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Tod eines Handlungsreisenden: Arthur Millers literarisches Psychodrama

Eingereicht on 4. Oktober 2019 – 17:09

Richard Albrecht. »Das Wunschbild der sexuell-sozialen Versorgtheit, der rationalisierten Sexualität (lässt) die Ehe zur bürgerlichen Einrichtung im Bürgertum werden (…) und setzt Familie als Refugium vor dem LebenskampfErnst Bloch (1895-1977): Das Prinzip Hoffnung

I.

In seinem 1987 in den USA veröffentlichten Erinnerungsbuch »Timebends « kommt Arthur Miller auch ein paar Mal und eher wie beiläufig auf sein ästhetisch und kommerziell erfolgreichstes Bühnenstück »Death of the Salesman. Certain Private Conversations in Two Acts & a Requiem« zu sprechen. Der Dramatiker will nämlich die ihn überraschende »unwahrscheinliche Wirkung« seines (inzwischen – 1953/54 und 1984/85 – zwei Mal verfilmten) dramatischen Konfliktstoffs erklären. Miller führt zwei besondere Auffälligkeiten an: Einmal beobachtete Publikumsreaktionen. Zum anderen erfahrene Pressekritiken. Bereits unmittelbar nach der ersten öffentlichen Aufführung von »Tod eines Handlungsreisenden« – dies war  noch vor der New Yorker Premiere am 7. Oktober 1949 (in Philadelphia) – gab es seitdem anhaltende (und auch interkulturell vergleichbare, damit nicht auf die USA beschränkte) Betroffenheiten.

Wie bei manchen späteren Vorstellungen gab es bei der ersten Aufführung nach dem Schlussvorhang keinen Applaus. Unter den Zuschauern ereigneten sich merkwürdige Dinge. (…) Besonders Männer saßen vorgebeugt und vergruben das Gesicht in den Händen, andere weinten. (…) Zuschauer gingen durch das Theater, um sich mit jemandem leise zu unterhalten. Eine Ewigkeit schien zu vergehen ehe jemand daran dachte, zu applaudieren, und dann hörte der Beifall nicht mehr auf.« Was im ersten Moment als theatralische Inszenierung erscheinen könnte – war authentisch: Eine den Theater-Rahmen aufsprengende Reaktionsweise, merkwürdig und aufschlußreich zugleich. Und natürlich auch der (lower) middle-class-Identifikationsfigur Willy Loman (low man …) als reisendem Kleinhändler (Vertreter) zuzuschreiben…

Zum zweiten, Theaterkritiken der Presse, erinnert Arthur Miller, daß nur beim »Handlungsreisenden« mehrheitlich keine »schlechten, gleichgültigen oder höhnischen Kritiken« in der New Yorker Presse bei der Erstaufführung am Broadway erschienen und daß allein dieses Theaterstück des Dramatikers sofort bei Publikum und Presse gleichermaßen wohl-wollend auf- und angenommen wurde. Arthur Miller führt auch diese Besonderheit vor allem auf seine Loman-Figur zurück: Den Typus des »kleinen Mannes«, der doch nur lieben und geliebt werden will, der im Leben etwas zählen (also: etwas darstellen) und als Mensch wie er lebt respektiert, anerkannt und beliebt (»well-liked«) sein will.[1]

II.

Natürlich war »Tod eines Handlungsreisenden« weder Arthur Millers erstes noch sein letztes Bühnenwerk – wohl aber jenes seiner Theaterstücke, welches den Autor (so der »Literaturbrockhaus« 1995) zu einem der »führenden Vertreter des modernen amerikanischen Theaters« werden läßt – eines Dramatikers, »der in Anlehnung an europäische Vorläufer (…) gesellschaftskritische Themen mit neuen technischen Mitteln weitgehend realistisch auf der Bühne darstellt«. Dabei führt Millers »Handlungsreisender« wie schon sein zwei Jahre früher am Broadway aufgeführtes Schauspiel »All my Sons« (1947) wieder ein in ein, wenn man so will, petty- oder lumpenbürgerliches, vom (vormals Hausieren genannten) gewerblichen Vertreterwesen bestimmtes häusliches Familienmilieu judaisch-amerikanischer Ostküstenausprägung. (Anintellektualisiert und auf middle-class-Maß gehoben, dazu romanhaft arabesk verdichtet und stärker mit Generationsrücksicht, damit auch auf Einwanderer Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bezogen, ist auch Saul Bellows – Nobelpreis für Literatur 1976 – Kernmilieu in seinen auch deutsch publizierten Romanen: »Herzog«, 1961, »Mr. Sammlers Planet«, 1970 oder »Humboldt’s Gift«, 1973).

III.

Für seinen »Handlungsreisenden« erhielt Arthur Miller zwar nicht den Literaturnobelpreis…aber doch den in der literarischen US-Szene anerkannten Pulitzerpreis (1949). Und dies auch wegen seiner kritischen und mit entwickelten ästhetisch-dramaturgischen Mitteln bühnenwirksam präsentierten Sicht auf US-amerikanische Erfahrung und Geschichte, in der trotz der großen Depressionserfahrung mit der Weltwirtschaftskrise (1929) eine soziale »Lebenslüge« wirksam war und ist: Der US-amerikanische Traum vom individuell möglichen und machbaren sozialen Aufstieg, vom Tellerwäscher zum Millionär … Leistungs- und zugleich Lebensmythos überhaupt.

Dies war Arthur Millers Haupttopos: Und auch als nun schon seit Jahrzehnten »durchgesetzter« und weltweit bekannter Dramatiker geht der Autor diesen Pfad zurück in »The American Clock« (1980): Wenn auch ohne die ästhetische Dichte des »Handlungsreisenden« wieder zu erreichen, führt uns die lockere Spielszenenfolge mit den gut drei Dutzend Spielerinnen und Spielern in (so der deutsche Titel des Stücks) »Die Große Depression« zurück. Auch in diesem späten Bühnenwerk Arthur Millers zeigt sich des Autors im Bereich der Ökonomie begründete psychodramatische Virtuosität und dramaturgische Meisterschaft… wobei, zugegeben, der Autor auch auf publizierte Interviews zum Innern der Krise und langanhaltende subjektive Krisenerfahrungen (ich meine Studs Terkels Bände »Hard Times: Oral History of the Great Depression«, 1970, und »American Dreams: Lost & Found«, 1980) zurückgreifen konnte).[2]

Was jedoch im »Tod eines Handlungsreisenden« als Requiemschluss notwendig und zwingend wirkt – erscheint in der »Großen Depression« eher als willkürlich montierter Abspann: Die sarkastische Botschaft des alten Lee Baum, dass erst der (nächste und Zweite) Weltkrieg die wirtschaftliche Depression beenden und den ökonomischen Aufschwung bringen konnte. (Auch dieses Wirkliche war wohl wirklich, deshalb aber nicht notwendig vernünftig). – So gesehen, ist Arthur Millers Rückkehr zum Ausgangspunkt – dem von ihm als Dramatiker wesentlich mitbegründeten neo-realistischen Psychodrama (in) der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in »Die große Depression« – denn doch eher bloße Rückschau als produktive Weiterführung.

IV.

Die Handlung des zwölf Personendramas -Doppelbesetzungen wären auch möglich – ist um den Kern, die vierköpfige Kleinfamilie und ihren überdimensionalen und defekten, freilich noch nicht völlig abbezahlten Kühlschrank in der Wohnküche gruppiert. Im Mittelpunkt einerseits Willy Loman, Anfang 60, sein Leben lang Vertreter (Handlungsreisender), erfolglos, ausgelaugt, auch nervlich am Ende. Nun ist Willy altes Eisen, ausgemustert ohne Gehalt (Fixum), nur noch auf seine Abschlüsse in einem weiten Bezirk und in Konkurrenz zu jüngeren commis voyageurs angewiesen, vom Firmenchef grad noch als fünftes Rad am Geschäftswagen geduldet. Willy fährt unkonzentriert seinen alten Chevy, sollte wissen, dass er am Ende ist, hängt sich jedoch um so stärker an seine Illusion, dass er nach wie vor gebraucht würde und beliebt war. Dies ist eine durchaus psychotisch in Form von Selbsttäuschung, Depressionsschüben und Suicidvorbereitungen bemerkenswerte Auffälligkeit.

Linda Loman, (Haus-)Frau und Mutter der Söhne Biff und Happy, weiß von den Problemen ihres Mannes und auch, daß ihr Mann, den sie nach vielen Ehejahren sicherlich nicht mehr heiß liebt aber doch als Person wie sie ist anerkennt, in seinem Lebenslüge-Syndrom aktuell suicidgefährdet ist … kann gleichwohl nur zu ihm halten, ihm Mut geben und Willy Außenweltkonflikte mit einem ihn finanziell unterstützenden Nachbarn oder seinem Vorgesetzten zu vermitteln versuchen. Zusätzliche Spannungen kommen in das Beziehungsgeflecht als Willys ältester Sohn Biff – 34jährig – in die elterliche ´kleine Lebenswelt´ zurückkommt, aber vom Vater als »Versager« nicht akzeptiert wird. Diese Ebene ist durch (reale) Rückblenden ebenso deutlich wie die der Beziehung Willy zum »erfolgreichen« großen Bruder Ben, der gleichsam als Ich-Idol und damit unerreichbar erscheint (weshalb hier auch irreale Retroperspektiven dramatisiert werden). Insbesondere wird eine zwanzig Jahre zurückliegende Schlüsselszene benutzt, um Willy Loman als Mann, der sich selbst sowie seine Frau und besonders seinen Ältesten täuscht, vorzustellen: Biff sucht Nähe und Hilfe seines Vaters, reist ihm nach, der lässt sich verleugnen … und schläft (um den Preis eines damals begehrten Paar Nylons) mit einer Firmeneinkäuferin in einer billigen Absteige. Dies erkennt der 14jährige Junge. Und damit ist das Verhältnis Vater-Sohn dauerhaft (und unumkehrbar) gestört infolge wechselseitiger Enttäuschungen.

Vielleicht gerade weil Willy Loman von seinen auch finanziell belastenden Alltags- und Zukunftssorgen, zu denen nun noch Sohn Biff ins Haus kommt, schier erdrückt wird, nimmt er die Einladung seiner beiden Söhne in ein Restaurant mit anschließendem Kneipenbummel unter Männern an.

Gefeiert werden sollte eigentlich eine Anstellung Biffs, der sich irgendwo vorstellte, aber nicht mal vorgelassen wird, also übers Vorzimmer nicht hinauskommt. Deutlich wird, daß Biff immer nur »odd Jobs« hatte, gestohlen und betrogen hat und doch vom Vater als toller Kerl, dem die Welt offensteht, gesehen werden will. Im Restaurant reißt Happy, der jüngere Bruder, routiniert zwei Frauen auf. Zu den vier gesellt sich der eingeladene und verstaubt-schäbig wirkende Willy Loman. Und nun bricht der Vater-Sohn-Konflikt im öffentlichen Raum aus, im Beisein der beiden angelachten Frauen, denen gegenüber Happy seinen Vater verleugnet und ihn als irgendeinen alten Mann ausgibt.

Ein so verwirrter wie enttäuschter Willy Loman verläßt den Schauplatz und geht allein nach Hause. Dort gibts eine erneute Vater – Sohn – Auseinandersetzung: Ein ebenfalls enttäuschter Biff entdeckt das Instrument des gedanklich bei Willy Loman immer präsenten Suizids, einen Schlauch in der Garage, und zeigt ihn wütend in der Küche vor, um zu verdeutlichen, daß er den Vater durchschaut … und Biff schont sich selbst nicht, gibt in Form eines Geständnisses zu, daß er immer und überall aus den Jobs geflogen und eben nicht der vom Vater erwünschte allseits beliebte Biff, der erfolgreiche Sportsmann und die anerkannte Stimmungskanone, ist. Willy Loman erkennt, behutsam bestärkt durch Linda, daß Biff ihn, Willy, als Vater immer bewundern wollte und als Sohn geliebt hat. Was folgt ist ein (dramaturgisch gleichsam als Abspann nur angedeuteter) Bilanzsuizid Willy Lomans, gleichsam rational in Form eines Opfertods inszeniert, weil die Versicherungsprämie rechtzeitig bezahlt wurde und der Tod den Hinterbliebenen 20.000 US-Dollar Prämie bringen soll: Der Motor des Chevy springt in der Garage an und Willy Loman jagt mit Vollgas davon …

Was Arthur Miller auch mittels artistischer Montagen, Schauplatzwechseln, Ineinandergreifen von Fiktivem und Realem, Symbolischem und Konkretem sowie mit Rückblenden auf einer dreigliedrigen Bühne – unterstützt durch Vorgaben für Lichteffekte und Musikelemente – ästhetisch entwickelt – hat, ein paar Jahre später, ein deutscher Autor thematisch bündig auf den inhaltistischen Punkt gebracht: »Er sah die Menschen, und er sah, daß sie sich an Illusionen festklammerten, an die sie schon lange nicht mehr glaubten. Eine dieser Illusionen war das Familienglück.«[3]

Im Abspann seines Dramas vom »Tod eines Handlungsreisenden« läßt Arthur Miller als »Requiem« Nachbar Charley, der als einziger auch dem lebenden Willy Loman finanziell unter die Arme griff, gegen dessen Söhne am Grab des Vaters sagen (und der Eingangssatz wurde denn auch jahrelang so etwas wie ein geflügeltes Wort): »Willy was a salesman. And for a salesman, there is not rock bottum to the life. He don’t put a bolt to a nut, he don’t tell you the law or give you medicine. He’s a man way out there in the blue, riding on a smile and a shoeshine. And when they start not smiling back – that’s an earthquake. And then you get yourself a couple of spots on your hat, and you’re finished. Nobody dast blame this man. A salesman is got to dream, boy. It comes with the territory.«

Wenn Manfred Pütz im Nachwort zu seiner (im Übrigen soweit erkennbar preisgünstigsten) englischsprachigen Ausgabe des »Handlungsreisenden« sich darüber verwundert gibt, wie wenig sich Kritiker und Kommentatoren über Themen und Tendenzen oder über formale Gestaltung des Stückes einig zu werden vermochten[4] – so halte ich grad dies‘ ambiguöse, unabgeschlossene und offene für eine erweisliche Stärke des »Handlungsreisenden« als theatralisch-sprachlichem Kunstwerk. Denn dieses ist – wie jedes Kunstwerk, das so genannt werden soll – mehrdeutig, polyvalent, damit auch in verschiedener Weise wirkend und von (hier: Theater-) Zuschauern aufnehmbar bzw. zu deuten, zu akzeptieren oder auch abzulehnen. Es ist gerade diese ästhetisch vielfältige und niemals eindimensionale Wirkungspotenz, die jedes Kunstwerk von der bekannten im Sinne mathematischer Binär- und aller darauf aufbauenden technischen Ein-Eindeutigkeitslogik im computerisierten Zeitalter mit ihren nur Ja- oder- Nein-Vereinfachungen unterscheidet … und zugleich Spannung, Reiz und über aktuelle Räume und Zeiten mögliche Wirksamkeiten von Kunst als solcher ausmacht.

Und dies trifft sicherlich auch auf Arthur Millers »Death of a Salesman« als darstellende Wort- und Aktionskunst zu. Insofern ist das Theaterstück von 1949 mehr als das, was es in publizistischer Funktion auch – aber eben nicht nur – ist: Uns heute Nachgeborenen eine angemessenere, weil zusammenschauende, Vorstellung von konfliktorischen Lebensbedingungen, -weisen und -formen zu geben als die zahlreichen »direkten, vielfältigen und verwirrenden Zeitzeugnisse«[5] – hier etwa innerhalb der Berufswelt männlicher Untermittelklässler und ihres familiären Umfelds in/um New York nach dem Zweiten Weltkrieg und noch vor der US-Prosperität infolge des Koreakrieges in den 50er Jahren.

V.

Manfred Pütz systematisiert in seinem informativen Nachwort zusammenfassend Arthur Millers ästhetisch-entwickelte »formale Besonderheiten« des »Handlungsreisenden« und betont im Zusammenhang der »auffallenden Verwendung von Symbolen, Effekten der Licht- und Musikregie, komplexer Überlagerung verschiedener Zeitebenen, Perspektivenwechsel zwischen realistischer Gegenwartshandlung und imaginären Vergangenheitserlebnissen« sowie dem »so einfachen wie multifunktionalen Bühnenbild, das die Vorstellungskraft des Zuschauers herausfordert« das auch genre-ästhetisch offene Moment in Millers Stück, zugespitzt: Ob der »Handlungsreisende« eher als »realistischnaturalistisches Theater« oder eher als »expressionistisches Drama« zu kategorisieren sei. (Pütz geht den goldenen Mittelweg und plädiert fürs differenzierte Sowohl-als-Auch, demzufolge der Dramatiker Arthur Miller es halt verstanden hat, »die realistischen und naturalistischen Elemente des Stückes so mit expressionistischen Darstellungstechniken zu verschmelzen, daß eine neue, durchaus eigenständige Einheit entsteht.«[6] Zugleich spricht der Herausgeber drei thematische Felder als Konfliktdimensionen im »Handelsvertreter« an: Gesellschaftskritik, schrankenlos-kapitalistischen Verdrängungskampf und Schmutzkonkurrenz unter den Bedingungen US-amerikanischer Wettbewerbs- und Tüchtigkeitsideologie; Kritik an Personen und Konfigurationen, die/in denen der »American Dream« subjektiv wirksam, das meint: nicht nur geglaubt, sondern werthaft verinnerlicht und normhaft durch Handlungen inbezug auf andere, also nach außen, dokumentiert wird. Und das innerfamiliäre Beziehungsgeflecht mit der zentralen Konfliktachse Vater-Sohn-Verhältnis … wobei diese Sicht Willy Loman als Hauptfigur und Protagonisten relativierte und in der (auch in bei entsprechender Regie herauszuarbeitende) bürgerlichen Vater-Mutter-Söhne-Kleinfamilie und ihrer verclinchten kleinen Lebenswelt die Zentraldimension sähe – Familie also als Ursache und Wirkung, Täter und Opfer zugleich … letztlich für eine weitere, vierte Konfliktebene: eine soziale Noxe, also das, was Persönlichkeiten zerstört und Individuen insbesondere im sozialmedizinisch-psychiatrischen Sinn krank macht und damit zugleich auf spezifische Konstruktionsdefekte im modernen US-amerikanischen Sozialcharakter bzw. dem auch ökonomisch bestimmten Zusammenhang von »Character and Social Structure« (Hans Gerth / C. Wright Mills) hinweist.

VI.

Diese Aufnahme- und Deutungsvariante würde das Besondere an Arthur Millers Zweiakter als Psychodrama herauszuarbeiten bzw. in entsprechender Inszenierung dramaturgisch und wirkungsästhetisch zu transformieren versuchen: Etwa mit der schon sprachlich deutlichen Parallelisierung von wirtschaftlicher und seelischer Depression – die im Detektionsprozess um Willy Loman bis ins früher »Spaltungsirresein« genannte Feld von Schizophrenie im klinischen Sinn führt, damit zugleich auch einen »klassischen« europäischen intrapsychischen Konfliktstoff – etwa die faustischen zwei Seelen in der Mannesbrust oder die Janusköpfigkeit des Jekyll & Hyde-Stoffs – in der modernen US-amerikanischen dramatischen Literatur wieder aufnimmt und zugleich produktiv bearbeitet. Dieser – vierte – Ansatz könnte denn auch zu einem fünften Deutungsstrang verdichtet werden. Einer literatur- und dramenpsychologischen Ebene: Willy Loman als »Maske« (Thomas Mann) – als Zirkulationsagent ohne handwerklichen Hintergrund („who don’t put a holt to a nut“), der also nicht mit Schrauben und Muttern dinglich arbeitet und der nicht anders kann als sich auf die abstrakte Tauschebene auszurichten und vom Geld abhängig und insofern seinen Gattungsmöglichkeiten nach ent-fremdet wird, dieses ahnt und sich ständig des »well-liked«, also der Außenanerkennung, rück-versichern muß.

Dies wäre eine wenn man so will: Von der Wirtschafts- und Erwerbswelt »kleiner Leute« ausgehende klinisch-soziologische (oder: sozialdiagnostisch-sozialpsychologische) Deutungsvariante, die sowohl an zeitgenössische US-amerikanische als auch westeuropäische Gesellschaftskritik anschließen könnte.[7]

Auch wenn sicherlich über die fünf angedeuteten hinausgehend weitere Varianten von Interpretationen von Millers »Handlungsreisenden« möglich wären … sie sollen jetzt und hier nicht versucht werden. Wichtig scheint mir jedoch, daß entsprechend dem Grundanliegen des Theaterstücks als Kunstwerk unsere Verletzlichkeiten auch in ihrer Destruktivität (hier Lomans Selbsttötung) offen thematisiert werden können … was unter Einvernahme geeigneter Symbol-, Bilder- und Formensprache nur ein Kunstwerk kann. Denn es geht gerade um Betroffenheiten hervorrufenden »Tod eines Handlungsreisenden« um eine der beiden Möglichkeiten – Zerstörung – unserer umfassenden conditio humana und jene immer geschichtlich konkret wirksamen, folglich auch durch menschliches Handeln veränderbaren Lebensbedingungen.

VII.

Das nächste große Theaterstück Arthur Millers kommt parallel zur ersten Verfilmung des »Handlungsreisenden« 1953: Es ist ein historisches Drama – »The Crucible« (deutsch: »Hexenjagd«). Und jeder, auch der dort implizit angesprochene Kommunistenjäger – Joseph McCarthy, Spitzname: „Senator Amok“ -, nimmt das Stück als das, was es nur sein kann: Eine Kritik an repressiven Verfolgungspraxen mit den US-Kernstücken Gesinnungsschnüffelei und Kontaktverbot („guilt-by-association“). Der Dramatiker hat in seinen Altersmemoiren das später weltweit, nur zunächst nicht in den USA gespielte Stück ebenfalls von der Wirksamkeit her so bewertet:

»Im Laufe der Jahre wurde die Hexenjagd mein bei weitem am häufigsten aufgeführtes Stück – sowohl im Ausland als auch in den USA. Seine Bedeutung veränderte sich jeweils mit dem Ort und mit der Zeit. Ich weiß beinahe, wie die politische Situation eines Landes aussieht, wenn das Stück dort ein Erfolg wird – entweder ist es eine Warnung vor einer kommenden Tyrannei oder die Erinnerung an eine gerade Überwundene.«[8]

Mit der »Hexenjagd« und einem Stückchen an Jonathan Swift[9] geschulter aktueller politischer Publizistik (unter dem Titel »A Modest Proposal« und der dann entwickelten scheinbaren Untertanenbitte) kommt sowohl die Einladung zum öffentlichen Verhör vor dem Ausschuss für unamerikanische Umtriebe des US-Repräsentantenhauses am 21. Juni 1956[10] als auch eine »längere Periode persönlicher und politischer Schwierigkeiten in Millers Leben.[11]

Und gerade Arthur Millers Lebensjahrzehnt bis etwa Mitte der 60er Jahre zeigt, daß es ganz falsch wäre, den Autor von »Tod eines Handlungsreisenden« und »Hexenjagd« als ungebrochenen Helden darzustellen. So mutig sich Miller im öffentlichen Hearing verhält, in dem er (hier dem Beispiel von Lilian Hellman folgend)[12] als »unfreundlicher Zeuge« keine Namen ex-kommunistischer Sympathisanten nennt, so hat er doch gleichzeitig im persönlichen Leben seine zeitweilige Ehefrau Marilyn Monroe, die den gut zehn Jahre älteren Autor als moralische Autorität bewunderte, enttäuscht – nicht zuletzt, weil der »Beschützer« aus der Sicht einer damals alkohol-, tabletten- und beziehungsabhängigen und so verletzlichen wie schutzsuchenden Marilyn die in ihn gesetzten hohen Erwartungen und Anforderungen nicht erfüllen kann, weil er selbst, seit Jahren als Schriftsteller ästhetisch-kreativ blockiert und unproduktiv, ums Überleben als politisch engagierter Künstler kämpft und all seine Energie für sich aufbraucht. Arthur konnte Marilyn den nötigen und gesuchten Halt nicht geben. Dieser Aspekt subjektiver Enttäuschung der emotional bedürftigen Partnerin scheint in der Darstellung der Marilyn-Monroe-Biographin auch offen auf, wenn es im Miller-Abschnitt unter dem Titel »Die große Hoffnung« heißt: »Miller selbst zerstörte sein positiv kämpferisches Image, indem er sich als literarischer Streikbrecher betätigte. Er schrieb das Drehbuch (…) zu »Let’s Make Love« um, während sich die Scriptautoren im Streik gegen die Studios befanden (…) Von nun an hatte Marilyn die Achtung vor ihrem Ehemann restlos verloren.«[13]

IIX.

Ende 1996 waren, wenn buchhändlerische Inventarverzeichnisse lieferbarer Titel denn so vollständig sind wie beansprucht, – und mal abgesehn von einem 75-Minuten-Video (»Arthur-Miller-Omnibus«) – insgesamt 28 Buch und Broschürentitel des Autors Arthur Miller zu (ver)kaufen, Arbeitshilfen und Originaltextausgaben für den deutsch- und fremdsprachigen Unterricht eingeschlossen. Zum »Tod eines Handlungsreisenden« waren davon allein acht lieferbar, von diesen wiederum sechs englischsprachige Editionen einschließlich »Text & Studies Aids« und kommentierte Originaltextausgaben des Theaterstücks. (Auch die hier benutzte von Manfred & Gunda Pütz, Ausgaben 1984 und 1990). Von den beiden deutschsprachigen Ausgaben habe ich die schon am Titel (»Tod eines Handlungsreisenden«) sofort erkennbare Neuübersetzung herangezogen (in der ersten Übersetzung von Ferdinand Bruckner lautete der unbestimmte Originaltitel irrtümlich: »Tod des Handlungsreisenden«).

IX.

Es mag sein, daß die neue deutsche Übersetzung von Schlöndorff/Hopf, die für die Zweitverfilmung mit Dustin Hoffman als Willy Loman eine modernisierte Version des »Handlungsreisenden« feilbietet, flüssiger lesbar ist als die zeitgleiche Eindeutschung. Nur: Mir erscheint die Schlöndorf/Hopf -Variante des Guten zuviel getan zu haben, genauer: Mir ist das, was als »Tod eines Handlungsreisenden« von Arthur Miller in nahezu einer halben Million Fischertaschenbüchern auf den Markt kam, doch einerseits zu flapsig, andererseits zu schlampig übersetzt: Es mag – erstens – angehen, eine Schlüsselmetapher wie beliebt oder nicht beliebt als (not) well-liked umgangssprachlich zu fassen, als eine, wenn sicherlich nicht die trennschärfste, Möglichkeit. Hingegen erscheint mir – zweitens – aus dem zitierten Requiem auf den toten Willy Loman die Schlöndorff/Hopf-Version von »He don’t put a holt to a nut« pseudoliterarisiert wenn es heißt: »Er fügt kein Brett in Nut und Feder« und einfach – Nachbar Charley spricht nämlich nicht Shakespearian English, sondern Brooklyn-Slang – die Wendung: Ein Vertreter hantiert weder mit Schrauben und Muttern (und weiter:) noch spricht er Recht oder verschreibt Medikamente, angemessen wäre. Drittens schließlich verkennen Schlöndorff/Hopf als Übersetzer den bewußt artifiziellen Charakter des Originaltextes völlig, wenn sie aus Lidas Liebeserklärung »Willy, darling, you’re the handsomest man in the world« die wurschtige catch-all-version »Willy, Liebling, Du bist ein Prachtkerl« machen. Genau so wird doch das grammatisch Besondere der Linda-Aussage, nämlich der weil ungebräuchlich gestelzt wirkende Superlativ »handsomest« zur postmodernen Beliebigkeit verkehrt; dies übrigens auch dann, wenn jede Linda-Darstellerin das Du bist betonen würde. Die Allerweltsfloskel »Prachtkerl« verdeckt das hausfraulich Besondere (im Übrigen gehts um ihren Mann und kein Pferd im Stall.) Die »Prachtkerl«-Formel ist aber auch sprachmelodisch-rhythmisch unangemessen: Was im Original acht akzentuiert (wenn nicht gestelzt) zu sprechende Silben ausmacht, ergibt bei Schlöndorff/Hopf grad zwei (die auch weggenuschelt werden können, was im Film abgehn mag, aber schlechte Theaterpraxis wäre). Und schließlich geht, kommunikationstopologisch gesehn, das sprachliche Sich-in-Beziehung-Setzen der Linda zu »ihrem« Willy in dieser Sequenz völlig unter. Was im US-amerikanischen Arthur-Miller-Text, vermutlich bewußt artifiziell komponiert, als gedrechselt klingender und (bekanntlich nicht mehr steigerbarer) Superlativ als »the handsomest man in the world« sprachlich ausgedrückt wird … kommt als »Prachtkerl« und damit von einer sich zu ihrem Mann als Person verbalisierenden Partnerin Linda in der deutschen Version als beliebige Sprechhülse daher. Das ist nicht nur sprachliche Schlamperei. Das ist darüber hinaus intellektueller Dünnpfiff. […]

X.

Death of a Salesman ist vor allem ein Stück Theater für die Bühne. Und für on stage gilt (wie auch für Literaturverfilmungen), was Bertolt Brecht beiläufig zur breiten Wirksamkeit des Kriminalromans notierte: »Es bereitet Genuß, Menschen handelnd zu sehen, Handlungen mit faktischen, ohne weiteres feststellbaren Folgen mitzuerleben.«[14]

Bibliographische Hinweise

Arthur Miller, Death of a Salesmann. Certain Private Conversations in Two Acts & a Requiem. In: Collected Plays. New York: The Viking Press, 1957. Text nach dieser Ausgabe, mit dt. Glossar, Auswahlbibliographie & Nachwort hrsg. v. Manfred & Gunda Pütz, Stuttgart: Reclams Universal-Bibliothek/RUB 9172, 1984, 171 p. – Deutsche Ausgabe: Tod eines Handlungsreisenden. Gewisse Privatgespräche in zwei Akten und einem Requiem. Dt. von Volker Schlöndorff mit Florian Hopf. Ffm.: Fischer TB 7095/Reihe Theater, 469.-476. Tausend, April 1996, mit Anmerkung von Volker Schlöndorff, 119 Seiten.

Quelle: trend.net… vom 4. Oktober 2019


[1] Arthur Miller, Zeitkurven. Ein Leben. Ffm.: Fischer TB 5685, 1989, zitiert S. 254, 702, 245.

[2] dt. Buchausgaben: Studs Terkel, Der Große Krach. Die Geschichte der amerikanischen Depression. Ffm.: suhrkamp taschenbuch/st 23, 1972; ders., Der amerikanische Traum. Vierundvierzig Gespräche mit Amerikanern. Bln.: Wagenbachs Taschenbücherei 80, 1981.

[3] Wolfgang Koeppen, Das Treibhaus (Roman). Ffm.: suhrkamp taschenbuch/st 78, 16.-23. Tsd./2. Auflage, 1976, S. 111.

[4] Manfred Pütz, Nachwort zu: Death of a Salesman, S. 160-170.

[5] So Vilfredo Pareto, Trattato di sociologia generale, Firenze: G. Barbera, sec.ed., 1923, vol. I, § 545.

[6] Pütz, Nachwort, 169.

[7] Etwa bei David Riesman et.al., The Lonely Crowd (1950), dt. Ausgabe Neuwied-Berlin: Luchterhand, 1956; als Taschenbuch Reinbek: rororo, 1958; oder bei Hans Kilian, Das enteignete Bewußtsein. Neuwied-Berlin: Luchterhand, 1971.

[8] Miller, Zeitkurven, S. 460.

[9] Jonathan Swift, A Modest Proposal For Preventing the Children of poor People in Ireland, from being a Burden to their Parents of the Country; an for making them beneficial to the Public, In: same, Irish Tracts, 1728-1733, ed. Herbert Davis, Oxford: Basil Backwell, 1955, pp. 108-118. In altertümlicher dt. Übersetzung in: Satyrische und ernsthafte Schriften, von Dr. Jonathan Swift, Bd. I, Zürich by Orell, Geßner & Comp., 3. Auflage 1977, S. 51-68 (Reprint).

[10] dt. Text in: Sind oder waren Sie Mitglied? Verhörprotokolle über unamerikanische Aktivitäten. Hg. Hartmut Keil. Reinbek: Rowohlt/das neue Buch: dnb 131, S. 116-129; Miller hebt vor allem auf seinen individuellen Künstlerstatus ab.

[11] Pütz, Nachwort, S. 162.

[12] Lilian Hellmann, Scoundrel Time. London: MacMillan,1976; dt. Ausgabe: Zeit der Schurken. Ffm.: Neue Kritik, 1979.

[13] Ruth-Esther Geiger, Marilyn Monroe. Reinbek: Rowohlt/rm 507, April 1995, S. 85-102, zit. S.97.

[14] Bertolt Brecht, Über die Popularität des Kriminalromans; in: Gesammelte Werke Bd. IX, Ffm: Suhrkamp, 2. Auflage 1968, S. 453.

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