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Über zweierlei Maß: Der Gebrauch von Menschen als Schutzschild

Eingereicht on 9. Juli 2024 – 14:24

Emilie Böhm. Die militärische Praxis wird allgemein mit der Hamas assoziiert. Eher unbekannt ist, dass sie auch Israel und der Ukraine vorgeworfen wird.

Als am 22. Juni die Familie des während einer israelischen Militärrazzia im besetzten Westjordanland angeschossenen Mujahid Abadi einen Rettungswagen rief, banden ihn israelische Soldaten auf die Motorhaube ihres Jeeps und fuhren mit ihm davon. Ein Video zeigt, wie das Fahrzeug mit dem Verwundeten auf der Motorhaube an zwei Rettungswagen vorbei fährt.

In einer Stellungnahme der israelischen Armee wurde eine Untersuchung angekündigt, das Verhalten der Soldaten, hieß es, entspreche nicht „den Werten“ der israelischen Armee. Der Verwundete, in der Erklärung als „Verdächtiger“ bezeichnet, sei „festgenommen“ und zur medizinischen Versorgung übergeben worden.

Zwar hatten die Soldaten den Mann später nach der Fahrt tatsächlich an Sanitäter übergeben, die ihn ins Krankenhaus fuhren. Dass dies aber der Zweck der Fahrt gewesen sein soll, ist zweifelhaft, da, wie das Video zeigt, der Jeep mit dem Verwundeten an zwei Rettungswagen vorbei fuhr. Vor diesem Hintergrund wurden Vorwürfe laut, die israelische Armee habe den Palästinenser als Schutzschild genutzt. So kritisiert zum Beispiel Nicola Perugini, Co-Autor des Buchs „Human Shields: A history of People in the Line of Fire“ und Dozent für internationale Beziehungen an der Universität Edinburgh, es sei „dieselbe Armee, die ihren Vernichtungskrieg in Gaza auf der Basis des Menschlichen-Schutzschild-Arguments rechtfertigt“.

Bereits in der Vergangenheit hatte Israel der Hamas vorgeworfen, ihre Stellungen in Wohngebieten, Krankenhäusern und Schulen zu platzieren. Als es im Oktober 2023 dann, unmittelbar nach Israels Ankündigung, den Angriff der Hamas mit voller Härte zu vergelten, darum ging, die eigene Bevölkerung auf die erwartbar hohe Zahl an palästinensischen zivilen Opfern vorzubereiten, verbreiteten auch deutsche Medien, dass sich die Hamas feige hinter Zivilisten verstecke. Militärexperten bestätigten, dass der Gebrauch von Zivilisten als Schutzschild die für die Hamas typische Taktik sei. Bis heute wird auf diese Weise die Tötung von Tausenden Zivilisten als mehr oder weniger unumgänglich gerechtfertigt und die Verantwortung dafür der Hamas zugeschrieben.

Ganz anders reagierte man, als dieselbe militärische Praxis der Ukraine vorgeworfen wurde. Im August 2022 warf ein Bericht von Amnesty International der Ukraine die Gefährdung von Zivilisten durch die Platzierung von militärischen Truppen in Wohngebieten, Krankenhäusern und Schulen vor. Der Bericht rief im Westen Empörung hervor. Die deutsche Abteilung von Amnesty International veröffentlichte sogar eine Stellungnahme, in der sie um Entschuldigung bat, die Instrumentalisierung“ des Berichts durch Russland verurteilte, den Mangel an „Kontext“, „Sensibilität und Präzision“ des Berichts kritisierte und ihre Beteiligung an einem Prüfverfahren ankündigte. Militärexperten gaben zu bedenken, es könne militärisch durchaus sinnvoll sein, „Kämpfe in urbane Gebiete zu verlagern“. Von “ Zivilisten als Schutzschild“ oder „Sich-Hinter-Zivilisten-Verstecken“ war nicht die Rede. Medial wurde das Thema ohnehin, wenn überhaupt, nur am Rande behandelt, so dass der Amnesty-Bericht schnell wieder in Vergessenheit geraten sein dürfte.

Das gilt erst recht für den immer wieder gegen Israel erhobenen Vorwurf, Zivilisten, darunter auch Kinder, als Schutzschild zu benutzen. Zu den schwerwiegendsten von Human Rights Watch in einem Bericht von 2002 genannten Fällen in Jenin im von Israel besetzten Westjordanland gehörte „der Fall von vier Brüdern, einem Vater und seinem vierzehnjährigen Sohn sowie zwei weiteren Männern“, die auf dem Balkon eines Hauses stehen mussten, „um bewaffnete palästinensische Männer davon abzuhalten, in Richtung IDF-Soldaten zu schießen. Die palästinensischen Zivilisten beschrieben auch, wie die IDF-Soldaten sie gezwungen hatten, vor den Soldaten zu stehen, als diese auf palästinensische bewaffnete Männer schossen, während sie ihre Gewehre auf die Schultern der palästinensischen Zivilisten legten.“

Bekannt wurde 2004 auch der Fall des 13-jährigen Mohammed Badwan, dessen Arm an die Windschutzscheibe eines Jeeps gebunden wurde, so dass er auf der Motorhaube sitzend offenbar als Schutzschild gegen Steinwürfe durch palästinensische Demonstranten im von Israel besetzten Westjordanland diente.

Nach einer Petition mehrerer Menschenrechtsorganisationen wie der israelischen NGO B’tselem war die Praxis, Zivilisten als Schutzschild zu verwenden, in Israel 2002 im Großen und Ganzen verboten worden. 2005 schließlich untersagte das Oberste Gericht in Israel diese Praxis gänzlich. Trotzdem wurden weiterhin Fälle dokumentiert. In einem 2006 veröffentlichten Bericht von Amnesty International wird dazu im Hinblick auf israelische Streitkräfte im Gazastreifen ausgeführt: „Israelische Truppen übernahmen häufig Häuser, von denen aus sie Angriffe verübten, und gefährdeten dadurch die Bewohner, die gezwungen waren, in den Häusern zu bleiben. Die Truppen nutzten die Bewohner effektiv als menschliche Schutzschilde – obwohl der israelische Oberste Gerichtshof dies im Oktober 2005 verboten hatte.“

In einem weiteren Bericht von Amnesty International aus dem Jahre 2009 über israelische Streitkräfte im Gazastreifen heißt es: „Während der Operation „Gegossenes Blei” besetzten israelische Truppen mehrfach palästinensische Häuser im Gazastreifen und hielten die Familien in einem Raum im Erdgeschoss fest, während sie den Rest des Hauses als Militärbasis und Position für Scharfschützen benutzten; letztendlich wurden dadurch die Familien, sowohl Erwachsene als auch Kinder, als ‚menschliche Schutzschilde‘ benutzt und in Gefahr gebracht. Während die Soldaten Schutzkleidung und Helme trugen und hinter Sandsäcken verschanzt waren, als sie aus den Häusern feuerten, hatten die palästinensischen Bewohner der Häuser keinen solchen Schutz.“

2010 äußerten die Vereinten Nationen ihre tiefe Sorge „über die andauernde Praxis, bei der palästinensische Kinder als menschliche Schutzschilde benutzt werden“, und forderten Israel auf, sich an internationales Recht zu halten. Im Jahr 2013 wiederholten sie ihre „tiefe Sorge über die kontinuierliche Verwendung von palästinensischen Kindern als menschliche Schutzschilde […]“. Die Sorge bezog sich im Einzelnen darauf, dass israelische Soldaten „palästinensische Kinder eingesetzt haben, um potenziell gefährliche Gebäude vor ihnen zu betreten und sich vor Militärfahrzeuge zu stellen, um das Werfen von Steinen gegen diese Fahrzeuge zu stoppen […] und dass fast alle, die Kinder als menschliche Schutzschilde und Informanten benutzten, straffrei blieben, und die Soldaten, die verurteilt wurden, weil sie mit vorgehaltener Waffe ein neunjähriges Kind gezwungen hatten, Taschen zu durchsuchen, in denen sich angeblich Sprengstoff befand, lediglich eine Bewährungsstrafe von drei Monaten erhielten und degradiert wurden.“

Auch im aktuellen Krieg wurde Israel wiederholt vorgeworfen, Palästinenser als Schutzschild zu verwenden. Der Fall des verletzten Majid Abadi wurde von den Tagesthemen vom 23. 06. 2024 in der Rubrik „Weitere Nachrichten des Tages“ kurz gemeldet. Der gegen Israel erhobene Vorwurf aber, den Palästinenser als Schutzschild verwendet zu haben, blieb unerwähnt.

#Titelbild: Israelische Soldaten banden am 22. Juni den verletzten Mujahid Abadi als Schutzschild auf die Motorhaube.

Quelle: overton-magazin.de… vom 9. Juli 2024

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