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Krieg in Bergkarabach: „Es werden wahllos Wohngebiete angegriffen“

Eingereicht on 12. Oktober 2020 – 8:26

Seit dem 27. September wütet in der umstrittenen Region Bergkarabach der blutigste Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan seit Anfang der 1990er Jahre. Bewohnt fast ausschließlich von christlichen Armenier*innen, gehört die autonome Region nach völkerrechtlicher Lehrmeinung zu Aserbaidschan. Wir unterhielten uns mit Hovhannes Gevorkian über Ausmaß, Hintergründe und die Rolle wichtiger anderer Akteure des Krieges.

Hovhannes ist Jurist und ver.di-Funktionär. Er ist armenischer Abstammung und lebt in Berlin.

By tatyanakoltsova, Pixabay, published under public domain (edited by Jakob Reimann, Die Freiheitsliebe).

Die Freiheitsliebe: Am 10. Oktober einigten sich Aserbaidschan und Armenien auf eine Waffenruhe, was die jüngsten Gefechte im umstrittenen Bergkarabach erst einmal beenden sollte. Doch auf Anfang, wie kam es überhaupt zum Krieg? Was ist der grundlegende Konflikt?

Hovhannes Gevorkian: Die Region ist seit Jahrzehnten zwischen beiden Ländern umstritten, wobei die Wurzeln für diesen Disput bis in die Anfangszeit der Sowjetunion und sogar davor zurückreichen. Die derzeitige Situation ist von dem Krieg Anfang der 1990er geprägt, als Armenien das Gebiet gewinnen und dazu noch sieben weitere Provinzen kontrollieren konnte. Über 50.000 Menschen ließen bei diesem Krieg ihr Leben, mehr als eine Million Menschen wurde zu Geflüchteten. Seitdem ist vor allem Armenien am Status quo interessiert, während Aserbaidschan sein Militär massiv aufrüstet und immer wieder von der Rückeroberung Karabachs spricht.

Hinsichtlich dieses Krieges gab es erste Auseinandersetzungen schon Mitte Juli, allerdings nicht in Karabach (die Region selbst benutzt den armenischen Namen Arzach dafür). Aserbaidschan griff die nordarmenische Provinz Tavush an, um wahrscheinlich einige strategisch wichtige Militärposten zu erobern, die unweit der Pipelines liegen, wo Baku Öl und Gas über Georgien in die Türkei und nach Russland exportiert. Seitdem konnten wir eine sehr enge Allianz zwischen der Türkei und Aserbaidschan beobachten, wo nicht nur in Nachitschewan gemeinsame Militärübungen stattfanden, sondern auch türkisches Militär in Aserbaidschan stationiert wurde.

Seitens Ankaras gab es eine aggressive Kriegsrhetorik, die auch an den Genozid an den Armenier*innen 1915 anknüpfte. So erklärte Erdogan bei einer Rede am 22. Juli: „Wir werden die Mission fortführen, die unsere Großväter seit Jahrhunderten im Kaukasus angeführt haben.” Noch während die Verhandlungen in Moskau stattfanden, erklärte das türkische Verteidigungsministerium, dass eine Waffenruhe nur Sinn machen würde, wenn sich Armenien ganz aus Arzach zurückziehen würde. Jerewan und Baku haben Erfahrungen mit solchen Auseinandersetzungen und haben auch gewisse Mechanismen entwickelt, um die Situation nicht völlig außer Kontrolle geraten zu lassen. Nun allerdings ist die Türkei de facto eine Kriegspartei und signalisiert deutlich, dass ein Waffenstillstand nicht ohne Zustimmung zustande kommen wird.

Welches Ausmaß hatte der Krieg? Wie groß ist die Zerstörung und wie viele Menschen mussten ihr Leben lassen?

Der Krieg begann am Morgen des 27. September durch einen großangelegten und kalkulierten Angriff seitens der aserbaidschanischen Truppen zusammen mit den eigens aus Syrien rekrutierten islamistischen Dschihadisten. Das türkische Militär war nicht nur in die Planungen involviert, sondern von Anfang an eine Kriegspartei mit eigenen Kampfjets, militärischen Beratern und Soldaten. Die Soldaten griffen zwar nicht direkt ein, allerdings waren die Kampfjets im Einsatz und schossen ein armenisches Flugzeug über armenischem Territorium ab.

Es ist schwer, die genauen Todeszahlen zu beziffern, da sie von beiden Seiten nicht offen und ehrlich zugegeben werden, aber unabhängige Beobachter*innen sprechen insgesamt von tausenden Toten, wobei mehrere Dutzend Zivilist*innen dabei sind. Es ist ein sehr heftiger Krieg, der mit allen militärischen Mitteln geführt wird. Besonders die Hauptstadt von Arzach, Stepanakert, leidet sehr unter den schweren Bombardements, die eindeutig Kriegsverbrechen darstellen, weil wahllos Wohngebiete angegriffen werden.

Je länger der Krieg andauert, desto erbitterter wird er geführt werden. Der Waffenstillstand wurde von Baku und Ankara von Anfang an missachtet und Stepanakert und andere Städte weiterhin bombardiert. Die armenische Seite reagierte auch mit Angriffen auf die nächste größere Stadt Ganja, wobei es auch zu Zerstörungen der zivilen Infrastruktur kam.

Jetzt zu den jüngsten Friedensverhandlungen. Wie kam es dazu und was genau beinhaltet das Abkommen?

Noch gibt es keine Friedensverhandlungen. Beide Seiten haben unter russischer Vermittlung nach über zehnstündigen Gesprächen erklärt, dass es eine Feuerpause geben wird, um die Gefangenen und Toten auszutauschen. Verhandlungen unter der Führung der OSZE haben Vorrang, weitere Parameter werden später ausgehandelt. Es ist auch interessant, dass dies mit den jeweiligen Außenministern zustande kam und nicht mit den ranghöchsten Repräsentanten der Länder wie Wladimir Putin, Nikol Paschinyan und Ilham Aliyev.

Die Waffenruhe ist auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung, da ein Krieg katastrophale Folgen für die Region hat und ferner die Gefahr birgt, dass er sich auf andere Gebiete ausweitet. Beide Bevölkerungen leiden darunter und am meisten ist es ohne Frage die jeweilige arbeitenden Klasse, da der Krieg jetzt schon zusammen mit der herrschenden Covid-19-Pandemie zu einer Verschlechterung der Wirtschaft und der Lebens- und Arbeitsbedingungen geführt hat. Jeder Tag Krieg ist zu viel und verschärft die tiefe Spaltung zwischen den jeweiligen arbeitenden Klassen, die sowieso schon ein tiefes Misstrauen untereinander haben.

Deswegen ist es wichtig, die Gemeinsamkeiten der beiden Klassen zu betonen. Es ist definitiv zu begrüßen, dass zum Beispiel die Aserbaidschanische Linke Jugend sich deutlich gegen den Krieg positionierte.

Ein Bericht von Amnesty International von letzter Woche beschuldigt das aserbaidschanische Militär, in Stepanakert, der Hauptstadt von Bergkarabach, international geächtete Streubomben aus israelischer Produktion gegen zivile Ziele eingesetzt zu haben. (Vgl. hier) Was ist deine Reaktion auf die Anschuldigungen und wie intensiv ist die israelisch-aserbaidschanische Kooperation im Allgemeinen?

Streubomben einzusetzen, ist in jeglicher Hinsicht völkerrechtlich verboten und ein Verbrechen. Es gibt Videos aus Stepanakert, der Hauptstadt von Arzach/Karabach, die zeigen, was für ein erschreckendes Ausmaß der Einsatz solcher Bomben haben kann. Der mehrmalige Einsatz der Bomben auf zivile Gebiete ist erwiesen und gut dokumentiert. Ob sie aus israelischer Produktion sind, kann ich nicht sagen, aber unwahrscheinlich ist das aufgrund der engen Beziehungen zwischen Tel Aviv und Baku nicht. Israel ist der wichtigste Waffenexporteur für Aserbaidschan und mittlerweile durch anhaltende Drohnenlieferungen, die für die armenische Bevölkerung sehr gefährlich sind, eine der Seiten, die diesen Krieg weiter anheizt.

Auch die Türkei ist ein wesentlicher Unterstützer Bakus, insbesondere durch Waffenlieferungen. Das aserbaidschanische Militär prahlte online regelrecht mit seinem Einsatz türkischer Kampfdrohnen in den jüngsten Gefechten. Wie eng ist die türkisch-aserbaidschanische Kooperation und welche strategischen/geopolitischen Interessen verfolgt Ankara hier?

Die Kooperation ist sehr eng und so tief wie nie zuvor. Zwischen Baku und Ankara gab es schon immer eine Allianz und türkische Waffenlieferungen für aserbaidschanisches Öl und Gas waren Standard. Heute allerdings sieht es so aus, als würde die Türkei den Ton in diesem Krieg angeben und klar die Führung gegenüber Baku haben. Der Präsident von Arzach/Karabach, Arajik Harutjunjan, der selbst an der Front ist und die vielleicht meistgehasste Figur in Aserbaidschan ist, sagte offen, dass „nicht Aserbaidschan, sondern die Türkei Krieg gegen uns führt”.

Es gibt türkische Waffen, aber auch türkische Militärangehörige in Aserbaidschan. Die Abstimmung zwischen den beiden Regimen ist sehr eng und immer wieder gibt es ranghohe Besuche seitens der türkischen Politiker in Baku. Erst kürzlich, nämlich am 6. Oktober war der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu in Baku und sprach davon, dass die Türkei und Aserbaidschan „eine Nation“ seien. Er sagte: „Niemand sollte Zweifel haben, dass wir auch als ein Staat handeln werden, wenn es nötig sein sollte.” Übersetzt: Die Türkei sieht Aserbaidschan als Teil seines Einflussgebietes an und droht offen damit, direkt in den Krieg zu intervenieren.

Der Hintergrund dieser sehr aggressiven Herangehensweise liegt darin, dass die Türkei so eine stärkere Präsenz in Aserbaidschan aufbauen und dort Militärbasen errichten kann, nachdem das zuvor nur in der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan möglich war, die zwar an die Türkei, aber nicht an Aserbaidschan grenzt. Nicht zuletzt kann so die russische Hegemonie im Kaukasus womöglich zurückgedrängt werden, wobei Moskau und Ankara natürlich gegenseitige Interessen haben, nicht nur im Kaukasus, sondern auch in Libyen und Syrien.

Der Bergkarabach-Konflikt gilt als einer der am längsten andauernden Konflikte der Welt. Zwar gab es jetzt die von Moskau ausgerufene Waffenruhe, doch was muss geschehen, um die Region dauerhaft zu befrieden?

Die wichtigste Forderung zurzeit ist der Waffenstillstand, weil der Krieg unfassbar intensiv ist und insgesamt schon tausende Tote aufzuweisen hat. Auch die zivilen Opfer nehmen mit der Dauer des Krieges immer mehr zu, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen Kosten, die dieser Krieg mit sich bringt. Ein Waffenstillstand ist die Grundlage für weitere Verhandlungen, die notwendig sind, da es hier keine militärische Lösung geben wird. Dafür ist auch notwendig, dass sich die Türkei zurückzieht und insbesondere der Einsatz der islamistischen Dschihadisten (unter denen es übrigens viele Opfer gibt) sofort beendet wird.

Allerdings bedeutet ein Waffenstillstand noch keinen Frieden; wobei es wichtig ist zu wissen, dass nie ein Friedensvertrag unterzeichnet wurde, sondern nur das Abkommen von Bischkek, wo am 12. Mai 1994 der letzte große Krieg beendet wurde. Dieser Konflikt ist komplex, aber Fakt ist, dass er damit zu tun, dass sich auf beiden Seiten moderne kapitalistische Nationalstaaten gebildet haben, die jeweils für sich homogen sein wollen. Das nationalistische Denken ist tief verankert und hat die Region traumatisiert. Ich persönlich denke, dass ein friedliches und freies Zusammenleben nur gemeinsam möglich ist, damit auch die Frage der Geflüchteten gelöst werden kann: Dies kann allerdings niemals unter kapitalistischen Bedingungen möglich sein, sodass die kapitalistische Ordnung nicht nur in Armenien und Aserbaidschan, sondern in der gesamten Region gestürzt werden muss.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview wurde am 11. Oktober via E-Mail geführt. Das Titelbild zeigt die Skulptur Tatik Papik, die sich am nördlichen Stadteingang von Stepanakert befindet, der Hauptstadt von Bergkarabach. Die Skulptur des armenischen Bildhauers Sargis Baghdasaryan gilt als Symbol der Unabhängigkeit Bergkarabachs.

Quelle: diefreiheitsliebe.de… vom 12. Oktober 2020

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