Das Elend der Flüchtlinge auf dem Balkan
Martin Kreickenbaum. Viele Menschen sind über den Polizeiterror der Syriza-Regierung gegen Flüchtlinge auf der griechischen Insel Kos schockiert. Die Bilder von Tausenden halb verdursteten Migranten, von der Polizei in einem Stadion zusammengetrieben, mit Schlagstöcken, Tränengasgranaten und Feuerlöschern traktiert, lösten Entsetzen aus. Aber die dramatischen Szenen auf der kleinen Insel sind nur die Spitze des Eisbergs eines unmenschlichen Umgangs Europas mit Flüchtlingen.
Es sind Bilder, die in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs unvorstellbar schienen. Ein regelrechter Flüchtlingstreck zieht von Griechenland über Mazedonien, Serbien und Ungarn Richtung Mitteleuropa. Große Teile des 4.000 Kilometer langen Weges aus Syrien nach Deutschland, Frankreich oder Schweden legen die Flüchtlinge zu Fuß zurück.
Die Reaktion der europäischen Regierungen auf diese von ihnen selbst und der Nato-Kriegspolitik geschaffenen humanitäre Krise besteht in weiterer Abschottung, Ausbau der Grenzanlagen und Verstärkung der Grenzpolizei. Die Rücksichtslosigkeit und Aggressivität, mit der die Europäische Union gegen die Flüchtlinge vorgeht und sie ohne Nahrung, Wasser, Unterkunft und sanitäre Einrichtungen auf ihrem Weg ihrem Schicksal überlässt, ist atemberaubend.
Gestern Abend kündigte Innenminister Thomas de Maizière (CDU) ein verschärftes Abschreckungsprogramm durch schlechte Unterbringung, Streichung von Bargeld, Beschränkung der Sachmittel und schnelle Abschiebung an.
Griechenland
Bis Ende Juli registrierte die europäische Grenzschutzagentur Frontex 130.500 Flüchtlinge an den griechischen Grenzen. Allein im Juli waren es 49.500, im gesamten Jahr 2014 waren es noch 41.000. Nach Angaben von Frontex stammen neunzig Prozent der Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan. Bei den restlichen zehn Prozent handelt es sich vor allem um Iraker und Pakistani.
In der Ägäis, wo die griechischen Inseln von der türkischen Küste mit bloßem Auge zu erkennen sind, landen die Flüchtlinge mit Schlauchbooten vor allem auf den Inseln Kos, Samos, Lesbos und Chios.
Unmenschliche Zustände, wie sie jetzt auf Kos bekannt geworden sind, meldete die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) bereits im Juli auch von Lesbos. „Dass die Menschen in verlassenen Gebäuden oder auf Müllfeldern sich selbst überlassen bleiben, wo kaum Zugang zu Wasser oder gar Toiletten besteht, ist einfach inakzeptabel und bringt die Gesundheit dieser Menschen in Gefahr“, erklärte Elisabetta Faga, Koordinatorin des Noteinsatzes von Ärzte ohne Grenzen (MSF) auf Lesbos gegenüber ProAsyl.
Die Situation auf Lesbos sei das Schlimmste, was er je in Europa gesehen habe“, berichtete ein Sprecher von Ärzte ohne Grenzen. Das Erstaufnahmelager auf der Insel, wo täglich bis zu 1.000 Flüchtlinge anlanden, ist völlig überfüllt. Hunderte zelten vor dem Lager, weitere 3.000 in einem provisorischen Zeltlager in der Nähe.
Ein afghanischer Flüchtling berichtete ProAsyl gegenüber, dass ein Caterer täglich nur 150 Mahlzeiten für über 1.000 Menschen gebracht habe. Vor den wenigen, übel riechenden Duschen habe es lange Schlangen gegeben. „Die Situation hat einige in den Wahnsinn getrieben. Ich habe mich dort kein einziges Mal gewaschen.“
Es dauert Tage bis die Flüchtlinge registriert sind und weiter nach Athen gebracht werden. Auch dort übernachten viele im Freien. Eine Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation berichtete gegenüber ProAsyl von den Zuständen in der griechischen Hauptstadt: „Die Situation ist äußerst kritisch. Von Seiten der Regierung gibt es keine Unterstützung. Kindern, Frauen und Männern fehlt es am Grundlegendsten: Es mangelt an Essen, Wasser und Medizin. Einige AnwohnerInnen haben begonnen, Kleider, Schuhe und andere Dinge für die Flüchtlinge zu bringen, aber das reicht bei Weitem nicht aus.“
Von Athen aus müssen die Flüchtlinge zu Fuß weiter über Thessaloniki zur Stadt Idomeni, die viele nur völlig entkräftet erreichen, darunter Familien mit Kleinkindern, schwangere Frauen, Alte, die den Weg laufen müssen.
Die griechische Syriza-Regierung zeigt keinerlei Interesse, die Situation für die Flüchtlinge zu verbessern, im Gegenteil. Auf die Inseln werden Polizeieinheiten zur Aufstandsbekämpfung verlegt. Der griechische Minister für Bevölkerungsschutz Yiannis Pangasius will die Anstrengungen verstärken, Flüchtlinge an der Einreise zu hindern. Dazu soll offenbar auch wieder auf das völkerrechtswidrige Mittel der Push-Back-Operationen zurückgegriffen werden.
Die Syriza-Regierung hatte diese Operationen, bei denen zuvor mit äußerster Brutalität Flüchtlingsboote zur türkischen Küste zurückgedrängt worden waren, im Februar gestoppt. Im Juli hat jedoch ein Newsblog ein Dokument veröffentlicht, in dem die Einheiten der Küstenwache in der Ägäis angewiesen werden, bei Entdeckung eines Flüchtlingsbootes Maßnahmen „zur Vorbeugung der Einreise auf griechisches Territorium“ einzuleiten.
Die tageszeitung berichtete erst kürzlich von vier Vorfällen, bei denen nach Informationen der Flüchtlingsinitiative „Watch the Med“ maskierte Spezialeinheiten der griechischen Küstenwache Flüchtlingsboote geentert, den Motor ausgebaut oder Benzin mitgenommen hätten. Die Boote trieben daraufhin hilflos im Meer bis die türkische Küstenwache sie aufgriff und zurück an die türkische Küste brachte.
Nach einem Bericht der türkischen Zeitung Hürriyet haben türkische Fischer sogar beobachtet, wie ein griechisches Küstenwachboot ein mit rund 50 syrischen Flüchtlingen besetztes Flüchtlingsboot zum Sinken gebracht hat.
Mazedonien
An der Grenze müssen die Flüchtlinge wieder in der sengenden Sonne ausharren, bis sie registriert werden. Dem Deutschlandfunk berichtete an der griechisch-mazedonischen Grenze ein irakischer Familienvater aus Mossul von seiner Odyssee: „Ich habe nie gedacht, dass ich so etwas Furchtbares durchmachen muss. In Griechenland, in diesem Elendslager, habe ich mich selbst nicht mehr wiedererkannt und mich gefragt: Was zur Hölle trieb mich dazu, das alles hier durchzumachen. Aber es war ja die Hölle, die mich aus meiner Heimat vertrieben hat.“
Sein Ziel ist England, aber „es gibt keinen legalen Weg für uns Flüchtlinge“, beklagt er, „wir müssen illegal von Grenze zu Grenze.“
Der Zug der Flüchtlinge durch Mazedonien ist seit Jahresbeginn stetig angeschwollen. Im Juni waren es bereits täglich mehrere hundert Flüchtlinge, die das Land durchquerten, im August dann 2.000. Die Route quer durch Mazedonien birgt viele Gefahren. Ende April waren vierzehn Flüchtlinge, die entlang der Haupteisenbahnroute marschierten von einem Zug erfasst und getötet worden.
Zudem ist die mazedonische Polizei dafür berüchtigt, von Flüchtlingen Geld abzupressen, sie zu misshandeln oder auch willkürlich abzuschieben oder zu inhaftieren und in ein Lager nahe der Hauptstadt Skopje einzupferchen.
Bis Ende Juni stand es in Mazedonien unter Strafe, Flüchtlingen bei der Weiterreise zu helfen. Auch die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel war den Flüchtlingen untersagt. Jetzt bekommen sie immerhin eine Durchreiseerlaubnis und das Recht, die Eisenbahn zu nutzen, wenn sie Mazedonien innerhalb von 72 Stunden wieder verlassen.
Serbien
Hinter der mazedonisch-serbischen Grenze liegt die Stadt Presovo, das nächste Ziel der Flüchtlinge. Auch hier kommen täglich bis zu 2.000 Flüchtlinge an und die lokale Polizeibehörde ist völlig überfordert, die Flüchtlinge zu registrieren und zu versorgen. Das serbische Rote Kreuz kann sich nur völlig unzureichend um die Menschen kümmern, die vor der Polizeistation campieren müssen.
Die verteilten Lebensmittel reichen nur für ein Drittel der Flüchtlinge. Dem Onlinemagazin Sieh die Welt erklärt Muhammed, der mit seiner siebenköpfigen Familie aus Damaskus geflohen ist: „Wir haben nichts! Unser Essen geben wir den Kindern und den Alten.“ Wie in Griechenland haben auch in Presovo Bewohner zur Selbsthilfe gegriffen und leerstehende Gebäude und Lebensmittel für einen Teil der Flüchtlinge organisiert.
Erreichen die Flüchtlinge die Hauptstadt Belgrad, müssen sie wieder unter freiem Himmel schlafen. Neben dem Busbahnhof in einem Belgrader Park sitzen hunderte Syrer fest, ohne Toiletten. Ihre Kinder schlafen einem Bericht des österreichischen Standard zufolge auf Pappdeckeln unter Parkbänken.
„Was soll ich Angst haben vor dem Tod? Hinter mir ist nur Tod, und wenn vor mir der Tod ist, dann ist mir das auch egal“, zitiert die Zeitung Maher aus dem syrischen Aleppo.
„Die Ansage, dass an der Grenze zwischen Ungarn und Serbien ein Zaun gebaut wird, hat dazu geführt, dass die Flüchtlinge versuchen, noch schneller nach West- oder Nordeuropa zu kommen“, erklärt Hans Schodder, der Leiter des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in Serbien, den wachsenden Flüchtlingstreck.
Ungarn
Ungarn ist zurzeit für viele Flüchtlinge das Nadelöhr in die EU. In diesem Jahr wurden in dem Land bereits mehr als 100.000 Flüchtlinge registriert, aber die wenigsten bleiben dort. Zu keinem Zeitpunkt sollen sich mehr als 10.000 bis 15.000 Flüchtlinge gleichzeitig in Ungarn aufgehalten haben. Die repressive Asylpolitik der rechtsextremen Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban veranlasst viele Flüchtlinge, das Land Richtung Österreich, Deutschland, Schweden, Frankreich oder England schnell wieder zu verlassen.
In Ungarn werden Flüchtlinge als illegale Immigranten kriminalisiert und inhaftiert. Als Reaktion auf die wachsende Anzahl von Asylbewerbern lässt die Regierung einen vier Meter hohen Zaun an der 175 Kilometer langen Grenze zu Serbien errichten, der mit Natostacheldraht bewehrt ist. Häftlinge und Sozialhilfeempfänger wurden zwangsverpflichtet, die Armee beim Bau des Zauns zu unterstützen.
Außerdem plant die Regierung Orban Massendeportationen von Flüchtlingen zurück nach Serbien. Die dortige Regierung arbeitet offensichtlich wiederum mit der EU zusammen, um in Serbien vor den Toren Europas Aufnahmelager für Flüchtlinge zu errichten. Eine humanitäre Katastrophe scheint dann bereits vorprogrammiert. „Es kann doch nicht sein, dass Europa nichts aus den Tragödien des 20. Jahrhunderts gelernt hat“, sagte dazu Hans Schodder vom UNHCR gegenüber dem Standard.
Fliehen die Menschen weiter nach Österreich oder Deutschland werden sie erneut registriert, in Lager mit menschenunwürdigen hygienischen Zuständen gesteckt, unzureichend mit Lebensmitteln versorgt und als „Sozialtouristen“ oder „Asylmissbraucher“ denunziert.
Auch Claudia Roth, die Vizepräsidentin des deutschen Bundestages und Abgeordnete der Grünen, war die letzten beide Tage auf der griechischen Insel Kos. Die Verhältnisse dort empfand sie als demütigend und menschenverachtend: „Ich habe schon viel erlebt, ich war schon in vielen Flüchtlingslagern in der Welt. Doch das, was ich mitten in Europa erlebt habe, war wirklich die Hölle.“
Sie unterschlug dabei ihre eigene Verantwortung. Denn es war ihre Partei, die während der rot-grünen Bundesregierung 1998 bis 2005 mithalf, beim Krieg der Nato gegen Serbien Teile des Balkans zu verwüsten und die Infrastruktur zu zerstören. In diese Zeit fallen auch eine Reihe von Initiativen, Richtlinien und Maßnahmen auf EU-Ebene, die die rot-grüne Regierung mitgetragen wenn nicht sogar initiiert hat, die den Flüchtlingen heute das Leben so schwer machen, wie etwa die Gründung der Grenzschutzagentur Frontex.
Quelle: wsws.org vom 15. August 2015
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