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Notwendig wäre ein Vernetzungsprojekt einer radikalen Minderheit

Eingereicht on 10. August 2023 – 11:26

Ewgeniy Kasakow. Uneingelöste Parole? Noch vor rund zehn Jahren kamen bei Minsk radikale Linke Russlands, der Ukraine und Belarus zusammen, um über die Maidan-Ereignisse zu diskutieren. Was ist aus diesen Ansätzen linker Vernetzung geworden? Und wie steht es heute um die linke Kriegsopposition in Russland?

Aus heutiger Sicht erscheint es vielleicht unglaublich, doch die Dokumente lassen sich unschwer im Netz finden: Noch im Juni 2014 trafen sich die Vertreter:innen der radikalen Linken aus Russland, der Ukraine und Belarus bei Minsk und diskutierten halbwegs friedlich miteinander über die Bewertung der Maidan-Ereignisse. Die einen sahen in den Protesten einen unvollendeten Aufstand gegen die Oligarchie, die anderen einen von Oligarch:innenen und imperialistischen Mächten inspirierten Putsch. Einig war man sich in der negativen Beurteilung der neuen ukrainischen Regierung unter Petro Poroschenko, während die Perspektiven der gerade ausgerufenen Volksrepubliken Donezk und Lugansk sehr umstritten blieben. Am Ende einigte man sich auf eine gemeinsame Erklärung mit der Überschrift «Stoppt den Krieg!», in der die Rolle der USA, der EU und Russlands in der Ukraine kritisiert wurde und eine militärische Lösung in Bezug auf die Ostukraine abgelehnt wurde. Die von der Kiewer Regierung gegen die Abspaltung vom Donbass geführte «Antiterroristische Operation» sollte sofort gestoppt werden, ebenso wie die russische Unterstützung für die «Volksrepubliken». Ferner wurden auch die nationalistischen Hetzkampagnen in den Massenmedien der beiden Seiten verurteilt.

Sich gegenüberstehende Positionen

Schaut man sich die Liste der Unterzeichnenden an, so muss man feststellen, dass aus Mitstreitern unerbittliche Feinde geworden sind. Heute zählt zum Beispiel Darja Mitina von der Vereinigten Kommunistischen Partei (OKP) zu den prominentesten Befürwortern der «Spezialoperation» in der russischen Linken. Die Website der ukrainischen Organisation «Borotba» (Kampf), die vor allem im Exil aktiv ist, ist voll von Z-Zeichen und Erklärungen über den «antifaschistischen Charakter» der russischen Invasion. Die Nachfolgeorganisation der beim Minsker Treffen vertretenen, ukrainischen «Linken Opposition» (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Partei, die 2015 gegründet und 2022 verboten wurde) Sozialny Rukh (Soziale Bewegung) macht heute bei der westlichen Linken Werbung für Waffenlieferungen an Kiew. Die Russländische Sozialistische Bewegung (RSD) zeigt sich in diesem Punkt mit Sozialny Rukh solidarisch, während der ukrainische Soziologe Wolodymyr Ischtschenko, damals einer der Herausgeber der Zeitschrift «Spilne/Commons», die Pläne der militärischen Rückeroberung von Krim und Donbass weiterhin kritisiert.

Internationale Vernetzung gestaltet sich schwierig

In Russland gibt es etliche linke Gruppen, die sich explizit gegen jegliche Unterstützung einer der Kriegsparteien wenden und den Krieg vor allem als Resultat der sich widersprechenden Interessen zwischen den westlichen Mächten und Russland analysieren. Doch einer Vernetzung in Russland und über die Grenzen hinaus stehen viele Probleme im Wege.

Zu einem gehören die Gegner:innen der Parteinahme sehr unterschiedlichen Strömungen an. Anarcho-syndikalist:innen, Linkssozialist:innen, Stalinist:innen, Trotzkist:innen können sich unmöglich zu einer Organisation vereinigen. Dazu kommen die mit dem Krieg unzufriedenen Mitglieder der Kommunistischen Partei der Russländischen Föderation (KPRF) – einer in vielen Punkten konservativen Partei, deren Führung sich betont loyal gegenüber Putins Aussenpolitik gibt. Zum anderen fehlt es auf ukrainischer Seite an potenziellen Gesprächspartner:innen. Ein Teil der ukrainischen Linken schloss sich den «Volksrepubliken» an und verschwand, in Kämpfen gefallen oder ins Exil gedrängt. Ein anderer radikalisierte sich spätestens seit dem Beginn der Invasion in Richtung Vaterlandsverteidigung.

Eine Position sowohl gegen Putins «Russische Welt», als auch gegen die Vaterlandsverteidigung Seite an Seite mit der Nato und radikalen Nationalist:innen bezieht aktuell nur die «Arbeiterfront der Ukraine» (RFU), eine kleine, konspirativ arbeitende Organisation.

Interessen schliessen sich aus

In den westlichen Ländern, nicht zuletzt in der Bundesrepublik Deutschland, der Führungsmacht der EU, schwanken die Linken zwischen dem Aufgeben aller Vorbehalte gegen den Einsatz militärischer Mittel zur Durchsetzung von Staatsinteressen (mit dem Verweis auf die «authentischen» Stimmen der ukrainischen Betroffenen) und der sturen Wiederholung der Narrative der russischen Propaganda, die als «antiimperialistisch» verklärt wird.

Sowohl die Befürworter:innen der militärischen Unterstützung als auch die Verteidiger:innen der «legitimen Sicherheitsinteressen Russlands» beteiligen sich rege an der Debatte, wer nun den Krieg angefangen hat. Nur noch eine Minderheit der radikalen Linken, darunter auch die RFU, pochen darauf, dass die Interessen der konkurrierenden kapitalistischen Staaten sich grundsätzlich ausschliessen. Die Beziehungen zwischen den Staaten werden auch in der Linken häufig mit den Beziehungen zwischen den Einzelbürgern gleichgesetzt und «Recht auf Selbstverteidigung» dort gefordert, wo Staaten sich mit ökonomischen und militärischen Mitteln gegenseitig erpressen.

Es ist nicht zu übersehen, dass der ukrainische Staat mit dem Diktat der Bedingungen seitens Russlands einerseits und der EU und der USA andererseits konfrontiert wird. Es ist auch nicht zu übersehen, dass Russland in der wirtschaftlichen Konkurrenz den Kürzeren zieht. Russland hat es nicht geschafft, einen alternativen Wirtschaftsblock aufzustellen, der mit einer Kombination aus Angebot und Erpressung den Einfluss der EU in den postsowjetischen Staaten eindämmen könnte. Als Konsequenz daraus wirft es seinen Status als militärische Grossmacht in die Waagschale.

Imperialismus und Anti-Imperialismus

Häufig wird die Position «gegen alle» als eine Forderung nach Verhandlungen um jeden Preis verstanden. Die radikale Linke in Russland fordert jedoch die Absetzung Putins und die Demontage seines Herrschaftsmodells samt den herrschenden Eigentumsverhältnissen.

Gruppen wie die Konföderation der «Revolutionären Anarchosyndikalisten» (KRAS), die «Organisation der Kommunist:innen-Internationalisten» (OKI), die «Union der Marxisten», Medien wie «Rabkor» oder «Krasny Poworot» agitieren gerade gegen die Legitimierungsmythen der «eigenen» Staatsführung («Antifaschismus», «Präventivkrieg», «Genozid der russischen/russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine»). Doch sie verweigern sich der Solidarität mit dem ukrainischen Staat, den sie als kapitalistisch und stark abhängig vom Westen, daher den Interessen der Lohnabhängigen gegenüber feindlich ansehen. Das Problem sei nicht, dass Putin zuerst angegriffen habe, sondern dass Russland Anspruch erhebe, eine imperialistische Weltmacht zu sein, so deren Argumentation.

Bei dem letzten Punkt sind die Debatten unter den Linken in Russland besonderes hitzig. Die so genannten «Z-Linken» pochen darauf, dass Russland keine imperialistische Macht, sondern eine Halbkolonie sei und einen nationalen Befreiungskampf führe. Es fällt auf, dass diese Argumentation denen der Anhänger der «postkolonialen» Begründung für den ukrainischen Kampf um die Staatssouveränität ähnelt. Demzufolge sei Nationalismus unterstützenswert und über jede Kritik erhaben, wenn er von einem anderen Nationalismus unterdrückt sei. Dass Russland keineswegs an die wirtschaftliche Bedeutung ihres westlichen Kontrahenten herankommt, ist eine richtige Feststellung. Ihren Anspruch darauf, eine strategische Weltmacht zu sein, ist zunächst durch die militärische Macht und den Besitz von Atomwaffen begründet. Doch es darf nicht übersehen werden, dass Russland nach Erfolgen in der wirtschaftlichen Konkurrenz sucht, während die Bedingungen für die Teilnahme am Weltmarkt von den erfolgreichen kapitalistischen Staaten diktiert werden.

Wer sich in Russland sowohl gegen Putin als auch gegen die Nato und die ukrainische Regierung mit antikapitalistischen Argumenten stellt, dem wird von den Liberalen und «antikolonialen» Ukraine-Unterstützer:innen vorgeworfen, dem Leiden der Ukrainer:innen empathielos gegenüberzustehen und keinen Unterschied zwischen Aggressor und Opfer zu machen. Von den «linkspatriotischen» Kräften wie der KPRF oder «Gerechtes Russland», sowie von den staatlichen Organen und Medien wird denen wiederum bescheinigt, «Verräter;innen» und «Einflussagent:innen des Westens» zu sein, die kein Mitgefühl mit den «Kindern von Donbass» und «Opfern der Kiewer Faschist:innen» haben.

Anschluss an rechte Kreise

Aktuell suchen Teile der «patriotischen Linken» zunehmend Anschluss an rechtsradikale Kreise. Sergei Udalzow, Anführer der «Linken Front» (LF), der für seine oppositionellen Aktivitäten jahrelang im Gefängnis sass, sondiert gerade die Chancen für die Aufstellung eines gemeinsamen Kandidaten für die kommenden Wahlen mit dem «Klub der verärgerten Patrioten» (KRP) um Igor Strelkow-Girkin, einem überzeugten Monarchisten und Veteranen des Donbass-Krieges von 2014. Udalzows früherer Mitstreiter Leonid Raswosschajew geht noch weiter und tritt bei den Veranstaltungen des Klubs auf. Kontakte bestehen auch zu der Konkursmasse der verbotenen Nationalbolschewistischen Partei (NBP) und den militanten Anhänger:innen von GRU-Oberst a.D. Wladimir Kwatschkow, der sich selbst als «christlicher Nationalist» bezeichnet. Gemeinsame Basis ist die Hoffnung, dass der Krieg (den Euphemismus «Spezialoperation» lehnt die Hardliner-Opposition meist ab) zu einem Schlag gegen die prowestlich-liberalen Eliten führen wird.

Radikale Minderheit

Die parlamentarischen Parteien KPRF und «Gerechtes Russland» sprechen beständig von einer kommenden «linken Wende» Putins infolge der Verschärfung der Konfrontation mit dem Westen. Um gegen Westen zu gewinnen, wird Putin, so die Hoffnungen dieser Kräfte, Repressionen gegen die «fünfte Kolonne» des Imperialismus verschärfen, Oligarchen enteignen und sich auf «volkspatriotische Kräfte» (womit sie sich selbst meinen) stützend eine neue Industrialisierung einleiten. Aussenpolitisch soll Russland, so Idee der «Linken» wie Gennadi Sjuganow oder der «Rechten» wie Alexander Dugin ein breites antiwestliches Bündnis mit der Volksrepublik China, Iran und Venezuela anführen. Dafür muss der Konflikt gerade intensiviert werden, weswegen aus diesem Spektrum die Forderungen nach der Mobilisierung aller Kräfte für den Sieg kommen.

Die Position, dass die Lohnabhängigen der kriegsführenden Länder mehr gemeinsame Interessen miteinander haben als mit ihren Regierungen, ist aktuell in der Linken minoritär, nicht nur in Russland. Die Vernetzung der Kriegsgegner:innen wäre erstmal ein Projekt einer radikalen Minderheit. Weniger notwendig wird es deswegen nicht.

Quelle: vorwaerts.ch…  vom 10. August 2023

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