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„PR-Desaster“: Geisel-Bericht über gute Behandlung durch Hamas

Eingereicht on 25. Oktober 2023 – 12:08

Florian Rötzer. Eine der freigelassenen Geiseln sagt, die Hamas-Bewacher seien freundlich gewesen. Das bringt das Narrativ von Hamas als Monster durcheinander.

Hamas hat am Montagabend überraschend die nächsten beiden Geiseln freigelassen: die  79-jährige Nurit Cooper und die 85 Jahre alte Jochewed Lifschitz, während ihre Männer sich weiter in Gefangenschaft befinden. Wieder geschah dies ohne Bedingungen und Gegenleistung: „Durch ägyptische und katarische Vermittlung“, wird betont, wurden „zwei Gefangene aus dringenden humanitären und medizinischen Gründen freigelassen“.

Damit versucht Hamas, die beim Massaker am 7. Oktober wahllos Kinder, Frauen, Männer und Alte gejagt und getötet sowie verschleppt hat, sich ein humanes Gesicht zu geben. Natürlich werden keine Geiseln freigelassen, die durch die Gefangennahme oder während der Aufenthalts misshandelt wurden. Ebenso werden fortwährend die Gräuel der israelischen Bombardierungen der Weltöffentlichkeit durch viele Bilder und Videos vor allem von toten und verletzten Kindern demonstriert. Hamas-Führer Ismail Haniyeh sagte in diesem Sinn scheinheilig: „Diese Kriminellen machen keinen Unterschied zwischen irgendjemandem. Sie töten Kinder, Frauen und ältere Menschen und begehen die schrecklichsten Massaker im gesamten Gazastreifen.“ Die Bilder der palästinensischen Opfer beherrschen jetzt die Bildschirme, die Gräueltaten der Hamas, die weiter wahllos Raketen auf Israel abfeuern, an Israelis sind mittlerweile in den Hintergrund getreten.

Israel ist damit moralisch ins Hintertreffen geraten, zumal der gesamte Gazastreifen nicht nur bombardiert, sondern auch abgesperrt wurde und bislang nur unter hohem Druck der Unterstützerstaaten humanitäre Hilfe in verschwindend kleinen Mengen zu den Menschen gebracht werden können, die, wie UNRWA berichtet, kaum mehr sauberes Wasser zu trinken und genügend zu essen haben.

Hamas hat gezielt viele Geiseln beim Überfall verschleppt, um damit nach dem Überfall Druck ausüben zu können, was bislang auch gelungen ist, weil nicht nur Angehörige der israelischen Entführten Verhandlungen verlangen, sondern auch die Regierungen der Länder, von denen auch Bürger verschleppt wurden. Bislang will Israel nicht verhandeln, weswegen sich Ägypten, Katar und die Türkei einschalten können und die Hamas leichtes Spiel hat, sich in ein scheinbar humanes Licht zu setzen, indem Israel das Töten von Kindern und Frauen vorgeworfen wird und nicht nur „Gäste“, wie zynisch die Staatsangehörigen anderer Ländern, sondern auch israelische Geiseln freigelassen werden.

„Sie behandelten uns gut, kümmerten sich um alle Details“

Heute gab es im Ichilov-Krankenhaus von Tel Aviv eine Pressekonferenz mit Yocheved Lifschitz im Rollstuhl, die von ihren Erlebnissen seit 7. Oktober erzählen wollte, wie Haaretz berichtet, ähnlich Jerusalem Post und Times of Israel. In den westlichen Medien wird vor allem hervorgehoben, dass sie Schreckliches erlebt hat: „Ich bin durch die Hölle gegangen.“ Die Hamas hätten in ihrem Kibbuz Nir Oz gewütet und nicht zwischen jung und alt unterschieden. Wahrscheinlich wurde ein Viertel oder ein Drittel der 350 Bewohner getötet oder verschleppt. Die Entführer hätten sie auf ein Motorrad gelegt und sie während der Fahrt mit Stöcken geschlagen. Sie habe Schwierigkeiten beim Atmen gehabt. Ihre Uhr und ihr Schmuck wurde gestohlen.

Im Gazastreifen wurden sie zu einem Tunneleingang gebracht und mussten dann kilometerweit gehen: „Es gibt ein riesiges Tunnelsystem, wie ein Spinnennetz. … Als wir dort ankamen, sagten sie uns, dass sie an den Koran glauben, dass sie uns nichts tun werden und dass wir unter den gleichen Bedingungen wie sie in den Tunneln leben werden. Wir begannen, durch die Tunnel zu gehen, der Schmutz ist feucht und alles ist immer feucht und feucht. Wir erreichten eine Halle, in der 25 Menschen untergebracht waren. Nach 2-3 Stunden holten sie fünf der Leute aus meinem Kibbuz Nir Oz heraus. Sie haben uns streng bewacht.“

Weiter sagte sie, das sein Arzt gekommen sei, der die Geiseln behandelte und ihnen Medikamente gab, wenn sie diese brauchten. Der Arzt sei alle 2-3 Tage zum Nachsehen gekommen. Die Geiseln seien gut behandelt worden, die Kidnapper hätten sie „sehr freundlich“ behandelt. Besonders betonte sie, dass es sehr hygienisch zugegangen sei: „Sie behandelten uns gut, kümmerten sich um alle Details… weibliche Hygiene. Sie haben unsere Toiletten geputzt, sie haben geputzt! Sie haben mit Lysol geputzt, damit wir keine Krankheiten bekommen, sie hatten Angst vor einer Seuche.“ Sogar Shampoo und Haarspülung habe es gegeben. Und die Geiseln bekamen dasselbe zu essen wie ihre Bewacher.

Und Lifschitz berichtete nicht nur Positives über die Hamas-Leute, anstatt sie wie Monster zu schildern, sie kritisierte auch die Netanjahu-Regierung, von der sie im Stich gelassen worden seien. Militär und Geheimdienste hätten nichts gewusst, weswegen sie im Kibbuz „die Sündenböcke der Regierung“ geworden seien. Drei Wochen vor dem Überfall seien bereits die Hamas in Massen auf die Straßen gegangen, hätten ihre Felder mit Ballons angezündet. Das Militär habe nicht reagiert, bis sie dann von Hamas bombardiert worden seien, diese dann den „teuren Zaun“ durchbrachen und in den Kibbuz eindrangen. Lakonisch sagte sie: „Es war sehr unangenehm.“

Der Hintergrund ist vielleicht, dass Lifschitz und ihr Mann „Friedensaktivisten“ sind, wie ihr Sohn berichtete. Sie hätten kranken Palästinensern aus dem Gazastreifen geholfen, in israelischen Krankenhäusern aufgenommen und behandelt zu werden. Aber anscheinend haben die Bewacher alle freundlich behandelt, das könnte also höchstens ein Grund sein, Lifschitz freizulassen, weil sie nicht die Palästinenser allgemein als brutal, barbarisch oder als „menschliche Tiere“ beschreiben würde.

„Propagandasieg für die Hamas“

Es gab in einigen Medien denn auch gleich einen Aufschrei, warum die Regierung es Lifschitz erlaubt habe, ein „diplomatisches Desaster“ anzurichten, weil sie sagte, sie sei gut behandelt worden. Das sei nicht ihr Schuld, sondern die der Regierung, die nicht aufgepasst habe, in di Falle von Hamas zu geraten, schreibt Ynet.com:

„Israel hat es mit einer skrupellosen Terrororganisation zu tun, deren Taten nicht weniger abscheulich sind als die von ISIS und den Nazis. Die Zahl der Opfer des Angriffs beläuft sich auf über 1300, und zum jetzigen Zeitpunkt ist bekannt, dass mehr als 200 israelische Gefangene im Gazastreifen festgehalten werden. Wie ist es möglich, dass kein Einzelner oder ein offizieller Sprecher vor einer solchen improvisierten Live-Pressekonferenz auftauchte, um ein solches Ereignis zu managen? Wie ist es möglich, dass wir, die wir in Israel leben, eigenhändig in die Erzählungsfalle der Hamas tappen?“

Man hätte von einer alten Frau nichts anderes erwarten können, “die einen Albtraum durchlebt hat, deren Mann noch in den Händen von Hamas ist und dessen Leben von den Terroristen abhängt“, heißt es. Die Behauptung ist, dass Lifschitz letztlich nur so gesprochen hat, um ihrem Mann und den anderen Geiseln nicht zu schaden. Möglich wäre das. Jedenfalls wird die Regierung aufgefordert, „explizite Richtlinien für die Kommunikation mit israelischen Gefangenen nach ihrer Freilassung aufzustellen, um sofort die nächste Katastrophe der Öffentlichkeitsarbeit zu verhindern.“ Die freigelassenen Geiseln sollen also nur sagen, was der israelischen Strategie konform ist.

Anderswo wird von einem „Propagandasieg“ für Hamas gesprochen. „Es besteht kein Zweifel, dass Lifshitz‘ Aussage besser hätte gehandhabt werden können“, twitterte beispielsweise die Channel 12-Reporterin Daphna Liel. Die Beschreibungen ihres Leidensweges seien immer noch ziemlich schockierend: „Jeder, der bei Verstand ist, sollte verstehen, dass die medizinische Behandlung, die sie [von der Hamas] erhielt, dazu diente, ihre Verhandlungsobjekte am Leben zu erhalten und nicht aus der Güte ihres Herzens.“

„Wir dürfen nicht für einen Augenblick verwirrt werden“, sagte IDF-Sprecher Daniel Hagari. „Das ist Teil des psychologischen Terrors, den die Hamas anwendet, um scheinbar zu zeigen, dass sie eine humanitäre Organisation ist.“

Die israelische Regierung ist nervös. Netanjahu ließ über Twitter ein Video verbreiten, das an die Massaker von Hamas erinnert: „So manipuliert die Hamas die Welt. Sie hält 222 Zivilisten als Geiseln und lässt die Welt dann glauben, dass sie human ist. Das Schlimmste daran ist, dass die Welt das glaubt.“

Times of Israel berichtet, die Regierung habe eine Erklärung an die Medien geschickt, in der sie Hamas im Hinblick auf die Geiseln mit den Nazis vergleicht: „So wie die Nazis dem Roten Kreuz konstruierte und inszenierte Führungen durch ein ’sauberes‘ Konzentrationslager gaben, um die Welt zu täuschen und sich als human darzustellen, so versucht auch die Hamas, während sie Babys abschlachtet, Frauen vergewaltigt und Kinder erschießt, sich als human darzustellen, indem sie einige Geiseln freilässt, die sie scheinbar behandelt hat.“ Und weiter: „Die Welt kann die Propaganda der Hamas nicht kaufen. Die Hamas ist schlimmer als der Islamische Staat. Die Hamas sind die neuen Nazis.“

Der Islamische Staat hatte allerdings keine Gefangenen freigelassen. Seine Medienstrategie war eine kalkulierte und ästhetische Inszenierung von Gräueltaten, beispielsweise der massenhaften Exekutierung von Gefangenen. Dass Hamas unbedingt schlimmer als der IS sein soll, ist ein Versuch der israelischen Regierung, möglichst Öffentlichkeit und Unterstützung zu generieren und freie Hand bei dem Krieg gegen Hamas zu haben.

Quelle: overton-magazin.de… vom 25. Oktober 2023

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