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Demos gegen Rechts: Für welche Demokratie steht die SPD?

Eingereicht on 6. Februar 2024 – 10:53

Hans-Peter Waldrich. Ironie der SPD: Scholz feiert Demokratie, während seine Partei sie aushöhlt. Selbst wenn sie diesen Fehler einsieht, wird es wohl zu spät sein. Ein Zwischenruf.

Olaf Scholz lobt die Demonstrationen für Demokratie und gegen Rechts. Doch es wird lange dauern, bis Demokratie, aber auch der Gedanke der Menschenrechte wieder im Zusammenhang des Sozialen gedacht werden können.

Scholz und Demokratiebewegung: Ein langer Weg

Die Demonstrationen zurzeit zeigen, dass fast niemand mehr zu wissen scheint, wer eigentlich hauptverantwortlich für die sich immer weiter ausbreitende Sympathie für den Rechtspopulismus ist. In Deutschland ist es leider vor allem auch die Sozialdemokratie.

Blicken wir zurück: 1869 wurde die SPD gegründet. Seit 1890 nennt sie sich „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“. Sie ist damit die älteste der deutschen Parteien. Als sie damals antrat, berief sie sich auf eine gewissermaßen klassische Auffassung von Demokratie.

Demokratie: Mehr als nur Volksherrschaft

Der Begriff bezieht sich auf den „Demos“, was altgriechisch einfach „Volk“ oder „Staatsvolk“ bedeutet. Demokratie war also Volksherrschaft. Im Deutschen Kaiserreich ein revolutionärer Gedanke. Und das übrigens heute noch.

Nun bitte keine rechtspopulistischen Missverständnisse! Man kann sich auf das „Volk“ berufen, ganz ohne ein Demokrat zu sein. Gerne wird durch solchen Missbrauch der Rechtsstaat ausgehebelt. In Polen hat das die dortige PiS-Partei versucht, in Israel tut es Netanjahu.

Das „Volk“ wird dabei gegen die Gerichte in Anschlag gebracht, vorwiegend die Verfassungsgerichte. Sind die auf Regierungskurs getrimmt, können die Populisten tun, was sie wollen. Sofern Trump überhaupt ein Konzept hat, wird er es ähnlich sehen.

Die SPD und der freie Volksstaat

Damit hatte die Demokratievorstellung der alten SPD nichts zu tun. Stattdessen war von dem „freien Volksstaat“ die Rede. Freilich gab es gegenüber der heutigen SPD-Auffassung einen entscheidenden Unterschied: Demokratie und Freiheit konnte man sich nur jenseits des Kapitalismus vorstellen.

Frei würde der „Volksstaat“ nur sein können, wenn in ihm nicht das große Geld, sondern die Bürgerinnen und Bürger das Sagen haben.

Nehmen wir als Beispiel für diesen Ansatz den Mitbegründer der SPD, Wilhelm Liebknecht. 1826 in Gießen geboren, war er über Jahrzehnte einer der aktivsten sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten und über lange Zeit hinweg Chefredakteur des „Vorwärts“, dem Parteiorgan der SPD, das auch heute noch existiert.

Seine Beerdigung im Jahr 1900 wurde zur größten Massenversammlung seit dem Tod Kaiser Wilhelms I. zwölf Jahre zuvor. Die SPD war damals „die“ Partei der Arbeiter und der kleinen Leute.

Die Vision von einer demokratischen Wirtschaft

Zentral nicht nur für Liebknechts Auffassungen von Demokratie, sondern überhaupt für die SPD war die Demokratisierung der Wirtschaft. Die Formel hieß: Sozialismus und Demokratie sind das Gleiche. „An die Stelle der Arbeitgeber“ – so Wilhelm Liebknecht 1894 – „und ihrer demütig sich fügenden oder in Rebellion befindlichen Lohnsklaven: freie Genossen! … Unser Ziel ist: der freie Volksstaat mit ökonomischer und politischer Gleichberechtigung; die freie Gesellschaft mit genossenschaftlicher Arbeit.“1

Die gesamte Gesellschaft sollte also demokratisiert werden, nicht nur ihr politischer Teil. Später sprach man von Wirtschafts- oder sozialer Demokratie.2

Genossenschaftlich sollte die Wirtschaft auf der Selbstverwaltung durch die Arbeitenden beruhen. Das war nicht nur eine Forderung unter vielen, sondern der zentrale SPD-Programmpunkt überhaupt. Demokratie also ohne internationale Konzerne, Finanzwirtschaft und die Verfügungsmacht der Bosse. Vor allem aber: Demokratie ohne eine Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich.

SPD-Programme im Wandel der Zeit

Liest man heute die älteren Parteiprogramme der SPD, das richtungsweisende Erfurter Programm von 1891 oder das Heidelberger Programm von 1925, wundert man sich. Sind das tatsächlich Programme der gleichen Partei, die sich heute noch SPD nennt?

Andererseits kommt es, wie wir wissen, nicht so sehr auf Programme an als auf das, was Parteien tun, wenn sie Regierungsmacht haben, aber auch sonst. Viele erinnern sich an die mutige Heldentat des Reichstagsabgeordneten und SPD-Vorsitzenden Otto Wels. Am 23. März 1933 riskierte er sein Leben, als er im Deutschen Reichstag die Zustimmung der SPD zum sogenannten Ermächtigungsgesetz verweigerte.

Und das trotz der Anwesenheit von SA-Männern im Saal. „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Willy Brand berichtete später, Wels habe für alle Fälle eine Giftampulle dabeigehabt, um sich bei einer eventuellen Verhaftung das Leben zu nehmen.

Kapitalismus, Faschismus und die SPD

Wegen ihres konsequenten Einstehens für die Weimarer Republik war die SPD überzeugt, nach 1945 in Westdeutschland die Regierungsmehrheit stellen zu können. Ihr Parteichef Kurt Schumacher hatte während der zwölf Jahre der Nazi-Diktatur fast zehn Jahre in Konzentrationslagern und verschiedenen Gefängnissen zugebracht.3

Er war Antikommunist und entschiedener Gegner dessen, was die Machthaber in Ostdeutschland „Diktatur des Proletariats“ nannten. Eines betonte er aber immer wieder: Die Nazis waren nur zur Macht gelangt, weil das große Kapital Hitler als Rettung vor der Enteignung betrachtete und sich entschloss, ihn zu unterstützen.

Die Illusion der Demokratie

Der Faschismus – so überhaupt eine ehemals unter Sozialdemokraten verbreitete Überzeugung – war die Konsequenz einer gespaltenen und zutiefst verängstigten Gesellschaft. Die Demokratie sei erst endgültig gesichert, wenn die Macht der Konzerne und des großen Geldes gebrochen wird. Der Kapitalismus erzeuge den Rechtsradikalismus.4 Das kann gerade gegenwärtig als gesichert gelten.

Benachteiligte und prekarisierte Menschen erliegen – so etwa der Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer – der „autoritären Versuchung“.5

SPD: Ein Chamäleon in der Politik

Von alledem ist heute nicht mehr die Rede. Im Gegenteil: Die SPD verfolgt politische Ziele, die früher von der gleichen Partei übereinstimmend heftig bekämpft worden wären. Die Geschichte der SPD nach 1945 kann als die Geschichte eines Chamäleons geschildert werden.

Verändert sich die Machtkonstellation der politisch dominanten Umgebung, verändern sich auch die politischen Vorstellungen dieser Partei. Stets geht es darum, an der Macht teilzunehmen und sei es unter Aufgabe der früher als unverzichtbar angesehenen Positionen.

Aus einem ursprünglich klassisch demokratischen oder radikaldemokratischen Ansatz wurde dadurch die Unterstützung der „Fassadendemokratie“. Eine Bezeichnung, die vielen älteren Sozialdemokraten gewiss gefallen hätte. Damals sprach man von „formaler Demokratie“. Rosa Luxemburg, die zunächst zum linken Flügel der SPD gehörte und sich dann von ihr trennte, sagte es 1918 so: Die formale Demokratie des Parlamentarismus ändere nichts an der Machtausübung des Kapitals. Sie spiegele die „süße Schale der Gleichheit und Freiheit“ nur vor und führe die Menschen in die Irre.6

Der bedeutende österreichische Theoretiker der Sozialdemokratie, Max Adler, Professor für Soziologie an der Wiener Universität, bezeichnete das gleiche Phänomen 1922 als „politische Demokratie“. Weil sie sich auf den Bereich des Politischen beschränke, sei sie eigentlich überhaupt keine Demokratie.7

Die heutige Anpassung an die übermächtigen Kapitalverhältnisse entspricht also – alt-sozialdemokratisch gesehen – der Preisgabe des wirtschaftlichen und vor allem auch des sozialen Aspekts der Demokratie. War ursprünglich der Name der SPD sehr treffend gewählt worden, so steht er nun für etwas, was man heute als „Fake“ bezeichnet.

Es existiert nicht, wird auch nicht gewollt oder gefordert, dient aber immer noch einigermaßen für Zwecke des Marketings. Denn viele Menschen verbinden Demokratie – in Europa verbreiteter als etwa in den USA – mit dem Gedanken des sozialen Ausgleichs. Auch wenn die Zahl der Wähler, die dieses Demokratieverständnis irrigerweise bei der SPD sucht, erheblich abgenommen hat.

Godesberger Programm: Eine Wendepunkt

Der erste Schritt in der Richtung einer Entkernung der alten Auffassungen nach Gründung der Bundesrepublik wurde 1959 in Bad Godesberg getan. Das dort entstandene Godesberger Programm erkennt zum ersten Mal in der Parteigeschichte das Privateigentum an Produktionsmitteln an, und damit die Machtbasis des ganz großen Geldes.

Der zweite Schritt, der dann die absolute Kehrtwende brachte, die eigentlich einem Salto Mortale entspricht, wurde mit der Kanzlerschaft Gerhards Schröders in einer Koalition mit den Grünen vollzogen (1998 – 2005). Auch die Grünen entledigten sich damals wichtiger Programmpunkte ihrer Anfänge.

Und wieder warf man Grundsätze über Bord, weil man sich den faktischen Machtverhältnissen andiente. Vorbereitet durch CDU/CSU und die Liberalen wurde der unterdessen beachtliche Machtzuwachs des großen Geldes hingenommen und erheblich ausgebaut.

SPD und Marktradikalismus

Zwischenzeitlich hatte etwa in Großbritannien und den USA die neoliberale Wende stattgefunden. Dabei handelte es sich um ein Projekt, bei dem nicht die Demokratie im Mittelpunkt steht, sondern der Markt, weshalb diese Richtung auch Marktradikalismus genannt wird.

Nicht von den Wählern wird erwartet, dass sie entscheiden, in welche Richtung es gehen soll, sondern von Investitions- und Kaufpräferenzen. Die Akteure des Gemeinwesens sah man nicht in den Bürgerinnen und Bürgern, sondern im privaten Geldeinsatz. Auf diese Weise kann das Gewicht einer politischen Option oft das Vieltausendfache eines Durchschnittsbürgers betragen.

Die gefährliche Verbindung von Marktradikalismus und Diktatur

Etwa in Chile wurde schon seit den 1970-Jahren deutlich, dass der Marktradikalismus ohne Weiteres mit Diktatur, und zwar im faschistischen Sinne verbunden werden konnte. In den Folterkellern des Systems unter dem Machthaber Augusto Pinochet wurden Regimegegner malträtiert, während die „freie“ Marktwirtschaft im Sinne der Bessergestellten Renditen abwarf und somit für die Wohlhabenden erfreuliche Vorteile brachte.

SPD und die Umverteilung von unten nach oben

In Deutschland wurde das größte Umverteilungsprogramm nach 1945 – und zwar eine Umverteilung von unten nach oben im Sinn des Marktradikalismus – ausgerechnet von einer SPD-Regierung forciert. Die Begeisterung der Reichen und Superreichen war natürlich groß. Eine Internationale der neuen Bereicherung war entstanden und wurde vor allem durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) vertreten, der etwa die Länder des Globalen Südens in die Zange nahm.8

Zugrunde lag der fundamentale Irrtum, man könne eine gesellschaftliche Spaltung herbeiführen und auf Dauer stellen, ohne dabei den Kern der Demokratie zu zerstören. Ein für Sozialdemokraten freilich höchst befremdlicher Irrweg.

Die verlorene Seele der Sozialdemokratie

Gewiss sind die Gründe, von den wichtigsten alten Überzeugungen Abschied zu nehmen oder sie nur noch vorzuspiegeln, nicht in der besonderen Boshaftigkeit von Sozialdemokraten zu suchen.

Man hatte mitbekommen, dass der Neoliberalismus das Glück aller versprach, wenn nur sämtliche Hemmungen für die private Kapitalakkumulation beseitigt würden. Marktradikalismus war international eine gängige Mode geworden, die von Vertretern von Denkfabriken oder Universitätsprofessoren vorgetragen wurde.

Während sozialdemokratische Spitzenpolitiker gläubig die Augen verdrehten, stand ihre ursprüngliche Klientel der eher einfachen Leute schließlich ohne politische Vertretung da. Erst gegenwärtig besichtigt man scheu das Trümmerfeld, das diese Zivilreligion hinterlassen hat.

Doch für die SPD scheint es, schaut man auf aktuelle Wählerprognosen, fürs Erste zu spät zu sein.

#Titelbild: Sozialdemokraten gegen die AfD, also die Folgen der eigenen Politik. Bild: Lucas Werkmeister, CC BY 4.0

Quelle: telepolis.de… vom 6. Februar 2024

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