Ein angekündigter Genozid und die Moral des Westens
Manfred Ecker. Der Krieg in Gaza bedeutet einen Scheideweg für die Welt. Die Entfremdung zwischen den von den USA angeführtem westlichen Staatenbündnis und dem Rest der Welt wird sich ganz enorm vertiefen, und hier im Westen sollten und werden sehr viele Menschen ihre Loyalität mit der eigenen Seite überdenken.
In Jenin, im Westjordanland, fiel am 17. Oktober ein kleines Mädchen, die 12-jährige Razan Nasrallah, einer Kugel der palästinensischen Autoritätsbehörde (PA) zum Opfer. „Eine Kugel drang in die rechte Seite ihrer Brust ein. Sie durchbohrte ihre Lunge und traf ihr Herz. Wir betrachten sie als eine Märtyrerin, die bei der Verteidigung des Gazastreifens getötet wurde. Wir trauern mit Stolz um sie“, sagte ihr Onkel der 64-jährige Ziad Nasrallah gegenüber Al-Jazeera. Über die Verhältnisse in Palästina muss man eigentlich nicht mehr erfahren, damit einem die Augen aufgehen. Natürlich unterstützt die Mehrheit die Hamas, wenn ihre Konkurrenten so offensichtlich korrumpiert sind, und für die israelischen Besatzer den Polizisten spielen.
Die 12-jährige Razan Nasrallah war unter den vielen tausenden Menschen, die im Westjordanland und der ganzen arabischen Welt nach der Bombardierung des Spitals in Gaza auf die Straßen geströmt sind. Israel führt einen erbarmungslosen Krieg gegen die von ihr eingekesselte Zivilbevölkerung. Allein der Schlag Al-Ahli Spital in Gaza hat um die 500 Menschenleben gefordert. Das sind mehr Tote als in dem berüchtigten Massaker von Deir Yasin im Jahr 1948, das eine entscheidende Rolle bei der „Nakba“, der Vertreibung der palästinensischen Zivilbevölkerung, gespielt hatte.
Schlimme Erinnerungen
Über Deir Yasin wissen wir heute, dass es ein strategisch geplantes Massaker war. Angeführt hat es der spätere Premierminister und Friedensnobelpreisträger Menachem Begin. Begin verteidigte das Massaker auch später noch: „Das Massaker von Deir Yasin hatte nicht nur seine Berechtigung – ohne den ,Sieg‘ von Deir Yasin hätte es auch niemals einen Staat Israel gegeben.“ Muss man mehr wissen, um zu verstehen, warum im arabischen Raum der Westen als amoralisch und als das Böse schlechthin gilt – Begin hat den Friedensnobelpreis erhalten. Prominente Jüdinnen, wie Hannah Arendt und Albert Einstein haben in New York gegen Menachem Begin protestiert, während die westlichen Staatenlenker mit ihm diniert haben.
Erpressung und Gleichschaltung
Israel versucht routinemäßig Zweifel an den Berichten über seine Gräueltaten zu streuen. Das von der anglikanischen Kirche Jerusalems betriebene Al-Ahli Spital in Gaza sei von einem Irrläufer von Islamischer Dschihad getroffen worden. Der ORF hat die israelische Sprechweise tatsächlich übernommen. Wie muss das auf die Gemeinschaft muslimischer Zuwanderer in Österreich wirken? Ganz offensichtlich ist sich Israel-treue Seite der untragbaren Situation sehr bewusst.
Sie kämpft mit harten Bandagen gegen Abweichler. Die SPÖ Vorarlberg etwa will die eigene Jugendorganisation wegen einer Palästina-freundlichen Stellungnahme ausschließen. Dazu die SJ-Vorarlberg: „Für uns als Sozialisten ist klar, dass wir gegen jede Form der Unterdrückung und Ausbeutung kämpfen. Das bedeutet im Konflikt im Nahen Osten, dass wir für das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung einstehen. Wir haben damit gerechnet, dass diese einfache Positionierung im Klima der völlig einseitigen Kriegshysterie kontrovers sein wird.“
Ein wahrer Völkermord
Was jetzt verlangt ist, ist nicht eine Erinnerung an die eigenen sozialistischen Prinzipien – das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist ja auch in der Sozialdemokratie unantastbar – jetzt wird ein Blankoscheck an Israel für den Genozid an der Bevölkerung in Gaza verlangt. Es wäre tatsächlich „ein Völkermord wie aus dem Lehrbuch“, sagt Professor Raz Segal, ein israelischer Historiker mit Schwerpunkt auf Holocaust- und Genozid-Forschung. „Es handelt sich laut UN-Deklaration zu Völkermord aus dem Jahr 1948 dann um Genozid oder Völkermord, wenn die Absicht vorliegt, eine rassisch, ethnisch, religiös oder national definierte Gruppe zu zerstören. Und sowohl die israelische Armeeführung als auch die Regierung stellen ihre Absicht die Bevölkerung von Gaza zu vertreiben und zu ermorden offen zur Schau.
Schon das Kappen der Wasser-, Lebensmittel- und Treibstoffversorgung gegen die in Gaza seit 2007 eingekesselte und belagerte Bevölkerung ist ein ganz offen geführter Krieg gegen die Zivilbevölkerung von Gaza mit dem Sanktus der westlichen Staatengemeinschaft. Der israelische Verteidigungsminister sagte der Weltöffentlichkeit: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere“ und „Wir werden alles eliminieren.“ Israels Armeesprecher Daniel Hagari verkündete ganz offen: „Der Schwerpunkt liegt auf dem Schaden und nicht auf der Genauigkeit.“ Dazu noch einmal der Holocaustforscher Raz Segal: „Der Abwurf von Tausenden von Bomben innerhalb von ein paar Tagen, einschließlich Phosphorbomben auf eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt. Wir sehen hier also eine Kombination aus völkermörderischen Handlungen und besonderen Absichten. Dies ist in der Tat ein Lehrbuchfall von Völkermord.“
Ein weltweit angekündigter Völkermord – das wird diese brüchige Weltordnung noch instabiler machen. Man kann als SPÖ natürlich von der Jugendorganisation verlangen, dass sie dabei mitspielt, aber sie wird es nicht tun. Wer sich die Seite der Unterdrückten zu eigen macht, wer sich in die Situation der Menschen in Gaza hineinversetzen kann, und wer dieses Bild noch dazu mit seinen sozialistischen Prinzipien abgleicht, wird niemals einem Völkermord zustimmen.
Quelle: linkswende.org… vom 20. Oktober 2023
Tags: Imperialismus, Palästina, Rassismus, Repression, Sozialdemokratie, Widerstand, Zionismus
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