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Was beim russischen Raketenangriff in der Stadt Tschernhiw wirklich geschah

Eingereicht on 21. August 2023 – 10:05

Florian Rötzer. Präsident Selenskij stellt den Angriff auf das Zentrum der Stadt wieder als Terror dar. In dem Theater fand eine militärtechnische Veranstaltung statt, was in den westlichen Medien symptomatisch meist nicht erwähnt wird.

Die Nachrichten in den westlichen Medien über den Raketenangriff auf die Stadt Tschernhiw sind fast durchweg identisch. Man verlässt sich auf ukrainische Angaben, nach denen eine Iskanderrakete das Stadtzentrum getroffen, mindestens sieben Menschen getötet, darunter angeblich auch ein sechsjähriges Kind, und mehr als 100 verletzt hat. „Ein Marschflugkörper sei an einem zentral gelegenen Platz eingeschlagen, während Menschen aufgrund eines religiösen Feiertags auf dem Weg zur Kirche gewesen seien“, so berichtete die tagesschau mit denselben Worten wie etwa die New York Times und gibt damit wieder, wie das ukrainische Innenministerium den Vorfall darstellt. Kontext gibt es dazu keinen. Es heißt lediglich, dass nach den Behörden Massenveranstaltungen eingestellt werden sollen.

Präsdent Selenskij wird oft zitiert, der den Angriff nutzt, um Propaganda zu machen, was zu erwarten ist. Gedeutet wird der Angriff als Terror, weil angeblich zivile Gebäude und unschuldige Menschen getroffen wurden:

„Das ist es, was es bedeutet, neben einem terroristischen Staat zu leben. Das ist es, wogegen wir die ganze Welt vereinen. Heute schlug eine russische Rakete im Herzen von Tschernihiw ein. Ein Platz, eine Universität und ein Theater. Russland hat einen gewöhnlichen Samstag in einen Tag des Schmerzes und des Verlustes verwandelt. Es gibt Tote. Mein Beileid an alle, die einen geliebten Menschen verloren haben. Alle Dienste sind vor Ort im Einsatz. Rettungskräfte, Polizei, Ärzte. Ich fordere die Welt auf, dem russischen Terror die Stirn zu bieten. Geben Sie der Ukraine zusätzliche Mittel an die Hand, um Leben zu schützen. Wenn das Leben gewinnen soll, muss Russland diesen Krieg verlieren. – Wolodymyr Selenskij auf X (Twitter)

Die US-Botschafterin Bridget Brink stimmt ein, ebenfalls ohne die Begleitumstände auch nur zu erwähnen, was der strategischen Kommunikation nicht dienlich wäre: „Schreckliche Nachrichten über den heutigen Beschuss des historischen Zentrums von Tschernihiw. Die unschuldigen Männer, Frauen und Kinder, die einen schönen Samstag – einen Feiertag in der Ukraine – genossen haben, hätten niemals getötet oder verwundet werden dürfen.“

In einigen Medien wie der Süddeutschen oder der Zeit wird zumindest kurz erwähnt, dass das Gebäude der polytechnischen Universität und eines Theaters beschädigt wurden, und dass in letzterem eine „Drohnenmesse“ oder eine „Ausstellung von Drohnen“ zum Zeitpunkt des Angriffs stattfand. Eine Drohnenausstellung in Kriegszeiten lässt vermuten, dass es sich um Kampfdrohnen und um eine militärische Angelegenheit handelte, für die ein Theater im Zentrum der Stadt genutzt wurde, die noch dazu im Norden der Ukraine nahe an der Grenze zu Belarus, aber auch zu Russland liegt.

Das russische Militär meldete, es sei „der Ort der Versammlung des Führungspersonals der Streitkräfte der Ukraine getroffen“ worden, das Gebäude sei „von ukrainischen Militärangehörigen benutzt“ worden. Vom Führungspersonal zu sprechen, ist weit übertrieben, aber sicher ist, dass es sich nicht um eine zivile Veranstaltung handelte. Vorneweg muss gesagt werden, dass ein Raketenangriff auf ein Gebäude in einem Stadtzentrum natürlich das Risiko in Kauf nimmt, dass Zivilisten, auch wenn das Ziel genau getroffen wird, im und um das Gebäude getötet und verletzt werden können, die nichts mit der Drohnenveranstaltung zu tun haben. Nach Videos ist die Rakete im Dach des Theaters eingeschlagen. Nach dem Innenministerium wurden neben dem Kind Polizisten und Sicherheitsleute getötet.

Eine militärische Veranstaltung in einem kulturellen Gebäude durchzuführen, ist allerdings auch ein Versuch, militärisch möglicherweise legitime Ziele dahinter zu verstecken, um einerseits die Sicherheit zu erhöhen und andererseits ein Kriegsverbrechen behaupten zu können. Die Veranstaltung und ihr Beginn unter dem Titel „Furious Birds Demo Day“ wurde mehrere Tage zuvor von Victory Drones angekündigt, der Ort aber erst wenige Stunden vor Beginn, was die Russen irgendwie erfahren haben. Die Teilnehmer wurden aufgefordert, in ziviler Kleidung zu kommen. Nach einem von Ria Novosti veröffentlichten Dokument hieß es, dass der Ort am Veranstaltungstag ab 6 Ugr bekannt gegeben würde. Wer teilnehmen wollte, musste ein Formular ausfüllen, wurde angeblich überprüft und erhielt eine persönliche Einladung.

Die prominente „Freiwillige“ Maria Berlinska, Maidan-Aktivistin, später Militante von Aidar im Donbass,  ab 2015 tätig mit Überwachungs- und jetzt Kampfdrohnen sowie der Ausbildung von Drohnenpiloten und Frauenrechtlerin beim Militär, hat zur Veranstaltung mit aufgerufen. Sie ist, wie Strana berichtet, auch Kandidatin für den Posten des Verteidigungsministers, da Resnikow nach dem Willen von Selenskij zurücktreten soll.

Kurz nach Beginn der Veranstaltung, an der etwa 200 Menschen, Techniker, Militärs und „Freiwillige“, teilnahmen, die Nationalhymne gesungen und eine Schweigeminute abgehalten haben, gab es einen Alarm, wer sich in die Luftschutzbunker begab, kam mit dem Schrecken davon, einige, die das Gebäude verließen, wurden verletzt.

In der Ukraine wird darüber gestritten, warum diese Veranstaltung zu Kampfdrohnen ausgerechnet im historischen Zentrum der Stadt nahe an der russischen Grenze durchgeführt wurde. Die örtliche Militärverwaltung hat die Veranstaltung genehmigt, der Stadtrat allerdings nicht. Ähnliche Treffen mit Vertretern des Militärs, Drohnenherstellern und Firmen hatte es bereits in anderen Städten wie Kiew, Lemberg oder Dnipro gegeben. Der Vorfall wird vom Geheimdienst SBU untersucht.

Nach Maria Berlinska, die hart kritisiert wurde, sei es eine „geschlossene Veranstaltung für Ingenieure, Militärs und Freiwillige zum Thema Militärtechnologien für die Front“ gewesen. Verantwortlich will sie nicht sein. Auch Victory Drones macht es sich einfach und leitet ein Posting von Molfar weiter: „Schuld sind die Russen. Es war dieser Mist, der das Tschernigow-Theater mit ballistischen Geschossen beschoss, wobei mehr als hundert Menschen verletzt und mindestens sieben getötet wurden. Es ist nicht die Schuld der Freiwilligen, die alles Mögliche und Unmögliche für den Sieg der Ukraine in dem von den Russen begonnenen Krieg tun.“ Kritik wird als pro-russisch abgetan.

Diesen gesamten Kontext über die militärische Veranstaltung und die Rolle der „Freiwilligen“, also der Milizen und Verbände, die meist nur pro forma in die reguläre Armee eingebunden sind, wegzulassen, erzeugt ein schiefes Bild für die Mediennutzer. Sie sollen offenbar nur sehen, dass Russland zivile Gebäude beschossen und Zivilisten getötet und verletzt hat. Darauf hinzuweisen, dass es sich um ein militärisches Ziel handelte und die Veranstaltung im Zentrum der Stadt in einem Theater stattfand, das womöglich als Schutz dienen sollte, rechtfertigt nicht den Raketenangriff, aber stellte den Vorfall in den vorhandenen Kontext, den die Mediennutzer kennen müssen, um sich ein Urteil zu bilden. Die Frage ist, ob Medien wie die tagesschau absichtlich diese Informationen zurückhalten, sie für unwesentlich halten oder nicht ausreichend recherchieren, muss dahingestellt sein.

#Titelbild: Ankündigung der Veranstaltung über Kriegsdrohnen

Quelle: overton-magazin.de.. vom 21. August 2023

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