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Asow droht Friedenswilligen in der Ukraine: „Kein Frieden ohne Sieg“

Eingereicht on 2. Juli 2024 – 10:55

Florian Rötzer. Der ukrainische Präsident Selenskij hat nach dem Scheitern seiner Friedenskonferenz in der Schweiz noch in diesem Jahr eine zweite angekündigt, die nicht in einem westlichen Land stattfinden und Frieden bringen soll. Er hält daran fest, wie er noch einmal in einem Interview deutlich machte, dass die Ukraine mit dem Rückhalt vieler Staaten den Frieden diktieren kann, direkte Gespräche mit Russland lehnt er weiter ab, nach einem Dekret von ihm dürfte er auch gar mit Putin verhandeln.

Wie in der ersten Friedenskonferenz soll unter seiner Federführung und seiner „Friedensformel“, die den Rückzug der russischen Truppen hinter die Grenzen von 1991, Reparationszahlungen und Verfolgung von Kriegsverbrechen fordert, eine Gemeinschaft von mächtigen Staaten Russland zu einer Friedenslösung zwingen. Die Ukraine könne nicht mit Russland direkt verhandeln, das würde nicht den Krieg beenden, sondern Russland ermutigen, Europa und Amerika anzugreifen. Das ist auch das Narrativ, das die Kriegsertüchtiger und Aufrüster in den USA, der Nato, Deutschland und anderen Nato-Staaten erzählen, um die Unterstützung der Ukraine und wachsende Ausgaben für das Militär zu rechtfertigen. Daher Selenskijs Logik: „Es ist die Ukraine, die alle demokratischen Länder verteidigt, die Putin in Zukunft angreifen wird.“ Es ist der alte Slogan, dass die westliche Welt, die Freiheit, die EU, Deutschland etc. je nachdem in Afghanistan, im Indopazifik, in Mali, in Syrien oder wo auch immer verteidigt wird.

Vor allem ging es in dem Gespräch darum, was Selenskij unter Sieg verstehen will, denn der ist für ihn Voraussetzung für den Beginn von Gesprächen. Auch die USA und andere Länder würden weiterhin auf Sieg setzen, sagte er. Aber die Vorstellungen würden voneinander abweichen: „Der Westen wollte Putin die Möglichkeit verwehren, die Ukraine vollständig zu besetzen und den Aggressor in seine Schranken zu weisen. Ich denke, für sie ist das schon ein Sieg. Aber für uns, für die Menschen an der Front, die ihre Waffenbrüder verloren haben, für die Zivilisten, die ihre Angehörigen verloren haben, für diejenigen, die ins Ausland geflohen sind, aber ihre Männer an der Front haben – für uns ist der Sieg ein Moment der Genugtuung. Wir sind dankbar, dass der Westen uns nicht [vollständig] von Russland besetzen ließ, aber wir brauchen Gerechtigkeit.“

Trudy Rubin vom Philadelphia Inquierer deutet dies so, dass Selenskij, der immer oder nur noch eine Zustimmungsrate von 60 Prozent hat, auf die Menschen und Soldaten hören müsse, die nicht akzeptieren würden, den Verlust eines Fünftels des Territoriums nach ihrem Leiden zu akzeptieren. Die Last würde man den Falten in seinem Gesicht ansehen. Ein „wirklicher Sieg“ bedeutet für Selenskij, Russland „nicht die vollständige Zerstörung von allem Ukrainischen zu erlauben“. In den besetzten Gebieten würde er die ukrainische Sprache, Kirche und Geschichte auslöschen (also just das, was Kiew mit dem Russischen macht). Der zweite Aspekt ist die Verhinderung von Putins angeblichem imperialistischem Ziel, das alte Russische Reich wiederherzustellen und die Sicherheit der Ukraine auch in Zukunft vor jedem russischen Angriff. Dazu müsse die Ukraine in die EU und in die Nato.

Aber der Westen, insbesondere Washington, habe Angst vor dem Zerbrechen Russlands und dem, was nach Putin kommt. Besonders gegen Biden äußert er Kritik, er handle nicht wie ein Weltführer, auch die Nato wird verurteilt, weil die Ukraine nicht aufgenommen wird und nicht genügend Waffen erhält. Daher könne Putin seine Strategie verfolgen, so viel wie möglich zu erobern: „Jeder Schritt auf unserem Territorium, jede Besetzung, jedes Dorf, selbst wenn es vollständig zerstört ist, ist für sie positiv, denn es ist wichtig für sie, so viel wie möglich zu verhandeln.“

Ein Waffenstillstand wäre für die Russen eine Pause und die beste Option, noch mehr zu erobern. Selenskij argumentiert nicht nur gegen die Aufnahme von Verhandlungen, sondern auch gegen einen Waffenstillstand. Er bleibt dabei, dass es Verhandlungen nur nach seiner „Friedensformel“ geben könne. Eine Aufgabe von Territorium sei nicht möglich. Als einzige Möglichkeit schlug er Verhandlungen über einzelne Themen wie zu dem Getreideabkommen vor, das auch einige Zeit gehalten habe. Damals wurden über den Vermittler Türkei zwei spiegelbildliche separate Abkommen geschlossen, so dass die Ukraine mit Russland nicht direkt verhandelte und ein Abkommen abschloss. Damit macht sich die ukrainische Regierung gewissermaßen die Hände nicht schmutzig.

In der Ukraine steht Selenskij unter hohem Druck, keine Verhandlungen aufzunehmen, die territoriale Zugeständnisse machen

Das ist kein gewöhnlicher politischer Druck, sondern Kiew ist Geisel der nur formal in die Streitkräfte oder die Nationalgarde  integrierten Freiwilligenverbände mit zehntausenden schwer bewaffneten Kämpfern. Schon nach der Wahl Selenskijs zum Präsidenten, der sie mit dem Versprechen auf ein Friedensabkommen auf der Grundlage der Minsker Abkommen, also durch die Gewährung eines Sonderstatus der beiden „Volksrepubliken“ (Steinmeier-Formel),  gewonnen hatte, zogen im Oktober 2019 Mitglieder der Freiwilligenverbände vor den Präsidentenpalast, versammelten sich auf dem Maidan oder marschierten durch Kiew, um durch Gefangenenaustausch und Truppenrückzug von der Front vorbereitete Verhandlungen zu verhindern, die als Verrat und Kapitulation bezeichnet wurden.

Ende Oktober 2019 geriet Selenskij an der Front in der Stadt Zolote in Streit mit einigen Mitgliedern des Nationalen Korps von Asow, die gegen den wechselseitigen Truppenrückzug um einen Kilometer protestierten, weil das Kapitulation bedeuten würde. Er unterblieb auch erst einmal. Das Video von der Auseinandersetzung ging durch das Internet, Selenskij erklärte, er sei Präsident und kein Loser, man könne ihm keine Ultimaten stellen. Sie sollten die Waffen wegstecken  – sie hatten offensichtlich Waffen in ihrer Unterkunft – und keine Demonstrationen machen.

Andriy Biletsky, der damalige Chef des Nationalen Korps und des Asow-Bataillons, drohte, dass mehr Veteranen nach Zolote kommen würden, wenn der Präsident versuchen sollte, sie von dort zu vertreiben: “Es werden Tausende anstatt nur Dutzende sein.“ Es gab auch Morddrohungen. Sofia Fedyna, Abgeordnete der Europäischen Solidarität von Petro Poroschenko, sagte in einem Video: „Der Herr Präsident denkt, er ist unsterblich. Zufällig könnte dort eine Granate explodieren.“

Durch den Druck der Freiwilligenverbände liefen die Versuche aus, eine friedliche Lösung zu finden. Die Freiwilligen haben ihre Identität im Krieg gefunden, sie wollen keine Verhandlungen, sondern setzen auf Krieg – und danach auf einen militarisierten Staat. Selenskij zögerte die Umsetzung des Minsker Abkommens hinaus, schloss Abkommen, dass Nato-Verbände in der Ukraine Übungen abhalten und ukrainische Truppen in Nato-Staaten ausgebildet werden können. Mit der Unterzeichnung des Dekrets „Über die Strategie der Deokkupation und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Territoriums der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“, das vom Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats stammte, setzte Selensky die Weichen auf Konflikt (Die ukrainische Traumstrategie zur Beendigung der Besatzung der Krim).

Der Präsident und der Asow-Offizier im Machtkampft

Jetzt gerät Selenskij wieder unter Druck der Freiwilligenverbände, die ihn bislang als Oberbefehlshaber wegen seiner Popularität akzeptiert haben. Nachdem die Amerikaner das Verbot aufgehoben haben, Waffen an Asow zu liefern, äußerte der Asow-Vize-Kommandant Bohdan Kroteyvch scharfe Kritik an Generalleutnant Yury Sodol, der im Februar zum Kommandeur der Gemeinsamen Streitkräfte ernannt worden war, nachdem Saluschnyi seinen Posten als Oberkommandierender verloren hatte. Am 23. Juni reichte Kroteyvich eine offizielle Beschwerde gegen Sodol bei der Ermittlungsbehörde SBI ein, weil seine Kritik von den Vorgesetzten nicht aufgegriffen worden war.

Er forderte öffentlich auf seinem Telegram-Account eine Untersuchung und sprach auch von Kriegsverbrechen, da dieser „mehr ukrainische Soldaten getötet hat als jeder russische General“ und gegen unliebsame Offiziere vorgegangen sei. Er schrieb erzürnt, der Rubikon sei überschritten. Den Namen nannte er nicht, er kam allerdings bald im Umlauf. Für eine öffentliche Kritik an Vorgesetzten im Krieg würde eigentlich für einen Offizier eine Strafe folgen. Der Asow-Mann, der auch in Mariupol dabei war, sagte, das gehe Risiko gehe er ein. Daraus kann man schließen, dass es sich auch um ein Austesten gehandelt hat. Das hat er gewonnen.

Selenskij entließ postwendend am 24. Juni Sodol und ersetzte ihn durch den jüngeren Brigadegeneral Andrii Hnatov, der seit 2022 Vizekommandeur im Südkommando war. Den billigt Kroteyvich. Die schnelle Reaktion von Selenskij zeigt, welchen Einfluss Asow und die Freiwilligenverbände haben. Kyiv Post schrieb, der Präsident musste sich zwischen dem General und dem Asow-Offizier entscheiden. Selenskij ist nicht nur militärisch auf die Freiwilligenverbände angewiesen, er muss auch fürchten, dass diese ihn stürzen oder zumindest seine Macht untergraben könnten:  „In der ukrainischen Freiwilligenbewegung mit mehreren Millionen Mitgliedern – die alle potenzielle Zelenski-Wähler sind – findet das Ausmisten und Ersetzen der sowjetisch ausgebildeten höheren Offiziere durch eine neue, jüngere Generation von Generälen wie Hnatow breite Unterstützung“, so Kyiv Post. Die Armee besteht aus vielen Freiwilligenverbänden, „die kämpfen und sich opfern wollen, aber oft nicht blind Befehlen folgen oder perfekte Soldaten sein wollen“.

Dass es um ein Austarieren der Machtverhältnisse geht, lässt sich auch aus dem jüngsten Vorstoß von Kroteyvich schließen. Er drohte denjenigen, die einen Waffenstillstand an der Front befürworten: „Kein Frieden ohne Sieg“, so die von ihm ausgegebene Devise: „Es gibt nur einen Sieg – kein einziger russischer Soldat auf dem Territorium der Ukraine. Wir werden diesen Krieg nicht unseren Nachkommen überlassen, und Sie werden es auch nicht tun, denn wenn Sie es versuchen, wird es schlimm sein. Sowohl für Sie als auch für sie. Wenn dies ein „Versuch“ ist, denken Sie nicht einmal daran. Ich habe mit Zurückhaltung geschrieben.“ Gemeint sein dürfte Selenskij, der noch in diesem Jahr eine zweite Friedenskonferenz mit Russland anstrebt, aber auch in der Ukraine glauben weniger an einen militärischen Sieg und wächst der Wunsch nach einem Ende des Krieges.

#Tittelbild: Asow-Offizier Bohdan Krotevych lehnt einen Waffenstilsstand ab und setzt Selenskij unter Druck. Bild: Telegramm-Account von Krotevych

Quelle: overton-magazin.de… vom 2. Juli 2024

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