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Wer – wen im Krieg in Syrien?

Eingereicht on 10. September 2016 – 11:28

Peter Schaber. Die kurdische Bewegung in Syrien steht für die politische Idee einer eigenständigen Entwicklung in der Region jenseits der Hegemonieansprüche der Groß– und Regionalmächte.

Die Gratwanderungen, die dabei zu vollführen sind, haben ihr von linker Seite bisweilen den Vorwurf eingebracht, sie agiere »proimperialistisch«.

Der von allen Seiten mit immenser Brutalität geführte Krieg, der Syrien seit nunmehr fünf Jahren heimsucht, hat eine humanitäre Katastrophe epochalen Ausmaßes zur Folge: Von geschätzt 400.000 Toten seit Beginn der Auseinandersetzungen im Frühling 2011 sprach Staffan de Mistura, der UN-Gesandte für Syrien, im April 2016 auf einer Pressekonferenz. Bereits im Juli 2015 überstieg die Zahl der Flüchtlinge, die das Land verlassen hatten, die Vier-Millionen-Grenze, dazu kamen laut Statistik des UN-Flüchtlingshilfswerks ­UNHCR bereits damals »mindestens 7,6 Millionen« Menschen, die innerhalb Syriens vertrieben worden waren.

Dem unbeschreiblichen Leid, das der Krieg um Syrien mit sich brachte, entspricht die Zahl der lokalen und internationalen Akteure, die sich auf syrischem Boden erbittert bekämpfen. »Ein immer wiederkehrendes Thema im syrischen Bürgerkrieg ist die schiere Vielzahl von aufständischen und dschihadistischen Protagonisten«, schreibt der Nahostexperte Charles Lister in seinem Standardwerk »Der syrische Dschihad«.[i]»Bis Anfang 2015 haben zumindest 150.000 Aufständische in 1.500 verschiedenen, operativ getrennten bewaffneten Gruppen auf diversen Ebenen an den Kämpfen in Syrien teilgenommen.« Einige dieser Organisationen haben es zu weltweiter Berühmtheit gebracht: die kürzlich in Fatah-Al-Scham-Front umbenannte Nusra-Front, der »Islamische Staat« oder die Führungsgruppe der Islamischen Front, Ahrar Al-Scham. Von vielen kleineren hört man nur, wenn sie besonders abscheuliche Verbrechen begehen oder an strategisch bedeutenden Schlachten teilnehmen. Unterstützt werden die verschiedenen Gruppen der Opposition von zahlreichen regionalen Staaten – allen voran der Türkei sowie den Golfdiktaturen Saudi-Arabien und Katar – und den westlichen imperialistischen Hauptmächten USA, Frankreich und Großbritannien.

Der gegnerische Block rund um die syrische Regierung in Damaskus ist nicht weniger vielschichtig. Auch hier kämpfen lokale Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (NDF), Formationen der regulären Syrisch-Arabischen Armee (SAA) sowie ausländische Kräfte wie die libanesische Hisbollah, schiitische Milizen aus dem Irak und Soldaten aus dem Iran. Außerdem greifen global um Einflusssphären ringende Staaten ein, allen voran Russland.

Die unübersichtliche Vielzahl von Akteuren, die bisweilen in unterschiedlichen Konstellationen agieren, hat in der Linken entgegengesetzte Einschätzungen der Parteien des Syrien-Krieges hervorgebracht. Während einige – beispielsweise die Kampagne »Adopt a Revolution« – sich früh auf die Seite der »Opposition« stellten und bisweilen gar Sanktionen sowie eine militärische Intervention befürworten, fanden sich in Teilen des antiimperialistischen Spektrums unkritische Unterstützer Baschar Al-Assads und Wladimir Putins.

DamaskusTeheranMoskau

In einer kleinen Schrift aus dem Mai 1917 unter dem Titel »Krieg und Revolution« hatte einer der Begründer der marxistischen Imperialismustheorie, Wladimir Iljitsch Lenin, darauf hingewiesen, dass es zum Verständnis eines imperialistischen Krieges nötig sei, sich die Interessenlage konkurrierender Mächte vor dem Waffengang genau anzusehen: »Wenn man nicht den Zusammenhang dieses Krieges mit der vorausgegangenen Politik aufgezeigt hat, dann hat man nichts von diesem Krieg begriffen«, so der russische Revolutionär.

Geht man in Syrien nun zurück in die Jahre vor der Eskalation der Gewalt, so wird zunächst klar: Das geostrategisch bedeutende Land war eng verbunden mit anderen Gegnern des Westens. Syrien war ein integraler Teil der sogenannten »Achse des Widerstands« (Dschabha Al-Mukawama), des informellen Bündnisses zwischen Teheran, Damaskus, der libanesischen Hisbollah und der palästinensischen Hamas. Fernab davon, irgendwelche relevanten gemeinsamen gesellschaftspolitischen Visionen zu teilen, hatte das Bündnis der religiös wie politisch sehr unterschiedlichen Kräfte im Grunde nur zwei Ziele: einen Bruch mit der US-amerikanischen Hegemonie in der Region und den Kampf gegen Israel.

Syrien war logistisch aus Sicht der anderen an der »Widerstandsachse« Beteiligten von immenser Wichtigkeit. Das Land sei »der goldene Ring in der Kette des Widerstands«, formulierte Ali Akbar Welajati, Chef des iranischen »Zentrums für strategische Studien«, im Jahr 2010. Die Bedeutung der Achse Damaskus–Teheran fasst Jubin Goodarzi in einem ausführlichen Aufsatz für den Thinktank »Woodrow Wilson International Center for Scholars« so zusammen: »Sogar in der Ära nach dem Kalten Krieg mit ihrer amerikanischen Vorherrschaft auf regionaler wie internationaler Ebene und trotz der Einführung wirtschaftlicher Sanktionen gegen beide Länder waren Syrien und der Iran in der Lage, sich erheblichen Einfluss im Mittleren Osten, insbesondere im Irak, im Libanon und in anderen Staaten der Region zu sichern.«[ii]

Neben der Einbindung in die »Achse des Widerstands« muss zum Verständnis der Ausgangslage in Syrien das Verhältnis zwischen Moskau und dem Baath-Regime betrachtet werden. Die russisch-syrischen Beziehungen waren zu Beginn der 2000er Jahre nicht so rosig, wie es aus heutiger Sicht im Rückblick erscheinen mag. Moskau befand sich noch in einem Prozess der Annäherung an die »westliche Wertegemeinschaft«.

Zwar waren traditionelle Verbindungen zu Syrien noch aus der Sowjetzeit geblieben – unter anderem in Form von 3,7 Milliarden US-Dollar Schulden, die Damaskus beim Kreml hatte (und die später im Austausch gegen die Zusage gemeinsamer Wirtschaftsprojekte teilweise erlassen wurden). Doch war das Handelsvolumen nicht allzu bedeutend, und auch die Waffenlieferungen, einer der wichtigsten Sektoren der Zusammenarbeit, blieben noch relativ begrenzt. Dies änderte sich im Jahr 2005, als sich die »russisch-syrischen Beziehungen dramatisch verbesserten«, wie der Russland-Experte Mark N. Katz in einer Studie für die Middle East Review of International Affairs 2006 bilanzierte.[iii]

Bis zum Beginn des Syrien-Krieges festigten sich die Verbindungen zwischen Damaskus und Moskau. Mit der Marinebasis Tartus verfügt Russland in Syrien über den einzigen Stützpunkt für seine Kriegsschiffe im Mittelmeer. Die Regierung Baschar Al-Assads kauft vor allem Rüstungsgüter beständig in Russland. Und zur Ausbeutung von Rohstoffvorkommen bestehen lukrative Milliardenverträge mit russischen Unternehmen.

Zudem hatte sich bereits vor der militärischen Eskalation ein Ringen um Syrien zwischen zwei bedeutenden Exporteuren von Erdgas abgezeichnet: Katar wollte eine Pipeline über Saudi-Arabien, Syrien und die Türkei nach Europa legen. Das Projekt wurde von Damaskus abgelehnt zugunsten eines konkurrierenden Vorhabens: einer Pipeline aus dem Iran über den Irak und Syrien. Wenig überraschend sprachen sich die USA für das erste, Russland für das zweite Projekt aus. Damaskus entschied sich 2011 für die iranische Variante. Wegen der weitreichenden Implikationen der beiden Pipelineprojekte und der »scharf entgegengesetzten« Interessen Washingtons und Moskaus in dieser Frage sprechen Mitchell A. Orenstein und George Romer in einer Analyse für Foreign Affairs sogar von »Syriens Gaskrieg«.[iv]

Gleichwohl kann die Vehemenz des russischen Eintretens für den Verbleib Assads nicht völlig verstanden werden, ohne auch vorhergegangene Interventionen in Betracht zu ziehen: Bereits der Sturz Muammar Al-Ghaddafis in Libyen beeinträchtigte Moskaus Interessen in der Region. Der russische Außenminister Sergej Lawrow sprach damals von einem »Kreuzzug« des Westens und der zunehmenden Tendenz zur Einmischung in anderer Länder Angelegenheiten. Und auch in Osteuropa erreichte das Vorrücken der NATO gegen Russland in den vergangenen Jahren ein neues Niveau.

USA: Milliarden für Milizen

Als im Jahr 2011 in Syrien – durchaus aus »internen« wirtschaftlichen wie politischen Gründen – Proteste gegen die autoritäre, zunehmend neoliberale Herrschaft Baschar Al-Assads begannen, bezog der Westen früh Position. »Assad muss weg«, lautete die Losung. Dass es sich dabei nicht um eine aus »humanitären« Gründen erhobene Forderung handelte, zeigt ein Vergleich mit anderen Regimen der Region – etwa der Türkei, Bahrains oder Saudi-Arabiens –, deren Polizei- und Militärkräfte in den vergangenen Jahren noch grausamer gegen Oppositionelle vorgingen als der syrische Staat zu Beginn der Revolte: Nie wurde hier der Ruf nach Sanktionen, Rücktritt oder gar militärischem Eingreifen laut.

Die Entschlossenheit der Vereinigten Staaten und ihrer internationalen wie regionalen Partner, den syrischen Präsidenten zu stürzen, liegt unmittelbar in der Rolle Syriens für die antiwestliche Achse und als Partner Moskaus begründet. Für das Greater-Middle-East-Project, das Vorhaben der Umgestaltung des gesamten Mittleren Ostens nach westlichen Vorgaben, stellte Damaskus ein Hindernis dar.

Und: Die Schwächung Syriens bedeutete zugleich einen schweren Schlag für seine Verbündeten. »Während die Regierung Baschar Al-Assads wankt, wird Syrien zur Achillesferse des Iran. Der Iran hat eine große Menge an Ressourcen in das Land gepumpt«, stellte der ehemalige Chef des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad, Efraim Halevy, schon 2012 in einem Kommentar für die New York Times fest. Vom Fall Assads erhoffte sich Halevy, dass »die gesamten Kräfteverhältnisse in der Region sich verändern werden«: Hisbollah und Hamas würden geschwächt, und das »iranische Volk könnte einmal mehr gegen das Regime aufstehen, das ihm so viel Schmerz und Leid gebracht hat«. Neben der Ukraine bildet Syrien zudem einen wichtigen Schauplatz der Auseinandersetzung des Westens mit einem selbstbewusster werdenden russischen Imperialismus.

Aus diesen Gründen haben die USA riesige Summen in unterschiedliche Rebellenfraktionen gesteckt, sie militärisch ausgebildet und mit Waffen versorgt. Im Juni 2015 berichtete die Washington Post, dass die geheimen Mittel, die allein die CIA für Operationen in Syrien ausgebe, etwa eine Milliarde US-Dollar jährlich betragen. Es handle sich damit »um eine der größten verdeckten Operationen« des Dienstes.[v] »Anders gesagt: Die USA haben einen echten Krieg gegen Syrien begonnen, und nur wenige Amerikaner haben das überhaupt mitbekommen«, kommentiert Patrick Higgins im linken Jacobin Magazine.[vi]

Waffen und Gelder an »Rebellen« flossen nicht alleine von der CIA. Andere Dienste und Stellen in den Vereinigten Staaten wie etwa das Verteidigungsministerium (DoD) sponserten ebenfalls. Dazu kommen Zuwendungen aus den Golfmonarchien, der Türkei, Frankreich und Großbritannien.

Das Gros der Mittel diente einem Vorhaben: Wollte man Baschar Al-Assad ohne eigene »Boots on the ground« (Stiefel auf dem Boden) beseitigen, musste eine zuverlässige, vereinheitlichte Rebellenkraft aufgebaut werden, die militärisch handlungsfähig und politisch vertrauenswürdig ist. Den Idealfall – der freilich bislang nie eintrat – beschrieb der ehemalige CIA-Analyst Kenneth M. Pollack für den US-Thinktank »Brookings Institution« unter dem Titel »Eine bessere Armee der syrischen Opposition aufbauen«.[vii]

Die »Neue Syrische Armee« (NSA) – die »Syrien regieren soll, wenn der Krieg vorbei ist« – müsse »prinzipiell verschieden« von der »Freien Syrischen Armee« (FSA) sein, diesem »totgeborenen und lächerlich gemachten Amalgam«, so Pollack. In der NSA solle eine strikte militärische Hierarchie herrschen, und die verschiedenen religiösen, ethnischen und sozialen Identitäten dürften keine Rolle spielen. Das müsse nicht heißen, dass die Rekruten säkular sein sollen. Sie können »sogar tiefreligiös sein, auch salafistisch«, solange sie »professionell« handelten und sich an den »Code of conduct« (die Verhaltensregeln) der Armee hielten.

Aufgebaut werde diese Armee zunächst »am besten nicht in Syrien«, sondern in Nachbarländern wie der Türkei oder Jordanien. Als Armee solle die NSA »apolitisch« sein, wenn überhaupt, dann nur an »syrischem Nationalismus« orientiert. Die aus mehreren zehntausend Kämpfern bestehende Armee solle dann logistisch sowie durch Luftschläge und möglicherweise eine Flugverbotszone – um die Möglichkeiten Russlands und des Irans einzuschränken – unterstützt werden.

Der Vorschlag stammt aus dem Oktober 2014, und bekanntlich wurde eine solche Armee trotz einiger Bemühungen bislang nicht geschaffen. Die Chancen, dass das noch geschieht, stehen schlecht. Statt dessen nahmen nach dem Scheitern wilder Versuche, alle möglichen Gruppen zu fördern, die irgendwie gegen Assad standen, innerhalb der NATO zwei unterschiedliche Strategien Gestalt an.

Die eine Linie ist eng mit der Außenpolitik der Türkei verbunden und wurde nach dem Einmarsch türkischer Truppen in die syrische Grenzstadt Dscharabulus Ende August offen sichtbar: Die AKP-Regierung setzt auf die Unterstützung einer breiten Palette sunnitischer Dschihadistengruppen, die sie zusammen mit vom türkischen Geheimdienst gelenkten Turkmenen-Milizen zu einer einheitlichen Kraft zusammenschließen und als Proxy, also als Stellvertreter, in Syrien einsetzen will. Der Großteil der beteiligten Organisationen[viii] kämpft für ein islamisches Staatswesen in Syrien auf Grundlage der Scharia. Ankara will sie gegen seine zwei Feinde in Syrien zu Felde führen: Baschar Al-Assad und die Kräfte der kurdischen Befreiungsbewegung rund um die Partei der Demokratischen Union (PYD) und ihre Volksverteidigungseinheiten (YPG).

Dieses Vorgehen unterscheidet sich von der Strategie Washingtons. Zwar unterstützen auch die USA immer noch FSA-Gruppen und dschihadistische Fraktionen. Doch hat sich das Hauptaugenmerk auf die YPG und die mit ihnen verbündeten »Demokratischen Kräfte Syriens« (SDF) verschoben. Die USA fliegen massive Luftangriffe zur Unterstützung der kurdischen Milizen, bilden ihre Kämpfer aus, liefern Logistik und sind selbst mit Spezialkräften an der Seite der Kurden vertreten. Sprecher Washingtons schwärmen von SDF und YPG als »unseren Alliierten« in Syrien, hochrangige Militärs und Politiker sind regelmäßig im kurdischen Autonomiegebiet Rojava zu Gast.

»Handlanger« des Imperialismus?

Die Zusammenarbeit mit dem US-Imperialismus hat den kurdischen Kräften aus einigen antiimperialistischen Kreisen den Vorwurf eingetragen, sich zum »Handlanger« der USA in der Region zu machen. Sieht man sich die konkrete Situation allerdings genauer an, so wird schnell klar, dass die Anschuldigungen (bislang) unbegründet sind und meist selbst einem sehr verkürzten Verständnis von Antiimperialismus entspringen, das im Grunde eher moralisierend als politisch ist.

Vielmehr verhält es sich so, dass die kurdische Bewegung rund um die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die syrisch-kurdische PYD und ihre bewaffneten Kräfte YPG die einzige wirkmächtige Kraft in Syrien sind, die zum einen eine politische Idee vertritt, die für das gesamte Land – also jenseits konfessioneller und ethnischer Trennlinien – eine mögliche gesellschaftliche Alternative entwirft. Zum anderen sind die kurdischen Parteien und Verbände die einzigen, deren Inhalte in irgendeiner Weise als Bezugspunkt für die internationalistische Linke gelten können: Rätedemokratie, Geschlechtergerechtigkeit und Ablehnung rassistischer wie religiöser Diskriminierung. Sozialistisch in ihrer Gesamtheit sind sie zwar nicht, doch gibt es in ihnen sozialistische, anarchistische und kommunistische Strömungen.

Erscheint so die kurdische Bewegung als der »logische« Bezugspunkt der internationalen Linken (und ist dies ja auch in der Tat für zahlreiche kommunistische, anarchistische und sozialistische Gruppen weltweit), so bemüht sich eine Minderheit um ihre Diffamierung als »proimperialistische« Stellvertreterkräfte. Diese Auffassung ignoriert vollständig die zwischenimperialistischen Widersprüche in Syrien, die USA (und Israel) werden als omnipotente globale Strippenzieher phantasiert, und die Frontstellung gegen diese beiden Länder ist das einzige Kriterium zur Bewertung eines bestimmten Akteurs.

Gegen diese verkürzte Auffassung haben sich eine Reihe kurdischer und türkischer Sozialisten zu Wort gemeldet: »Kollaboration ist nicht die Annahme militärischer Hilfe während der Bedrohung durch ein Massaker, sondern das Eintreten in imperialistische Abhängigkeit und koloniale Beziehungen«, erinnert etwa Ridvan Turan in der kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem. »Zu behaupten, dass die Annahme von Waffen diese Bedeutung habe, ist eine vollständige Absage an den Klassenkampf. Der Charakter solcher Beziehungen wird nicht in einem ›Moment‹ definiert, sondern im Laufe eines ›Prozesses‹.« [ix]

Notwendige Gratwanderung

Turan bemüht einen Vergleich: »Denkt daran, dass es Lenins Transport aus der Schweiz nach St. Petersburg mit der nötigen materiellen Unterstützung durch den deutschen Imperialismus war, der zu einem der besten Momente des Ersten Weltkriegs führte.« Lenin nutzte Interessenkonflikte zwischen imperialistischen Mächten für seine eigenen Zwecke.

Im Grunde ist es genau das, was die kurdische Bewegung in Syrien tut. Aus den Kräfteverhältnissen zwischen den verschiedenen imperialistischen Mächten, die im »Great Game« um Syrien mitspielen, hat sich für die einzige größere progressive Kraft in diesem Krieg eine Chance eröffnet. PYD und YPG erkämpften sich zunächst eine starke Position in ihren Kerngebieten und suchten dann mit zentralen Akteuren ein stabiles Verhältnis: Sie eskalierten den Konflikt mit dem Assad-Regime nicht, arbeiteten sogar, wo es ihnen nützte, mit Damaskus zusammen. Sie setzen nicht allein auf die USA, sondern sind auch um ein gutes Verhältnis zu Russland bemüht und pflegen dementsprechend diplomatische Kontakte.

Diese taktisch kluge Politik hat ein Ziel: Die zwei Kräfte, die der Entwicklung des kurdischen Projekts am feindlichsten gegenüberstehen – dschihadistische Fraktionen inklusive IS sowie die Türkei – daran zu hindern, die Fortschritte des Prozesses in Rojava zu beseitigen. Als ich vor kurzem mit einer der höchsten Repräsentantinnen der PKK in den Kandil-Bergen, Bese Hozat, sprach, erklärte sie: »Wir vertrauen keiner der Mächte in der Region – weder Russland noch den USA noch sonst jemandem. Aber wir versuchen, Bündnisse zu schaffen, mit deren Hilfe wir unsere Politik durchsetzen können.« In der Tat ist dieses Vorgehen ohne sinnvolle Alternative: Die einzige andere Möglichkeit, die die Anhänger des verkürzten »Antiimperialismus« der kurdischen Bewegung etwa während der Belagerung Kobanis hätten vorschlagen können, wäre, sich für die »reine Lehre« in Europa und den USA sitzender Kommentatoren umbringen zu lassen.

Gleichwohl ist das taktische Bündnis mit imperialistischen Mächten immer eine Gratwanderung. Die USA unterstützen die Kurden ja nicht aus Nächstenliebe, sondern um ihre eigenen Interessen zur Geltung zu bringen. Daraus resultiert das Spannungsfeld, in dem die kurdischen Kräfte agieren müssen: Während sie auf der einen Seite die Unterstützung der USA annehmen, müssen sie auf der anderen Versuche Washingtons, sie zu willigen Kollaborateuren zu machen, zurückweisen. Bislang ist PYD und YPG genau das gelungen: Sie haben sich der Eingliederung in die FSA (als diese noch schlagkräftiger war) widersetzt, ebenso dem Beitritt zum proimperialistischen »Nationalkongress Syrischer Kurden« (ENKS). Sie haben – etwa bei der Offensive auf Manbidsch – entgegen den Prioritäten der USA eigene militärische Ziele ausgewählt und verfolgt. Niemals haben sie ihr freundschaftliches Verhältnis zur in den USA wie in Europa verbotenen und verfolgten PKK in Frage gestellt, ebensowenig das Festhalten am alternativen Gesellschaftsprojekt des »demokratischen Konföderalismus«.

Internationale Solidarität

Kann man den Kurden bislang also keineswegs irgendeine »Kollaboration« vorwerfen, so zeichnet sich dennoch im imperialistischen Kräftediagramm immer mehr die Brüchigkeit diverser Bündnisse ab. Die erneute Annäherung von Russland an die Türkei sowie der von den USA unterstützte Einmarsch türkischer Truppen nach Syrien könnten eine Dynamik anstoßen, die es auch für PYD und YPG schwieriger machen wird, ihre taktische Gratwanderung fortzusetzen.

Doch gerade deshalb sind direkte Unterstützung durch Internationalisten sowie öffentlicher Druck auch in den imperialistischen Kernländern wichtiger denn je. Das Scheitern des demokratischen Autonomieprojektes in Rojava wäre ein schwerer Schlag für eine sich als antiimperialistisch verstehende Linke. Denn letztlich muss jeder, der versucht, mit der Hegemonie der USA, Frankreichs, Russlands oder der Türkei in der Region zu brechen, eine politische Idee vorschlagen, die zumindest in der Theorie eine eigenständige Entwicklung ermöglicht.

Die kurdische Bewegung verfügt über so eine Idee, die zudem noch für eine sozialistische Entwicklung hin offen ist. Weder Assad noch die Hisbollah, der Iran oder andere Lieblingsprojektionsflächen einiger »Antiimperialisten« haben eine vergleichbare Vision gesellschaftlicher Umgestaltung. Wenn also die Kurden scheitern, wird auch der Kampf um eine selbständige, autonome Entwicklung der gesamten Region zurückgeworfen.

Quelle: Junge Welt vom 10. September 2016

 

 

[i] Charles Lister: The Syrian Jihad. Al-Qaeda, The Islamic State and the Evolution of an Insurgency, London 2015

[ii] https://www.wilsoncenter.org/sites/default/file/iran_syria_crossroads_fall_tehran_damascus_axis.pdf

[iii] http://www.rubincenter.org/meria/2006/03/Katz.pdf

[iv] https://www.foreignaffairs.com/articles/syria/2015-10-14/putins-gas-attack

[v] https://www.washingtonpost.com/world/national-security/lawmakers-move-to-curb-1-billion-cia-program-to-train-syrian-rebels/2015/06/12/b0f45a9e-1114-11e5-adec-e82f8395c032_story.html

[vi] https://www.jacobinmag.com/2015/08/syria-civil-war-nato-military-intervention/

[vii] https://www.brookings.edu/wp-content/uploads/2016/06/Building-a-Better-Syrian-Armyweb.pdf

[viii] Dabei sind unter anderem: Ahrar Al-Scham, Harka Nur Al-Din Al-Senki, Sultan-Murad-Brigaden, Dschabha Al-Schamija, Dschaisch Al-Tahrir und Failak Al-Scham

[ix] Übersetzt auf: https://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/pressekurdturk/2014/44/15.htm

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