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Ein Rückblick auf die »wilden« Streiks 1973 in Deutschland

Eingereicht on 24. Juli 2023 – 15:28

Nuria Cafaro*: In der Auseinandersetzung mit den wilden Streiks[2] 1973 werden meist zwei Arbeitsniederle­gungen erinnert und häufig kontrastierend gegenübergestellt: jene in den Kölner Fordwerken, die von der zeitgenössischen Presse rassistisch als Türkenstreik diffamiert wurde, und der Streik bei Pierburg in Neuss, der von der weiblichen – mehrheitlich migrantischen – Beleg­schaft initiiert wurde und vor allem deren spezifische Arbeitsbedingungen zum Gegenstand hatte. Während ersterer die massive innerbetriebliche Spaltung – die sowohl in Entsolidarisie­rung zwischen deutschen und migrantischen Beschäftigten als auch in eskalierender Entfrem­dung der migrantischen Kolleg:innen von den offiziellen Interessensvertretungsorganen be­stand – offenlegte und zunächst vergrößerte, wurde letzterer zu einem der herausragenden Beispiele gelungener Solidarisierung, sexistischen und rassistischen Betriebshierarchien zum Trotz.

Die beiden Streiks stehen dabei stellvertretend für über 300 Arbeitsniederlegungen zwi­schen Februar und September 1973, die außerhalb der offiziellen Tarifauseinandersetzungen stattfanden und an denen sich über 275.000 Beschäftigte beteiligten. Viele der spontanen Ar­beitsniederlegungen erlangten – über sowieso schon Interessierte hinweg – jedoch kaum Öf­fentlichkeit. Dass sie unbeachtet verliefen, lag nicht nur im Interesse der Betriebsleitungen, die mangelhafte Arbeitsbedingungen verschleiern wollten, sondern häufig auch in dem der Streikenden selbst. Allein im August 1973 wurde unter der Beteiligung von ca. 80.000 Be­schäftigten in über hundert Betrieben wild gestreikt. Damit befanden sich mehr Betriebe im Ausstand als vier Jahre zuvor im Zuge der Septemberstreiks, die 69 Betriebe erfassten und ge­werkschaftlich autonome Arbeitskämpfe erstmals in der BRD als Massenphänomen sichtbar machten (Birke 2005, S. 8; 2007, S. 216 f., S. 287; express-Redaktion 1974, S. 124).

Gestreikt wurde 1973 nicht nur in den bekannten Konzernen und größeren Betrieben der Automobilindustrie, auch Beschäftigte einer Vielzahl von kleinen und mittleren Betrieben partizipierten an den Protesten. Obwohl die erhöhte Aufmerksamkeit für Arbeitskämpfe in diesem Jahr dazu geführt haben könnte, dass im Verhältnis zu anderen Jahren auch kleine Ausstände eher registriert wurden, kann davon ausgegangen werden, dass auch 1973 längst nicht alle derartigen Arbeitsniederlegungen erfasst wurden und die tatsächliche Anzahl der Streiks noch über den ingesamt 335[3] vom express verzeichneten liegt (express-Redaktion 1974; Birke 2007, S. 287; Tügel 2016, S. 77).

Die Streikwelle

Die Streikwelle begann im Februar 1973, kurz nachdem die IG Metall Tarifverträge für die Metall- und Stahlindustrie geschlossen hatte. Diese waren in den Urabstimmungen zwar ange­nommen worden, wurden aber von den Kolleg:innen deutlich missbilligt, wie sich anhand ei­niger kurzer Proteststreiks ablesen lässt, die unmittelbar auf die Bekanntgabe des Tarifergeb­nisses reagierten (Birke 2007, S. 288). Zu den ersten Ausständen zählen jene der Arbeiter:in­nen einer Schlossfabrik in Velbert und bei der Hoesch AG in Dortmund. Schon zu einem recht frühen Zeitpunkt der Streikwelle – im März 1973 – wurde bei Mannesmann in Duisburg die Abschaffung der unteren Lohngruppen gefordert (Birke 2005, S. 7 f.). Diese Forderung ist kennzeichnend für die Auseinandersetzungen 1973, weil sie die teils immense innerbetrieb­liche Ungleichheit angreift und, wie die Pierburg-Frauen rund ein halbes Jahr später ein­drucksvoll zeigten, gerade die Macht derjenigen demonstrierte, die diese Ungleichheit am stärksten traf.

Über die Frühlings- und Sommermonate nahmen die spontanen Arbeitsniederlegungen zu, ereigneten sich dabei schwerpunktmäßig in Betrieben der Maschinenbau- und Automobilin­dustrie und hatten ihren Zenit im August. Jetzt wurde, parallel zu den bekannten Streiks in Neuss und Köln, ebenfalls bei Opel in Bochum, bei Rheinstahl in Brackwede sowie in zahl­reichen kleinen Betrieben, wie beispielsweise bei den Vereinigten Schlüsselwerken in Solin­gen, wild gestreikt. Hier hatte man in einer nur sechsstündigen Arbeitsniederlegung einen um eine D-Mark erhöhten Stundenlohn sowie eine Verringerung der geforderten Schichtleistung durchsetzen können (Arbeiterdiskussion 1973). Aber längst nicht alle Arbeitskämpfe verliefen so erfolgreich: War es den Streikenden 1969 in fast allen Fällen sehr kurzfristig gelungen, Lohnerhöhungen durchzusetzen (Schneider 2000, S. 350; Birke 2007, S. 235-238), fiel die Er­folgsstatistik 1973 deutlich schlechter aus. Insgesamt reagierten die Unternehmensleitungen klassenbewusst und entschlossen auf die Konflikte. Sie griffen zu Aussperrungen, aktivierten Werksschutz und Polizei und waren durch die »Richtlinien für das Verhalten bei wilden Streiks« des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall gut vorbereitet (Rossmann 2023, S. 35).

Die Streikenden nahmen in ihren jeweiligen Kämpfen häufig Bezug auf die Proteste in an­deren Werken und betonten das gemeinsame Interesse. Zwar mögen unzureichende Tarifab­schlüsse und die Forderung nach einer besseren Lohnpolitik ein Auslöser der Proteste gewe­sen sein, bedeutende Ursachen der Streikwelle finden sich aber in längerfristigen Missstän­den. Auch hier dienen Pierburg und Ford als plakatives Beispiel: In beiden Betrieben war eine Unterschichtung der deutschen Belegschaft durch die Arbeitsmigrant:innen erfolgt, die Löhne waren – besonders bei Pierburg – im Hinblick auf rassistische und sexistische Hierarchisie­rung mustergültig. Die Arbeitsbedingungen waren hart – Ford Köln, wo der Karosseriebau noch lange zur Arbeit über Kopf zwang, war berühmt für die Muskulaturschäden seiner Ar­beiter:innen – und die Unterbringung in den betriebseigenen Wohnheimen unwürdig. So äh­nelten sich die Forderungen, die 1973 in den verschiedenen Betrieben gestellt wurden, und zielten meist auf effektive Lohnerhöhungen, die bessere Eingruppierung unterer Lohngrup­pen, die Verringerung von Leistungsvorgaben und vereinzelt auf längeren Urlaubsanspruch ab und hatten also nicht nur Lohnverbesserungen, sondern auch Aspekte der Humanisierung von Arbeit im Blick.

Während die Proteste 1969 eine recht breite öffentliche Unterstützung erfuhren, führten die spontanen Streiks 1973 zu bedeutend mehr Polarisierung (Tügel 2016, S. 76 f). Wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie auch als Form migrantischen Widerstands sichtbar wurden, der nicht so recht zu der den »Gastarbeitern« zugedachten Rolle passen wollte und bis heute im öffent­lichen Geschichtsbewusstsein unterrepräsentiert bleibt.

Migrantische Selbstorganisierung

An ihnen lässt sich deutlich ablesen, was charakteristisch für die Streikwelle war: Sie tou­chierte die innerbetrieblich implementierte und von der Arbeiter:innenbewegung bis heute ambivalent behandelte Abgrenzung zwischen besser gestellten Stammbelegschaften und pre­kär beschäftigten Arbeitskräften, von denen 1973 (bis heute) besonders viele migrantisch und weiblich waren. Dabei markieren die Streiks nicht etwa den Beginn migrantischen Protests – sie waren Teil einer langen widerständigen Praxis, die Arbeits- und Mietkämpfe sowie alltäg­lichen Widerstand umfasste –, wohl aber den Punkt, an dem dieser Protest einem breiten bun­desrepublikanischen Bewusstsein nicht länger verborgen bleiben konnte.

Für die heutige Auseinandersetzung sind deshalb nicht nur die Ereignisse selbst, sondern auch die bisherige Rezeption der Streiks interessant. Lange wurden sie vor allem von inter­ventionistischen Gruppen und innerhalb migrantischer Selbstorganisierung erinnert und als Teil der eigenen Traditionsgeschichte markiert. Aktivist:innen linker Gruppen haben den Streik zurecht auch als wichtige Demonstration (ehemaliger und potentieller) Mobilisierungs­fähigkeit wachgehalten und gerade die sog. »zweite Generation« der im Rahmen der bundes­republikanischen Anwerbeabkommen Migrierten griff im Zuge der eigenen Selbstermächti­gungsprozesse auf die historischen Beispiele zurück.

Das antirassistische Netzwerk Kanak Attak, das sich gegen ethnisierende Identitätszu­schreibungen organisierte, entdeckte die Streiks von 1973 als Teil der Kämpfe von Migran­t:innen in der BRD wieder und machte die Thematisierung dieser widerständigen Geschichte zu einem Teil ihrer eigenen Praxis. Betont wurde dabei insbesondere die Rolle rassistischer Spaltungen innerhalb der Arbeiter:innenbewegung. Vor allem der Pierburg-Streik wur­de zudem Gegenstand filmischer und literarischer Verarbeitung,[4] eine wissenschaftliche Auf­arbeitung der Streiks innerhalb der Geschichte der Arbeit nimmt zu und auch gewerkschaftli­che Akteur:innen setzen sich zunehmend öffentlich mit den Streiks auseinander.

Die wilden Streiks von 1973 erfahren heute ein breiteres und verstärktes Interesse, insbe­sondere diejenigen von Frauen und Migrant:innen. Grund hierfür ist nicht allein deren 50. Ju­biläum: Die Verschränkung von antirassistischen, feministischen und betrieblichen Kämpfen gerät in den Debatten um »Intersektionalität«, »verbindende Klassenpolitik« und »Diversität der Ausbeutung« in den Blick,[5] Streikbewegungen – betriebliche und feministische – nehmen zu und sorgen dafür, dass Arbeitskämpfe wieder stärker in öffentlichen Debatten auftauchen.

Wenn wir uns heute mit hoffnungsgebenden historischen Ereignissen wie den 1973er Streiks befassen, dann deshalb, weil sie uns inspirieren und wir glauben, für heutige Kämpfe von ihnen lernen zu können. Aber was haben die gewerkschaftlichen und soziale Bewegungen bereits aus den Kämpfen gelernt und was bleibt noch aus?

Zwischen nationalstaatlicher Regulation und internationalistischer Solidarität

Die betriebliche Gewerkschaftsarbeit war eng mit dem Erfolg oder Misserfolg der Arbeits­kämpfe verbunden. An den so unterschiedlichen Verläufen der Streiks und den Beispielen Pierburg und Ford lässt sich auch die Ambivalenz gewerkschaftlicher Migrationspolitik gut erkennen: Die Politik des DGB bewegte sich zwischen den Polen einer migrationskritischen Haltung, die einheimische Beschäftigte vor Lohndrückerei und potentieller Konkurrenz durch migrantische Arbeiter:innen bewahren sollte, und dem Grundsatz eines solidarischen Interna­tionalismus. Maßgeblich war im Hinblick auf die generelle Lenkung von Migrationsbewegun­gen das Motiv der Regulation: Der DGB sprach sich gegen die Anwerbeabkommen und im Einklang mit den Arbeitgeberverbänden Ende 1973 für den Anwerbestopp aus (Bojadžijev 2012, S. 138, Trede 2015, S. 43-53).

Dennoch waren die Gewerkschaften wichtige Anlaufstellen für Arbeitsmigrant:innen und mitunter die ersten Institutionen, die Hilfestellungen und auch früh Zeitungen für migranti­sche Beschäftigte boten. Die Organisierungsgrade von Migrant:innen waren gerade in der Metallindustrie hoch, aber eben auch: weitestgehend passiv. Bei Ford Köln scheint es gängige Praxis gewesen zu sein, gleich bei Einstellung einen Mitgliedsantrag für die IG Metall zu er­halten, ohne über Bedeutung und Möglichkeiten der Mitgliedschaft zu sprechen. Hinzu kam ein Betriebsverfassungsgesetz, das es Arbeiter:innen aus EWG-Ländern erst ab 1964 erlaubte, Mitglied im Betriebsrat zu werden, Beschäftigte mit anderen Staatsbürgerschaften erhielten diese Teilhabemöglichkeit sogar erst mit der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 (Trede 2015, S. 196). Mitbestimmungspielräume wurden in den Betrieben unterschiedlich be­griffen und ausgenutzt. Bei Ford waren fast alle Betriebsräte Deutsche. Der migrantische Be­triebsrat Mehmet Özbagi, der bei der Betriebsratswahl 1972 auf Anhieb 31 Prozent der Stim­men auf sich vereinen konnte, wurde trotz des eindeutigen Wahlergebnisses nicht freigestellt. Gerade der damalige BR-Vorsitzende Ernst Lück begegnete ihm – und damit im Grunde sei­nen migrantischen Kolleg:innen insgesamt – überheblich, paternalistisch und sprach Özbagi die für die Betriebsratsarbeit nötige Qualifikation (und Zurechnungsfähigkeit) ab. Bei Pier­burg hingegen hatten die Wahlen im Vorjahr einen bedeutenden Fortschritt gebracht: Etwa die Hälfte der Betriebsratsmitglieder waren Migrant:innen und die zuvor arbeitgebernahe BR-Mehrheit war abgewählt worden (Öztürk 2022, S. 31). Die innerbetriebliche Solidarisierung mit den streikenden Frauen, der sich auch die deutschen Facharbeiter entschieden anschlos­sen, und die transparente Informationspolitik des Betriebsrats machte – neben dem grundle­genden Mut und Bewusstsein über die eigene Machtposition der migrantischen Arbeiterin­nen – den Erfolg möglich. Zudem stärkte die Sympathie, die der Ortsvorstand der IG Metall offen für die Forderungen zeigte, den Kampf der Belegschaft.

Auch die Eskalation und Entsolidarisierung, die den Streik bei Ford prägte, war Katalysa­tor für viele Prozesse: Sie stieß die Diskussion um die »Humanisierung« der Arbeit an und stellte die IG Metall vor Aufgaben, die sie nun unweigerlich als dringend erkennen musste. So wurde in Baden-Württemberg im Oktober 1973 die sogenannte Steinkühlerpause durchge­setzt, von den Streiks gingen wichtige Impulse und Druck für Arbeitszeitverkürzung und sechswöchigen Urlaubsanspruch aus und die IG Metall erkannte die spezifischen Interessen von Migrant:innen und deren Einbindung in die Gewerkschaftsarbeit als bedeutenden Aufga­benbereich an. Seit 1983 können Migrant:innen in der IG Metall Ausschüsse gründen, als Gruppe Anträge an Gremien stellen und eigenständig Konferenzen organisieren (Rossmann 2023, S. 39; Öztürk 2022, S. 33, S. 98).

Neben diesen Veränderungen machen vor allem die Schilderungen streikbeteiligter Mi­grant:innen, die aus den Arbeitskämpfen die Erfahrung von Selbstermächtigung und Wider­standsfähigkeit schöpften, deutlich, warum auch die Erzählung des Fordstreiks keine Ge­schichte einer Niederlage ist. Migrant:innen sind heute in der IG Metall weitaus besser einge­bunden – organisiert und repräsentiert – und die Migrationspolitik der Gewerkschaften ist auf Gleichstellung und Teilhabe ausgerichtet. Dabei fällt allerdings auch ins Gewicht, dass Mi­grant:innen und Personen mit familiärer Migrationsgeschichte heute häufig Teil der Fachar­beiter:innen und Stammbelegschaften in IG Metall-Betrieben (geworden) sind – auch hierfür ist Ford ein eindrückliches Beispiel. Sie werden vor allem – unter der realen Bedingung der Konzentration gewerkschaftlicher Kräfte auf Stammbelegschaften – in größeren Betrieben und bei guten Tarifverträgen organisiert. Diese Feststellung soll die bedeutende antirassisti­sche Arbeit, die der DGB in den letzten Jahrzehnten beispielsweise in Kampagnen wie »Mach meinen Kumpel nicht an!« geleistet hat, nicht schmälern. In anderen Bereichen aber, in denen Migrant:innen heute (zeitweise) angestellt und »ausgeliehen« werden, sind sowohl Organisie­rungs- als auch Repräsentationsgrad noch immer schlecht.

»Unterschichtung« – Die Gegenwart der Streiks von 1973

Spätestens mit Beginn der Corona-Pandemie wurde offen einsehbar, was in bestimmten Bran­chen Usus ist: Migrant:innen arbeiten noch immer unter strukturell schlechteren Bedingun­gen, sind unsicherer beschäftigt, leisten körperlich schädlichere Arbeit, erhalten geringere Löhne und haben weniger Mitbestimmungsressourcen. Obwohl vor allem die Forderung nach der Einwanderung (hoch)qualifizierter Personen präsent ist, arbeiten Migrant:innen in der BRD noch immer überdurchschnittlich häufig im Niedriglohnsektor. Eine Unterschichtung findet auch heute – unter anderen Bedingungen und in teils anderen Bereichen – statt. Bei­spielhaft sind die rumänischen und bulgarischen Arbeiter:innen, die während der Pandemie Spargel stachen und Fleischproduktion ermöglichten – unter Arbeitsbedingungen, die selbst in bürgerlichen Kreisen auf Empörung stießen.

Das Problem hat sich also in gewisser Weise verlagert, mit der zusätzlichen Schwierigkeit, dass Migrant:innen heute häufig in Branchen und Betrieben arbeiten, in denen der gewerk­schaftliche Organisationsgrad niedrig ist und die zuständigen Gewerkschaften finanziell und ressourcentechnisch weniger stark sind als die IG Metall. Ein Fehler wäre es, auf den nach­drücklichen Versuch, (migrantische) prekär Beschäftigte zu organisieren, zu verzichten und dabei erneut einen Teil der Arbeiter:innenschaft aus dem (Selbst-)Vertretungsanspruch auszu­klammern. Dass in solchen Bereichen Mobilisierungskraft liegen kann, zeigen Bewegungen wie »Liefern am Limit« sowie die wilden Streiks der letzten Jahre (z.B. Spargelstecher:innen in Bornheim, Rider in Berlin), deren Protest bisher sichtbarer von der FAU aufgegriffen wur­de und ohne institutionalisierte Organisation im Rücken in ihrer Schlagkraft begrenzt bleiben wird.

Um dem Anspruch, Migrant:innen nicht erneut »als Akteure außen vor zu halten«, sondern »sie – und die Frage der Klassenzusammensetzung – zum Ausgangspunkt gewerkschaftlicher Politik zu machen« (Bojadžijev 2012: S. 138), gerecht zu werden, könnte es hilfreich sein, in­nerhalb des DGB Ressourcen entlang politischer Schwerpunktsetzungen so zu verteilen, dass Gewerkschaften wie der NGG ausreichend Mittel zur Organisierung von Arbeitsmigrant:in­nen zur Verfügung stehen. Damit wäre weder die gewerkschaftliche Arbeit in den bisherigen Schwerpunktbetrieben noch die Organisationsmacht industrieller und öffentlicher Stammbe­legschaften in Frage gestellt, wohl aber der Einsicht Folge geleistet, dass dies allein nicht aus­reicht. Eine Lehre aus den Kämpfen von 1973 besteht außerdem darin, internationale Vernet­zungen und Absprachen Gewerkschafts- und Betriebsaktiver auszubauen; ein gutes Beispiel hierfür ist die Arbeit des Internationalen gewerkschaftlichen Arbeitskreises Köln.

Weil Geschichtsbewusstsein zu entwickeln heißt, Lösungen nicht auswendig zu lernen, sondern in konkreten Kampfbedingungen des Gestern und des Heute Allgemeingültiges in seinen Besonderheiten zu erkennen und für heutige Bedingungen nutzbar zu machen, können und sollten die Streiks von 1973 uns auch für die Organisierung von Saisonkräften, Ridern und Tönnies-Arbeiter:innen eine Hilfe sein. Optimistisch stimmt dabei, dass auch das zuneh­mende Interesse an historischen Streikbewegungen zu einem Klima beiträgt, in dem Arbeits­kämpfe und Streiks zu einer greifbaren Option werden.

Zum Thema siehe auch https://maulwuerfe.ch/?p=10002: Ford-Streik 1973: »Es wäre das falsche Signal, auf den Staat zu hören«

#Titelbild: Von der IG Metall und dem Betriebsrat verraten: Die streikenden Arbeiter bei Ford in Köln Ende August 1973. imago images/Klaus Rose

Artikel von Nuria Cafaro erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Ausgabe 7-8/2023

*  Nuria Cafaro arbeitet beim Kölner Frauengeschichtsverein zur Geschichte der Selbst­organisierung von Migrantinnen, macht Stadtrundgänge zur Migrationsgeschichte von Frauen und promoviert an der Uni Köln zu Arbeitskämpfen in Italien, Frankreich und Westdeutschland um 1968.

Anmerkungen

  • Ford-IG-Metall-Vertrauensleuteversammlung in der Flora-Gaststätte am Sonntag, dem 9. September 1973.

2)      Die Verwendung des Begriffes »wilder Streik« wird zu Recht kritisiert. Mit ihm kann sich der illegali­sierende Sinn fortschreiben, der ihm durch Polizei und Arbeitgeber gegeben wurde. Außerdem birgt er gerade in Bezug auf migrantische Kämpfe die Gefahr, exotisierend zu wirken. Verständlicherweise haben sich Zeitzeug:innen der Streiks 1973 über diese Bezeichnung und seine Bedeutungszuschreibung beschwert. Da andere Begriffe wie »spontane Arbeitsniederlegung« dem Geschehenen auch nicht zwingend gerecht werden (keineswegs waren solche Streiks immer spontan, ohne Vorbereitung), wird der Begriff wilder Streik hier im Sinne eines Quellenbegriffs verwendet.

3)      Witich Rossmann spricht sogar von 440 »wilden« Streiks (Rossmann 2023, S. 34).

4)      Hermann Spix: Elephteria oder die Reise ins Paradies – Roman der Arbeitenden; Berichte der Betroffenen – Literatur der Arbeitswelt, 1975; Gün Tank: Die Optimistinnen. Roman unserer Mütter, Frankfurt am Main 2022; Edith Marcello/David Wittenberg: Ihr Kampf ist unser Kampf

5)      Ein praktisches Beispiel hierfür sind die gemeinsamen Streiktage von Klimaaktivist:innen und ÖPNV-Beschäftigten im Frühjahr diesen Jahres.

Literatur:

  • Arbeiterdiskussion. Zeitung der DKP Solingen, 22.8.1973.
  • Birke, Peter: 60 Pfennig nicht genug. Muss eine Mark. Wilde Streiks und Gewerkschaften in der Bundesrepublik, 1967-1973, Hattingen 2005.
  • Ders.: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Be­wegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt am Main 2007.
  • Bojadžijev, Manuela: Die windige Internationale. Rassismus und die Kämpfe der Migration, Münster 2012.
  • Express: Spontane Streiks 1973 – Krise der Gewerkschaftspolitik, Offenbach 1974.
  • Rossmann, Witich: Verhandlungs- versus Aufstandslogik. Wilder Streik bei Ford 1973,
    in: So­zialismus, H. 7/8 (2023), S. 34-41.
  • Schneider, Michael: Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Ihre Entwicklung in Deutschland von den Anfängen bis heute, Bonn 2000.
  • Trede, Oliver: Zwischen Misstrauen, Regulation und Integration. Gewerkschaften und Arbeitsmigration in der Bundesrepublik und in Großbritannien in den 1960er und 70er Jahren, Paderborn 2015.
  • Tügel, Nelli: Streik, Solidarität, Selbstermächtigung? Aushandlungsprozesse im Umfeld des wilden Streiks bei den Kölner Fordwerken 1973 und des Besetzungsstreiks bei Krupp in Duisburg-Rheinhausen 1987/88, in: Arbeit – Bewegung – Geschichte 1/2016,
    S. 73 – 90.
  • Öztürk, Nihat (Hg.): Etappen, Konflikte und Anerkennungskämpfe der Migration. Mit Fotos von Manfred Vollmer, Gernot Huber, Segej Lepke und vielen anderen. Berlin 2022.

Quelle: labournet.de… vom 24. Juli 2023

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