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Russland: Die Zukunft des Regimes steht und fällt mit dem Ausgang des Krieges

Eingereicht on 21. März 2024 – 19:23

Arman Spéth. Mit welchen Widersprüchen hat der postsowjetische Raum zu kämpfen? Welche Kapitalinteressen vertritt Putin? Und wie entwickelt sich Russlands Volkswirtschaft? Ein Gespräch mit Felix Jaitner, der an der Uni Wien zu Entwicklungskonflikten des russischen Machtblocks promoviert hat.

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In ihrem Artikel «Frieden unerwünscht» erläutern Sie, dass die wachsende Expansionspolitik Russlands nur im Zusammenhang mit den vielschichtigen Krisenprozessen im postsowjetischen Raum verstanden werden kann. Können Sie dies näher erklären?

Die Auflösung der Sowjetunion und die kapitalistische Restauration sind gleichbedeutend mit dem ökonomischen und politischen Bedeutungsverlust der gesamten Region. Das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine, Moldawiens oder Georgiens liegt bis heute unter dem des Jahres 1989. Russland und andere Staaten (Aserbaidschan, Kasachstan) erlebten wie die ganze Region einen Deindustrialisierungsprozess, profitieren jedoch von den rossen Öl- und Gasvorräten. Zwar war der wirtschaftliche Absturz dadurch weniger stark, aber die Abhängigkeit vom Rohstoffsektor ist grösser als in der Sowjetunion.

Parallel zum ökonomischen Niedergang vollzogen die postsowjetischen Staaten nachholende Nationalstaatsbildungsprozesse. Damit ging oft die Vergabe politischer (Staatsbürgerschaft und -rechte, Sprachgebrauch) und sozialer Rechte entlang ethnischer Zugehörigkeit einher – eine Entwicklung, die zwar im Interesse der ethnisch-nationalen Elite war, die von den Privatisierungsprozessen zu profitieren hoffte, dem multi-ethnischen Charakter der postsowjetischen Staaten jedoch nicht gerecht wurde.

Eine wichtige Ursache vieler bewaffneter Konflikte in der Region, zum Beispiel in Moldawien (Transnistrien), in Georgien (Abchasien, Nord-Ossetien), sowie die instabile Lage im russischen Nordkaukasus, ist hier zu suchen. Die Wirtschaftskrise von 2008 hat die politischen, ökonomischen und sozialen Widersprüche im postsowjetischen Raum verschärft. Doch die herrschende Klasse reagierte auf die Protestwellen in vielen Ländern mehrheitlich repressiv.

Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Widersprüche im Innern und der stagnativen Tendenzen in der Wirtschaft setzt die russische Führung seit einigen Jahren auf eine expansive Aussenpolitik, um ihre erodierende Vorherrschaft im postsowjetischen Raum zu festigen. Die multiplen Krisen sind nicht die direkte Ursache für den Einmarsch in die Ukraine, sie sind aber ein wichtiger Kontextfaktor und tragen zu einem besseren Verständnis der gesamten Region bei.

Der Soziologe Wolodymyr Ischtschenko schreibt, dass die Entscheidung die Ukraine anzugreifen, den kollektiven Interessen der russischen Herrschaftsklasse entspricht. Der Politikwissenschaftler Ilya Matweew hingegen vertritt die Ansicht, dass die militärische Aggression nicht im Einklang mit den wirtschaftlichen Interessen der Machthaber steht. Wie beurteilen Sie diese Standpunkte?

Offensichtlich haben sicherheitspolitische Erwägungen eine unmittelbarere Rolle bei der Entscheidung über den russischen Einmarsch in der Ukraine gespielt als ökonomische Interessen. Die geostrategische Lage der Ukraine (Flottenstützpunkt auf der Krim, Puffer zur Nato) ist ein wichtiger Faktor, der die Aussenpolitik Russlands zu seinem westlichen Nachbarn seit den vergangenen 30 Jahren prägt und im Zweifelsfall kurzfristig ökonomische Interessen überwiegen kann. Matweews Verdienst ist, dass er die Bedeutung der Sicherheitspolitik für staatliches Handeln herausarbeitet, ein Aspekt, der in der Imperialismus-Debatte stark vernachlässigt wird. Allerdings geht Matweew noch weiter und konstatiert eine Entkopplung ökonomischer und sicherheitspolitischer Logiken in der Aussenpolitik. Seiner Ansicht nach widerspricht der russische Angriff den Interessen führender Kapitalfraktionen, letzteren mangelt es jedoch aufgrund des autoritären Charakters des Putin-Regimes an Einflussmöglichkeiten. Meines Erachtens gibt es durchaus ökonomische Rationalitäten, die dem Angriff auf die Ukraine zu Grunde liegen. In extraktiven Ökonomien ist die direkte territoriale Kontrolle über Rohstoffvorkommen oder das Pipelinenetzwerk eine zentrale Voraussetzung für eine stabile Kapitalakkumulation.

Daher sind die Verbindungen zwischen Politik und den extraktiven Sektoren üblicherweise sehr eng. Im russischen Fall ist der Staat durch seine Beteiligung an Öl- und Gasfirmen sogar direkt mit dem extraktiven Modell verwoben. Aus diesem Grund lassen sich die ökonomische und sicherheitspolitische Logik nicht klar voneinander trennen.

Der Krieg in der Ukraine ermöglicht den dominanten russischen Kapitalfraktionen Zugriff auf neue Profite – allein der Wiederaufbau der zerstörten Gebiete oder die Kontrolle der fruchtbaren landwirtschaftlichen Flächen sind ein Milliardengeschäft. Ischtschenko betont, dass die russische Regierung durch den Krieg in der Ukraine nicht nur die eigene Oligarchie stärken will, sondern auch die sich im Entstehen befindende multipolare Weltordnung aktiv mitzugestalten gedenkt. Meines Erachtens sprechen beide Autoren wichtige Aspekte an, die hinter der immer aggressiveren russischen Aussenpolitik stehen. Sie vertreten jedoch keine konträren, sondern einander ergänzende Positionen. Es wäre präziser von einer Verschränkung sicherheitspolitischer und ökonomischer Dispositive in der Aussenpolitik zu sprechen, die aus den Widersprüchen des extraktiven Entwicklungsmodells herrühren.

Wie bewerten Sie die wirtschaftliche Situation Russlands angesichts der intensiven Sanktionen und allgemein schwächelnder Weltwirtschaft?

Eine objektive Einschätzung der wirtschaftlichen Situation Russlands ist schwer, da immer weniger Daten öffentlich zugänglich sind. Obwohl Russland vergangenes Jahr ein schwaches Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von über zwei Prozent verzeichnet hat, leidet das Land unter den westlichen Sanktionen. Die EU war mit Abstand der wichtigste Absatzmarkt für fossile Brennstoffe.

Der Übergang zur Kriegswirtschaft wirkt dem jedoch partiell entgegen und stärkt die produzierenden Sektoren, insbesondere die Rüstungsindustrie, was in einigen Regionen die wirtschaftliche Lage deutlich verbessert. Die Prognose des russischen Soziologen Boris Juljewitsch Kagarlizki einer Zersetzung der russischen Wirtschaft ist im Grunde nicht neu. Die Bedeutung des Rohstoffsektors und die Deindustrialisierung seit den 1990er-Jahren haben die Entwicklungsunterschiede zwischen den Regionen verschärft. Regionen wie der Nordkaukasus sind seit Jahrzehnten abgehängt und auch der Krieg ändert daran wenig. Grundsätzlich könnte die Stärkung der Rüstungsindustrie und anderer produzierender Sektoren die massiven Gegensätze zwischen Zentrum und Peripherie partiell abschwächen – auch wenn ich das für wenig wahrscheinlich halte, denn die Regierung hält unverändert an ihrer neoliberalen Sozialpolitik fest. Allerdings haben die westlichen Sanktionen nicht dazu geführt, «Russland zu ruinieren», wie es die deutsche Aussenministerin Angela Baerbock prophezeite.

Vielmehr beschleunigen sie den Zerfall der Welt in konkurrierende geopolitische Lager. Russland orientiert sich ökonomisch und politisch viel stärker nach Asien. Zugleich werden Kräfte im Machtblock gestärkt, die auf eine Stärkung der produzierenden Sektoren setzen und die Abhängigkeit vom Rohstoffsektor reduzieren wollen. Diese Kräfte stehen in einem deutlich kritischeren Verhältnis zum Westen und befürworten den aggressiven aussenpolitischen Kurs, um Russlands globalen Einfluss abzusichern.

Erkennen Sie Konflikte innerhalb des russischen Machtblocks um die zukünftige Ausrichtung des Landes?

In der Osteuropa-Forschung wird Russland oft als  «totalitär» beschrieben. Demzufolge dürfte es Konflikte im Machtblock eigentlich gar nicht geben. Aber schon  während der Massenproteste 2012 und 2013 agierte der Machtblock keinesfalls einheitlich. So sympathisierte Putins langjähriger Finanzminister Alexej Kudrin mit den Protestierenden, während viele Oligarch:innen überstürzt das Land verliessen. Seitdem gibt es im Machtblock Auseinandersetzungen um den künftigen Kurs. Dabei steht weniger die Frage der demokratischen Ausrichtung im Fokus, als die fortschreitende Peripherisierung Russlands. Als Antwort auf die Abhängigkeit des Landes vom Rohstoffexport fordern sogenannte national-konservative Kräfte eine Stärkung produzierender Sektoren und verknüpfen diese Strategie mit einer aussenpolitischen Orientierung auf den postsowjetischen Raum und China. Die Gründung der Eurasischen Union war ursprünglich ein wichtiger Baustein in der ökonomischen Modernisierungsstrategie.

Seit dem Einmarsch in der Ukraine nehmen die Konflikte im Machtblock weiter zu. Das verdeutlicht der Putsch der Wagner Gruppe. Interessanterweise erlangte ihr Anführer Jewgenij Prigoschin erst unter Putin seine einflussreiche Position – und wendete sich dann gegen ihn. Dabei waren jedoch weniger ökonomische Aspekte ausschlaggebend als die militärische Strategie im Krieg. Dennoch stehen hinter dem Wagner-Putsch tiefergehende Konflikte. Eine wichtige Fähigkeit Putins besteht darin, zwischen den konkurrierenden Fraktionen des Machtblocks vermitteln zu können. Diese Rolle scheint er nur noch begrenzt zu erfüllen, was die Widersprüche um den künftigen Kurs verschärft. Die Zukunft des Regimes steht und fällt jedoch mit dem Ausgang des Krieges.

Welche wirtschaftlichen und politischen Strategien werden in Russland diskutiert, um die ökonomische Abhängigkeit vom Westen als Abnehmer der Rohstoffe und Exporteur hochstehender Technologie weiter zu verringern?

Die russische Regierung setzt im Rahmen einer Importsubstitutionsstrategie darauf, die Abhängigkeit von Maschinen und Ausrüstungsgegenständen durch einheimische Produktion zu verringern. Ein wichtiger Impuls waren und sind die westlichen Sanktionen und die damit verbundene Strategie einer ökonomischen und technologischen Entkopplung von Russland. Die Rüstungsindustrie, der Agrarsektor und daran angrenzende Bereiche wie Landmaschinenhersteller, chemische Industrie sowie der Maschinenbau profitieren von dieser Strategie und fordern noch energischere Schritte. Es gibt also auch im Machtblock ein ökonomisches Interesse daran, die Sanktionen aufrechtzuerhalten, da sie die Interessen dieser Kräfte bedienen. Neben der Ausrichtung auf den postsowjetischen Raum orientiert sich Russland aussenpolitisch immer stärker nach Asien und hier nach China. Die ökonomischen Beziehungen reproduzieren jedoch den Handel mit dem Westen, da Russland auch hier Maschinen und Ausrüstung importiert und im Gegenzug Rohstoffe verkauft.

Quelle: vorwärts – 15. März 2024

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