Drei Lügen der Erasmus-Linken über die EU
Dan Mizrahi & Simon Zinnstein. Im Zuge der Europawahl zeigt sich erneut: Linksliberale haben keine echte Perspektive für die Arbeiter:innen und die Jugend. Wir entlarven ihre Illusionen.
Nichts ist so lost wie die „Geht-Wählen“-Propaganda der Erasmus-Linken. Sie denken ernsthaft, dass man die Rechte an der Wahlurne schlagen könnte. Anstatt sich nur zu freuen, dass sie ein kostengünstigeres Auslandssemester machen konnten, verinnerlichen sie die imperialistische Ideologie der EU und feiern die Scheindemokratie. Wir entlarven ihre drei größten Illusionen in die Europäische Union.
„Die EU und ihre Institutionen sind ein Friedensprojekt: Sie sind eine richtige Konsequenz aus der Geschichte und ein Bollwerk gegen Nationalismus“
In Schulen und Universitäten wird gelehrt, dass nach der Niederlage Nazi-Deutschlands endlich Frieden in Europa eingekehrt sei, der sich in Institutionen wie der EU manifestiert habe. Das war aber nicht unbedingt der Fall. Quer durch Europa zog sich ein Eiserner Vorhang. Die USA wollten mit aller Macht ihre Vormachtstellung gegenüber der Sowjetunion sichern. Für ihre politische Stabilität sahen sie gesicherte wirtschaftliche Verhältnisse als Grundlage an, und so forcierte die US-Regierung mit dem „Marshall-Plan“ den Wiederaufbau Westeuropas. Um die wirtschaftlichen Maßnahmen zu koordinieren, gründeten die USA zusammen mit 16 „nicht-kommunistischen“ europäischen Staaten 1948 den Europäischen Wirtschaftsrat (EWS). Mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) sollte 1952 sogar eine europäische Armee geschaffen werden, das Projekt scheiterte jedoch knapp. Stattdessen wurde die westdeutsche Wiederbewaffnung durch den NATO-Beitritt der BRD ermöglicht. Dies zeigt deutlich, dass die Vorläufer der EU nicht auf Frieden sondern auf wirtschaftliche und militärische Aufrüstung gegen die Sowjetunion angelegt waren.
Die „bürgerliche Restauration“ – die Wiedereingliederung der DDR und weiterer ehemaliger Ostblockstaaten in den Kapitalismus – führte dann zu einer grundlegenden Veränderung des Charakters der europäischen Institutionen. Mit dem Vertrag von Maastricht wurde 1993 die Europäische Union (EU) gegründet und etwas später der Euro als Währung eingeführt. Diese Verträge entstanden vor dem Hintergrund der neu gewonnenen Absatzmärkte in Osteuropa und des großen Angebots an billigen Arbeitskräften, das vor allem Deutschland ausnutzt. Damit einher ging eine ganze Reihe von Privatisierungen: Allein in Deutschland wurden Post, Bahn und Telekom als prominente Beispiele privatisiert. Für die Arbeiter:innen bedeuten die Privatisierungen mehr Leistungsdruck, große Lohnunterschiede zwischen Ost und West und Arbeitsplatzabbau und -verlagerung sowie eine Schwächung der Gewerkschaften. Mit dem Platzen der Dotcom-Blase und der Finanzkrise 2007/2008 erlitt die EU schwere Rückschläge. Die Kosten wurden brutal auf den Rücken der Arbeiter:innen abgewälzt. Besonders in Griechenland wurde mit Hilfe der Troika und einer linksreformistischen Regierung ein brutales Spardiktat durchgesetzt. Die EU hat dabei erneut ihren brutalen Charakter als neoliberales Projekt unter deutsch-französischer Hegemonie gezeigt. Seit dem Ukrainekrieg rasseln die europäischen Staaten kollektiv mit Säbeln und rüsten auf Kosten der Arbeiter:innen im Eiltempo auf. Dies ist eine Fortführung der militaristischen Politik, die sie schon seit Jahrzehnten praktizieren. Das Beispiel der Ukraine zeigt, dass es der EU nicht um Menschenrechte geht, sondern um wirtschaftliche Interessen. Die Ukraine ist von geopolitischen Interesse für die EU und deshalb wird darüber hineingeschaut, dass sie eines der korruptesten Länder in Europa ist. Im Zuge eines EU-Beitritts würde es weitergehende Privatisierungen geben und die Rechte der Gewerkschaften würden weiter eingeschränkt werden.
„Frontex muss man kritisch betrachten, aber für die Freizügigkeit und den kulturellen Austausch kann man die EU schon feiern“
In abgewandelter Form begegnet uns auch dieses Argument relativ oft – eine vollkommen richtige und deutliche Ablehnung der mörderischen Praxis an den EU-Außengrenzen ist in den reformistischen Parteien, NGOs und selbst in Teilen der Regierungsparteien eine weitverbreitete Meinung. Als große Errungenschaften hingegen werden die in der EU herrschende Personenfreizügigkeit und Kulturprogramme wie Erasmus oft als Gegenargumente vorgebracht, die das andere Gesicht der Europäischen Union zeigen sollen.
Die Europäische Union, wie eingangs erwähnt, ist ein kapitalistisches Herrschaftsinstrument, das vordergründig der deutschen und französischen wirtschaftlichen Hegemonie dient. Die vielbeschworene „Personenfreizügigkeit“ ist in der Realität eine der Kapital- und Warenverkehrsfreiheit untergeordnete Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Das heißt in der Praxis, dass dieses Recht nicht uneingeschränkt für alle gilt, sondern stark von der eigenen ökonomischen Verwertbarkeit abhängt. Unter bestimmten Voraussetzungen können EU-Bürger:innen beispielsweise so vom Bezug von Sozialleistungen ausgeschlossen werden. Die europäischen Verträge sehen auch Übergangsregelungen für neue Mitgliedsstaaten vor, die die Personenfreizügigkeit für eine Zeit stark einschränken, damit die „Empfängerstaaten“ nicht „überfordert“ werden. Deshalb werden die Diskussionen um die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten in der Regel von einem chauvinistischen Diskurs zur sogenannten „Armutszuwanderung“ wie zuletzt bei Bulgarien und Rumänien begleitet.
Besonders mit Blick auf die Landwirtschaft, die Bauwirtschaft, auf den Warentransport und die Fleischproduktion wird schnell klar, dass diese „Freiheit“ eigentlich nur ein Recht darauf ist, sich von deutschen Konzernen ausbeuten zu lassen. Dass diese Ausbeutung System hat, zeigten besonders die Skandale zum Anfang der Corona-Zeit, als sich rumänische und bulgarische Arbeiter:innen in einer Tönnies-Fabrik aufgrund der geradezu menschenunwürdigen Bedingungen in ihren Unterkünften und am Arbeitsplatz mit Corona infizierten. Ähnlich verhält es sich in der Agrarwirtschaft, wo jedes Jahr rund 100.000 sogenannte Saisonarbeiter:innen (entweder aus Osteuropa oder aus dem Balkan) auf den Äckern Deutschlands brutal ausgebeutet werden. Dabei bekommen sie oft weniger als den Mindestlohn. Nach einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit waren Mitte letzten Jahres rund 124.000 „ausländische abhängig Beschäftigte in der Landwirtschaft, im Gartenbau und Forst“ tätig, davon etwa 50.000 kurzfristig beschäftigt und deshalb zumeist nicht sozialversichert. Es wird täglich bis zu zwölf Stunden lang geschuftet, eine Krankenversicherung gibt es selten und die Kosten für die Unterkunft und Verpflegung werden vom Lohn oft abgezogen.
Insbesondere seit der Neoliberalisierung Deutschlands im Zuge der Hartz-Reformen diente die Arbeitnehmerfreizügigkeit stets als die schärfste Waffe des deutschen Kapitals, um die Löhne aller Arbeiter:innen zu drücken und Deutschland den größten Niedriglohnsektor Europas zu bescheren.
Die Militarisierung der europäischen Außengrenzen und die rassistischen und mörderischen Praxen von Frontex stehen gar nicht im Widerspruch zur Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die rassistische Erzählung von „offenen Grenzen nach innen und Schutz der Grenzen nach außen“ hat für die EU und für das europäische Kapital einen riesigen Mehrwert. Zum einen zur Wahrung der vier Freiheiten und insbesondere der Kapitalfreiheit aber zum anderen zur Herstellung und Aufrechterhaltung eines Konsenses für ein ausbeuterisches Regime, das nur den allerwenigsten zugute kommt, indem vor dem „Fremden“ an den Außengrenzen gewarnt wird. In diesem Sinne sind auch Initiativen (wie beispielsweise das Erasmus-Programm) zur Förderung einer gemeinsamen europäischen „Identität“ zu betrachten und nicht als Geschenke oder Errungenschaften.
Wegen der Stellung Europas als protektionistischer Handelsblock im kapitalistischen Weltsystem kann man von der imperialistischen Ausplünderung abhängiger Länder durch die EU nicht schweigen, die auch überhaupt erst die Bedingungen dafür schafft, dass sich Menschen auf die Flucht begeben müssen. Allzu gerne werden zur Wahrung der „Freiheiten“ im Inneren der EU diese Menschen dann als „Wirtschaftsflüchtlinge“ an den europäischen Außengrenzen niedergemacht. In vielen Ländern Afrikas hingegen hat die gemeinsame europäische Handelspolitik nichts außer ökonomische Verwüstung hinterlassen. Exemplarisch hierfür steht die europäische Fleischindustrie. Durch den jährlichen Export von etwa 670.000 Tonnen billigen Geflügels haben europäische Konzerne die afrikanischen Agrarwirtschaft dermaßen unterboten, dass afrikanische Kleinmäster:innen und Kleinbäuer:innen einfach nicht mehr mithalten können und ihre Existenzen dabei verlieren. Und wehe, wenn man nun denkt, diese billigen Preise würden an die Konsument:innen weitergegeben – im Gegenteil. Diese Ausplünderung hat zu noch mehr Hunger und mehr Arbeitslosigkeit geführt und zu fetten Renditen in den Taschen europäischer Kapitalist:innen.
Was heißt all das für uns? Anders als souveränistische Strömungen der Linken, die all das zum Anlass nehmen, sich mit chauvinistischen Argumenten gegen die in der EU herrschenden Personenfreizügigkeit zu stellen, kämpfen wir für ihre Verwirklichung. Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir für eine Öffnung der Grenzen nach innen und nach außen – ohne Einschränkungen. Das beinhaltet für uns die Abschaffung rassistischer Praktiken bei Visa, die Anerkennung von Abschlüssen und den Kampf, angeführt von den Gewerkschaften, für volle staatsbürgerlichen und politischen Rechte für alle in Europa lebenden Menschen, ohne Unterschied zwischen EU-Bürger:innen und Nicht-EU-Bürger:innen oder Deutschen und Nicht-Deutschen.
„Wählen gehen! Wir müssen die EU gegen die Rechten verteidigen“
Die neoliberalen Privatisierungen und Kürzungen haben große Unzufriedenheit mit der EU und ihren bürokratischen Apparaten geschaffen. Auch die verschärfte Konkurrenz zwischen Arbeiter:innen in verschiedenen Ländern spielt ihre Interessen gegeneinander aus und verstärkt den chauvinistischen Druck. Auch die Umstrukturierungen wie bei Goodyear oder Michelin und die Verlagerung von Arbeitsplätzen nach Osteuropa und Zentralasien tragen im Zuge einer möglichen Deindustrialisierung dazu bei. Die Politik der EU hat einen Nährboden geschaffen, in dem die Rechte aufsteigen konnte. Währenddessen passt sich die politische Linke in ganz Europa immer mehr an die EU an, sodass der Nationalismus der Rechten in der Bevölkerung als einzige Alternative zur EU wahrgenommen wird. Selbst linke Versuche, sich mit der EU im Rahmen des Systems anzulegen, sind kläglich gescheitert. Die griechische Schwesterpartei der Partei DIE LINKE, Syriza, konnte nicht einmal mit einem Generalstreik im Rücken die Spardiktate abwehren, auch weil sie auf Verhandlungen mit den Institutionen setzte. Sie hat am Ende sogar das Spardiktat der EU gegen den Generalstreik durchgesetzt. Seitdem hat DIE LINKE ihren Slogan, dass die EU „militaristisch, neoliberal und undemokratisch“ sei, einfach gestrichen. Sie will die EU ausbauen und vermeintlich sozialer machen. Die rücksichtslose, hegemoniale Rolle des deutschen Kapitals und die brutale, neoliberale Ausbeutung stellt sie nicht grundlegend in Frage.
Doch auch der Nationalismus der Rechten ist letztlich keine Opposition gegen die EU. Selbst die AfD als Partei, die so rechts ist, dass ihre europäischen Partnerparteien nicht mehr mit ihr in einer Fraktion sein möchten, spricht nur davon, dass sie „Europa neu denken“ wolle. Das bedeutet, dass sie zwar mehr Nationalismus predigen, aber gleichzeitig die Kapitalfreiheit innerhalb der EU „gewährleisten“ wollen. Sie ist und bleibt also nur eine Scheinopposition.
Wir verteidigen nicht die EU gegen die Rechten, wir stellen dem Nationalismus der extrem Rechten und dem Neoliberalismus der extremen Mitte eine echte Perspektive im Interesse der Arbeiter:innen entgegen: Wir denken nicht, dass es für offene Grenzen für Privatpersonen ein EU-Parlament voller Technokrat:innen und Schmarotzer:innen braucht. Stattdessen wollen wir dafür kämpfen, dass die Kapitalist:innen für ihre Krisen zahlen. Große Unternehmen habe sich lange genug bereichert, sie müssen unter Kontrolle der Beschäftigten verstaatlicht werden. So kann auch ein ökologischer Wandel und Sofortmaßnahmen gegen die Klimakatastrophe ermöglicht werden, ohne dass die arbeitende Bevölkerung dafür zahlt. Auch gleicher Lohn für gleiche Arbeit und eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit sind so möglich. Die Rechte von LGBTQI+ und Migrant:innen sind für uns nicht nur eine EU-Imagekampagne, wir wollen sie wirklich erreichen. Frieden kann man nicht mit Diplomatismus oder Aufrüstung sichern, sondern durch selbstständige Aktionen der Arbeiter:innen wie Streiks gegen Waffenlieferungen. Es ist politisch völlig begrenzt, das kleinere Übel zu wählen und dabei zu hoffen, dass damit die Rechte prozentual etwas geschwächt wird. Anstatt wie die Erasmus-Linke für die EU zu werben, wollen wir eine Perspektive bieten, die die Arbeiter:innen und Unterdrückten vereinigen kann: Die Forderung der vereinigten sozialistischen Staaten von Europa, die auf der „Eroberung von Arbeiter:innenregierungen, die mit dem Kapital brechen und auf der Mobilisierung und Selbstorganisation der Arbeiter:innenklasse und der Massen fußen“.
Quelle: klassegegenklasse.org… vom 8. Juni 2024
Tags: Arbeiterbewegung, Breite Parteien, Europa, Imperialismus, Postmodernismus, Sozialdemokratie, Strategie
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