US policies on the INF Treaty endanger arms control«, SIPRI, 15.6.2018
5 Dr Tytti Erästö, »Europe’s Overlooked Missile Defence Dilemma«, European Leadership Network, 20.7.2017
6 Statement of Mr. Michael Elleman – Iran’s Ballistic Missile Program – Before the U. S. Senate Committee on Banking, Housing, and Urban Affairs, international Institute for Strategic Studies, 24.5.2016
7 Patrick Cohen in der Sendung »C à vous« vom 8.2.2022 (»Ukraine: la désescalade est-elle possible? – C à vous – 08/02/2022«, France 5/YouTube, 8.2.2022)
8 https://www.armscontrol.org/act/2022-04/news/biden-policy-allows-firstuse-nuclear-weapons
9 Der Unterschied besteht darin, dass ein Präventivschlag durchgeführt wird, um die potenzielle Bedrohung durch die anvisierte Partei zu zerstören, wenn ein Angriff dieser Partei nicht unmittelbar bevorsteht oder bekannt ist, dass er geplant ist. Ein Präventivschlag wird in Erwartung einer unmittelbaren Aggression durch eine andere Partei kurz vor dem Einsatz von Kernwaffen durchgeführt.
10 http://en.kremlin.ru/events/president/transcripts/press_conferences/67735
Quelle: overton-magazin.de… vom 12. Juli 2023
Tags: Deutschland, Europa, Kalter Krieg, Polen, Russland, Ukraine, USA
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