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Globale Warenketten und die Schweiz

Eingereicht on 6. März 2024 – 12:10

Arman Spéth. Spätestens im Zuge der Coronapandemie ist die Bedeutung globaler Warenketten schlagartig ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Kaum ein Medium, das nicht über die gestörten Abläufe und deren Folgen berichtet. Eines wurde dabei klar: Die in den letzten Jahrzehnten erfolgte Verlagerung der Produktion in den Globalen Süden [1 hatte eine massive Fragmentierung der Produktionsschritte zur Folge und veränderte die ökonomische sowie die soziologische Struktur aller beteiligten Länder.

Der damit einhergehende Proletarisierungsprozess entfaltete seine Wirkung primär im Globalen Süden. Zahlreiche Länder des Globalen Südens avancierten zu globalen Produktionsknotenpunkten; China kam dabei die wichtigste Rolle zu, was dem Land den Namen «Werkstatt der Welt» bescherte. So lebten im Jahr 2010 beinahe 80 Prozent (oder 541 Millionen) aller Industriearbeiter:innen im Globalen Süden, gegenüber 53 Prozent im Jahr 1980 und 34 Prozent im Jahr 1950 (Smith 2016, 101) .

Die Ausweitung internationaler Warenketten wurde durch die Senkung der Handels- und Transportkosten begünstigt sowie durch Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologie, welche die Bereitstellung von Waren und Dienstleistungen über Grenzen hinweg erleichtert haben. Den grössten Einfluss hatte aber die Profitabilitätskrise entwickelter kapitalistischer Länder seit den späten 1960er-Jahren (Shaikh 2016, 731–733; Roberts 2016, 59–65) . Als eines der grossen Krisenlösungsmittel (neben den Angriffen auf die Arbeiter:innenbewegung im Globalen Norden) diente der Auslagerungsprozess in die peripheren Länder – mit zunehmender Geschwindigkeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Was das Kapital in der Peripherie vorfand, war ein grosser Pool billiger Arbeitskräfte sowie nicht konkurrenzfähiges heimisches Kapital (Foster/Chesney 2012, 103–155).

Der bürgerliche Ökonom Stephen Roach beschrieb die Auslagerungsprozesse treffend mit dem Begriff der globalen Arbeitsarbitrage (Roach 2004). Die globale Arbeitsarbitrage beschreibt die Bemühungen von Unternehmen, die Kosten zu senken und Profite zu steigern, indem sie höher entlohnte inländische Arbeitskräfte durch billigere ausländische Arbeitskräfte ersetzen – ohne Einbussen in der Produktivität.

Arbeitsarbitrage dürfte laut den Modellen der neoklassischen Wirtschaftslehre keine Beständigkeit auf den Märkten haben. So schreibt zum Beispiel Aymo Brunetti – Berner Professor und Verfasser eines der in der Schweiz meist verbreitetsten Hochschullehrbücher für Volkswirtschaft – auf Chinas Erfahrung referenzierend, dass der Lohn «in wettbewerbsintensiven Märkten durch seinen realen Gegenwert, also die Produktivität der Arbeitskräfte, bestimmt» wird (Brunetti 2017, 278) . Ähnlich sieht es der Ökonom Martin Wolf: «Entweder steigen die Reallöhne und die Produktivität pro Arbeiter:in lange Zeit nur langsam, oder die Reallöhne steigen schnell und die Produktivität pro Arbeiter:in ebenfalls» (Wolf 2005, 178, eigene Übersetzung) . Die Argumentation von Paul Krugman – weitgehend international anerkannter Doyen des Neokeynesianismus – beruht auf derselben Annahme: «In der realen Welt spiegeln die nationalen Lohnniveaus tatsächlich Produktivitätsunterschiede wider» (Krugman,/Obstfeld/Melitz 2019, 75) . Diese Auffassung ist common sense in der dominierenden Lehre der Wirtschaftswissenschaften.

Daran sind Zweifel angebracht: Denn die Ware Arbeitskraft ist in den meisten Fällen immobil, während das Kapital hohe Mobilität kennt. Anders als das Kapital können die Arbeiter:innen nicht beliebig Grenzen überschreiten und in Länder mit höheren Löhnen migrieren. Dies behindert die Lohnausgleichungsprozesse und macht die Arbeitsarbitrage zu einem beständigen Charaktermerkmal globaler Arbeitsteilung.

Hintergrund globaler Arbeitsarbitrage: Internationalisierung der Produktion

Die Internationalisierung der Produktion kennt zwei grundlegende Formen:ausländischer Direktinvestitionen (ADI) und Fremdvergaben (World Bank 2017). Beide Formen der Auslagerung sind in den letzten dreissig Jahren exponentiell gewachsen und haben das globale BIP -Wachstum, primär für die 1990er- und 2000er-Jahre, deutlich übertroffen (UNCTAD 2020, 123–24). Bei ADI handelt es sich um Investitionen eines Unternehmens mit  dem Zweck, eine Beteiligung an einem Unternehmen zu erwerben, das in einem anderen Land ansässig ist. Der Handel zwischen den durch Direktinvestitionen verbundenen Unternehmen wird innerbetrieblicher Handel genannt. Der Anteil der Direktinvestitionsströme in den Globalen Süden begann in den späten 1980ern langsam, aber stetig zu steigen. Im Jahr 2010 flossen erstmals mehr als die Hälfte aller weltweiten Direktinvestitionen nicht in kapitalistische Zentren (UNCTAD 2011, 3). Von Fremdvergaben ist weiter unten die Rede.

Lenin interpretierte im Buch Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus den steigenden Kapitalexport (wobei er primär von Direktinvestitionen ausging) aus den kapitalistischen Zentren in die Länder der Peripherie als eine der «wesentlichsten ökonomischen Grundlagen des Imperialismus» (Lenin 1988 [1917], 114) . Kapitalexport erfolge aufgrund des Mangels an profitablen Investitionsmöglichkeiten im Inland. Hingegen biete die Peripherie schwache Konkurrenz, billige Arbeitskräfte und somit hohe Profite.

In der auf Lenin aufbauenden Debatte um die Rolle der Direktinvestitionen als Mittel des Aufbaus imperialistischer Beziehungen wurde viel Kritik geübt. Üblicherweise wird dabei hervorgehoben, dass die Direktinvestitionen mehrheitlich zwischen den Ländern des Globalen Nordens fliessen (zumindest bis zum Jahr 2010) (Heinrich 2010, 336) . Stimmt: Direktinvestitionen zwischen den Zentrumsländern sind nicht notwendig ein Indiz für imperialistische Beziehungen; zwischen Deutschland und der Schweiz fliesst viel Kapital und trotzdem ist kein ungleicher Tausch zwischen ihnen erkennbar.

Es muss aber zusätzlich die innere Differenzierung verschiedener Formen von Direktinvestitionen beachtet werden. Der im marxistischen Sinne produktive Kapitalexport in Form von «Greenfield ADI » (Investitionen in neue Anlagen) fliesst immer noch primär aus dem Zentrum in die peripheren Länder, während die Direktinvestitionsströme innerhalb des Globalen Nordens grösstenteils aus «Brownfield ADI » bestehen (primär Mergers & Acquisitions) [2] und zumeist als nicht wertproduzierend charakterisiert werden können (Smith 2016, 70–75; Foster and McChesney 2012, 103–115) . Für die Untersuchung der Direktinvestitionen im Kontext globaler Arbeitsarbitrage sind die «Greenfield ADI » deshalb entscheidend. Sie schaffen die Grundlage für (Über)Ausbeutung der Arbeitskräfte im Globalen Süden.

Der Globale Süden erhält den grössten Teil der «Greenfield ADI »: zwischen 2003 und 2007 flossen 59 Prozent aller «Greenfield ADI » in die Peripherie und zwischen 2008 und 2013 waren es nunmehr 69 Prozent (UNCTAD 2015, 12–14; UNCTAD 2020, 15–18).

Abbildung 1 präsentiert Pro-Kopf-Zahlen angekündigter «Greenfield ADI » für eine Reihe von Schlüsselländern aus dem Globalen Norden ( USA, Grossbritannien, Deutschland, Schweiz) und Globalen Süden (China, Indien, Mexiko und Türkei). Die Auswahl peripherer Länder beschränkt sich auf jene, die exemplarisch für die Entwicklungspolitik exportorientierter Industrialisierung [3] stehen.

Es ist eine klare Trennung zwischen den Ländern des Globalen Nordens und des Globalen Südens erkennbar, wobei die Schweiz mit einem Betrag pro Person von beinahe 2000 Dollar unter den ausgewählten Ländern alleiniger Spitzenreiter ist. Bei den Ländern des Globalen Südens weist die Türkei mit einem Betrag pro Kopf von 39 Dollar im Jahr 2020 die höchste Rate auf, gefolgt von China mit 33 Dollar. Diese Ergebnisse offenbaren, wie aufgeblasen die Debatten um den scheinbar stark um sich greifenden ökonomischen Einfluss Chinas sind. Verglichen mit den Ländern des Globalen Nordens – allen voran der Schweiz –, sind die chinesischen «Greenfield ADI » marginal.

Um beurteilen zu können, wie sich die Internationalisierung der Produktion in der neoliberalen Ära entwickelt hat, reicht es nicht mehr aus, nur ADI zu betrachten. Denn zunehmend werden die Verflechtungen durch Fremdvergaben organisiert. International agierende Unternehmen können eine direkte innerbetriebliche Beziehung zu einer im Ausland tätigen Tochtergesellschaft in eine Beziehung zu einem unabhängigen Lieferanten umwandeln, ohne die Arbeitsbedingungen, die Arbeitsprozesse, die Preise und die somit erzielten Profite zu ändern. Was sich profan anhört, hat grosse Wirkung auf die Analyse internationaler Verflechtungen und somit auf globale Werttransferströme. Wenn ein Unternehmen Profite aus den ADI zum Hauptsitz zurückgeführt hat, wird das festgehalten und buchhalterisch erfasst (mit Ausnahme illegaler Ströme). Im Falle einer Umwandlung der Handelsbeziehung zu Fremdvergaben, würde ein vormals sichtbarer Süd-Nord-Fluss von der Tochtergesellschaft zur Konzernzentrale repatriierter Profite spurlos verschwinden – selbst wenn in Folge der Umwandlung der Beziehung die Produktionskosten sinken und die Profite der Zentrale dank tieferer Einkaufspreise sich erhöhen würden. Die Profite des Leitunternehmens scheinen dann durch ihre eigenen wertschöpfenden Aktivitäten in den Ländern des Globalen Nordens zu entstehen (Smith 2016, 68–101). Mit den Fremdvergaben nimmt der Kapitalexport nunmehr subtilere Wege an.

Die Erfassung von Daten zur Entwicklung der Fremdvergaben ist mit Schwierigkeiten verbunden (Milberg 2008) . Wo vorhanden, sind es Schätzungen zu den Entwicklungen in den USA . Da kann festgestellt werden, dass zwischen 2002 und 2014 mehr als die Hälfte (57 Prozent) des internationalen Handels durch Fremdvergaben erfolgte (World Bank 2017, 63–65) . Globale Schätzungen gehen von Verkäufen durch Fremdvergaben im Wert von zwei Billionen US -Dollar im Jahr 2010 aus (UNCTAD 2011, 132) .

Der auf Globalisierungsprozesse spezialisierte Ökonom William Milberg schlägt aufgrund der Schwierigkeiten der Erfassung der Internationalisierung der Produktion (insbesondere der Fremdvergaben) vor, alle Importe aus Billiglohnländern als Teil des Auslagerungsprozesses der Unternehmen aus den Zentrumsländern zu erfassen (Milberg 2008, 425). Dieser Ansatz hat aber zur Folge, dass nicht nur die Fremdvergaben erfasst werden, sondern auch der grenzübergreifende innerbetriebliche Handel – eine genaue Trennung zwischen den zwei Wegen ist nicht möglich.

Milbergs Ansatz folgend, wurde die Anzahl Vollzeitbeschäftigter im verarbeitenden Gewerbe berechnet, die in China, Indien, Mexiko und der Türkei exklusiv für den Export in die Schweiz arbeiten – unabhängig davon, ob in Schweizer Tochterfirmen tätig oder von formal unabhängigen Unternehmen angestellt (Abbildung 2). Die Ergebnisse umfassen alle Werktätigen im verarbeitenden Gewerbe, die für die Herstellung Schweizer Importe ihre Arbeitskraft verausgabt haben. Als Datengrundlage diente die von der Europäischen Kommission initiierte World Input Output Database (WIOD).

Die Anzahl Arbeiter:innen aus China, Indien, Mexiko und der Türkei, die für den exklusiven Export in die Schweiz arbeiten, nahm einen wellenartigen Verlauf, wobei die letzte Welle auf mehr als 800 000 Vollzeitbeschäftigte hochstieg. Als Vergleich: Im industriellen Sektor der Schweiz wurden 2014 eine Million Personen vollzeitbeschäftigt (Bundesamt für Statistik 2022).

Besonders auffällig ist die Zunahme in China und Indien. Waren in Indien im Jahr 2000 noch knapp 290 000 Arbeiter:innen für den exklusiven Export in die Schweiz beschäftigt, stieg diese Zahl auf knapp 345 000 im Jahr 2014. In China waren es im Jahr 2000 noch etwas mehr als 180 000 Werktätige, im Jahr 2014 bereits 380 000. Dieser Anstieg widerspiegelt die wachsende Bedeutung des süd- und ostasiatischen Raumes für die internationalen Arbeitsteilung.

Globale Arbeitsarbitrage: Methode und Resultate

Die gesamte Forschungstradition der klassischen politischen Ökonomie sieht die Rolle der Arbeitskraft als konstitutiv für die Organisation der Wirtschaft. Marx untersuchte den Kapitalismus im «idealen Durchschnitt» (Heinrich 2008, 212–225) . Er ging vom national freien Markt aus, in dem es weder Barrieren für die Arbeitskräfte noch für das Kapital gibt. Deshalb tendiert bei Marx der Kapitalismus zu einem Gleichgewicht, das durch eine identische Ausbeutungsrate der Arbeit in allen Wirtschaftsbereichen charakterisiert ist (Helmedag 2019, 266; Carchedi/Roberts 2021, 8). Dieser Punkt ist sehr entscheidend und spielt für die Frage der Charakterisierung der nunmehr wirklich globalisierten Produktion eine wichtige Rolle. Denn der Weltmarkt wird zwar durch die Internationalisierung des Kapitals gebildet, diese hebt aber die nationalen Grenzen nicht auf. Marx ging von der Tendenz zur Herausbildung eines Weltmarktes aus. Dieser ist aber bei aller Tendenz zur Homogenisierung kein homogener Raum, weil er sich aus zahlreichen verschiedenen Nationalstaaten zusammensetzt, die wiederum auf die von Marx aufgestellten Prämissen – wie die der identischen Ausbeutungsrate – verändernd wirken.

Die Untersuchung globaler Arbeitsarbitrage steht im engen Verhältnis zur Marxschen Theorie der Ausbeutung. Denn unterschiedlich hohe Entlohnungen der Beschäftigten bei gleicher Produktivität deuten einerseits auf Arbeitsarbitrage hin, andererseits auf unterschiedlich hohe Ausbeutungsraten (Suwandi/Foster/Jonna 2019, 56–57) .

Allfällige Arbeitsarbitrage und damit einhergehende Unterschiede in den Ausbeutungsraten lassen sich mithilfe der Berechnung international harmonisierter Lohnstückkosten eruieren (auf der Datengrundlage der WIOD). Die Lohnstückkosten setzen die Kosten der Arbeitskraft ins Verhältnis zu ihrer Produktivität. Kurz: Stundenentgelt eines Beschäftigten geteilt durch den Verkaufserlös pro Erwerbstätigen pro Stunde. Wenn sich die Entlohnung bei gleicher Produktivität unterscheidet, weisen unterschiedlich hohe Lohnstückkosten auf existierende Arbeitsarbitrage hin. Somit können tiefe Lohnstückkosten als Proxy für hohe Ausbeutungsraten gelesen werden sowie umgekehrt.

Abbildung 3 zeigt, dass die Lohnstückkosten in den Ländern des Globalen Südens tiefer sind als im Globalen Norden. Das belegt, dass zwischen Lohnentwicklung und Produktivität keine kausale Beziehung existiert. Die neoklassische Wirtschaftslehre mit ihrem Verständnis der Entlohnung nach jeweiliger «Faktorenproduktivität», die auch als Erklärung für internationale Lohnunterschiede herangebracht wird, stimmt mit den vorliegenden empirischen Ergebnissen nicht überein.

Die Unterschiede sind gross: die Lohnstückkosten von China, Indien, Mexiko und der Türkei sind durchschnittlich nur 58 Prozent so hoch wie die durchschnittlichen Lohnstückkosten der Schweiz, Deutschland und USA zusammen (siehe Abbildung 4). In diesen Ländern des Globalen Südens waren somit allein für den exklusiven Export in die Schweiz im Jahr 2014 etwas mehr als 800 000 Arbeiter:innen (im verarbeitenden Gewerbe) unter Bedingungen von höheren Ausbeutungsraten tätig [4].

Diskussion

Anhand der Lohnstückkosten wird ersichtlich, dass Arbeiter:innen aus China, Indien, Türkei und Mexiko im Vergleich zu ihren Mitstreiter:innen aus dem Globalen Norden unterbezahlt und somit für international agierendes Kapital besonders rentabel sind.

Auf dieser Grundlage vollzieht sich internationaler Werttransfer. Werttransfer ist immer dann gegeben, wenn «ein Teil des Mehrprodukts, das an einem Standort geschaffen wird, nicht an diesem Ort realisiert und akkumuliert wird, sondern den Surplus an einem anderen Ort erhöht» (Soja 1989, 115, zit. nach Fischer 2020, 46) . Einerseits wird dies durch die globalen firmeninternen Kanäle praktiziert (Clelland 2016) . Andererseits vollzieht sich der Werttransfer durch «anonyme» Prozesse auf dem Weltmarkt, genauer über die Transformation von Werten in Produktionspreise und damit einhergehender tendenzieller Angleichung globaler Profitraten (Emmanuel 1972; Amin 1976; Roberts 7; Carchedi 2021; Ricci 2021) .

Die Realität des internationalen Werttransfers bedeutet nicht, dass die Länder des Globalen Südens deshalb ökonomisch nicht wachsen können – Chinas Aufstieg beweist das Gegenteil. Jedoch bedeutet es einen Verlust an Werten für die Peripherie, die sonst «theoretisch für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes hätten reinvestiert werden können» (Hickel/Sullivan/Zoomkawala 2021,8, eigene Übersetzung). Auf der anderen Seite hat der Wertzuwachs basierend auf imperialistischen internationalen Beziehungen zur Folge, dass die Länder des Globalen Nordens ihre moderaten Wachstumsszahlen überhaupt erreichen und den Fall ihrer Profitabilität zumindest etwas verlangsamen konnten [5] – das gilt in besonderem Ausmass für die Schweiz, weil das in ihr ansässige Kapital im überproportionalen Ausmass international agiert (Carchedi/Roberts 2021, 6) .

Die vorgestellten empirischen Ergebnisse sind auch im Hinblick der zunehmenden Blockbildung auf dem internationalen Staatenparkett und dem daraus folgenden Versuch der Reorganisation der Warenketten gemäss geopolitischer Prioritäten von Interesse. Einerseits, weil ersichtlich wurde, dass die Kapitalien der Zentren – die Schweizer Unternehmen überproportional – von der globalen Arbeitsarbitrage stark profitieren: in den letzten Jahren allen voran von Chinas Arbeiter:innenklasse, die zu ersetzen ein schwieriges Unterfangen wird. Anderseits sind Zuflüsse von ausländischem Kapital, auch wenn sie letztendlich durch direkten und indirekten Werttransfer um ein Vielfaches zurückgezahlt werden, dennoch eine wichtige Quelle ökonomischer Entwicklung für die Länder des Globalen Südens – Millionen von Werktätigen sind an die in den Globalen Norden orientierte Exportindustrie gebunden.

Anmerkungen

[1] Globaler Süden, Peripherie und so weiter werden im vorliegenden Artikel als Synonym verwendet für die meisten developing economies nach UN-Definition; auch die Zuschreibungen Globaler Norden, kapitalistische Zentren und so weiter sind als Synonyme für die meisten developed economies nach UN-Definition zu lesen (UN 2012, 133–140). Es geht in diesem Artikel nicht um die exakte Zuordnung der Länder in die Kategorien Zentrum oder Peripherie – ein intuitives Verständnis reicht meistens schon aus; vielmehr wird ein Blick auf die Architektur der globalen politischen Ökonomie geworfen.

[2] Mergers and Acquisitions bezeichnen in der Regel Fusionen und/oder den Erwerb von Unternehmensanteilen.

[3] Die exportorientierte Strategie basiert auf dem Ausbau der für den Weltmarkt produzierenden Industrie. Kurz zusammengefasst, arbeitet diese Entwicklungsstrategie mit der Annahme, dass durch Kapitalimporte aus dem Ausland, Freihandel, Privatisierungen und Liberalisierung der Arbeitsmärkte die heimische Industrie gestärkt werden kann (Fischer 2015, 1-10). Die mit dem Weltmarkt verbundene, stark liberalisierte und somit dynamische Exportindustrie soll durch «spill over»-Effekte andere heimische Wirtschaftssektoren ankurbeln und positive Veränderungen anstossen (Cope 2019, 16–17). Nicht überall waren die Folgen exportorientierter Industrialisierung gleich (un)erfolgreich. Die Wirkungen fallen sehr unterschiedlich aus.

[4] Der internationale Werttransfer führt neben ökonomischen und sozialen Problemen auch zu methodischen Verzerrungen und dies zeigt sich exemplarisch bei der Berechnung der Lohnstückkosten. Denn die Berechnung von Lohnstückkosten beruhen auf Produktionspreisen, die den internationalen Werttransfer inkludieren und somit begrenzt aussagekräftige Daten als Ausgangslage haben (Graf u. a. 2020, 18). Die transferierten Werte werden letztlich von den international agierenden Kapitalien eingefangen und oft als BIP ihrer Heimatländer im Globalen Norden gezählt, ein Phänomen, das nicht nur die höheren Mehrwertraten im Globalen Süden verdeckt, sondern das eigene BIP vergrössert. Daraus folgt, dass die Ausbeutungsrate in den Ländern mit Werttransferverlust unterschätzt und in den Ländern mit Werttransfergewinn überschätzt wird (Carchedi/Roberts 2021, 20–21). John Smith spricht dabei von einer «GDP-Illusion» (Smith 2012, 86). Die öffentlich zur Verfügung stehenden Datenbanken drücken die reale Wertschöpfung somit verfälscht aus, weil sie nicht reale  Wertschöpfung widerspiegeln, sondern vielmehr den Prozess der Wertabschöpfung ausdrücken. Doch trotz dieses Missstandes konnten mithilfe von Lohnstückkosten höhere Mehrwertraten in den Ländern des Globalen Südens empirisch festgestellt werden. Dies deutet darauf hin, dass die realen Unterschiede zwischen Zentrum und Peripherie noch grösser sind, als sie mithilfe der WIOD Datenbanken gezeigt werden konnten.

[5] Nicht zu unterschätzen sind auch die inflationshemmenden Auswirkungen billiger Importe.

Literatur

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