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Gaza: Ein Krieg ohne Ende?

Eingereicht on 4. November 2024 – 10:56

Nathan Deas. Die Ermordung Sinwars stellt nach der Ermordung Hassan Nasrallahs einen weiteren taktischen und militärischen Erfolg für die Netanjahu-Regierung dar, die in den letzten Monaten ihre Offensive gegen die Hamas, die Hisbollah und andere mit dem Iran verbündete Milizen beschleunigt hat. Mit dem Tod Sinwars und davor Ismael Haniyehs, der im Juli von Israel in der iranischen Hauptastadt Teheran ermordet wurde, könnte der Hamas eine Führungspersönlichkeit mit ausreichender Autorität und Erfahrung fehlen, um die Organisation zu leiten – sowohl ihren militärischen Arm als auch die politische Verwaltung des Gazastreifens, die nach einem Jahr genozidalen Krieges in Trümmern liegt. Doch auch wenn die Auslöschung des Hamas-Anführers Anlass für Jubelszenen in den Straßen Israels war, wird die Realität bald mit einem lauten Knall wieder hervorkommen. Wer erinnert sich noch an Khalil al-Wazir? Abbas al-Musawi? Fathi Shiqaqi? Oder auch Ahmed Yassin? Sie waren die „Monster“ aus Israels Vergangenheit. Khalil al-Wazirs Kriegsname war Abu Jihad und er war zusammen mit Yasser Arafat einer der wichtigsten Führer des bewaffneten Arms der Fatah, deren Kräfte schließlich in der PLO aufgingen. Der Arzt Fathi Shiqaqi leitete den Palästinensischen Islamischen Dschihad, Abbas al-Musawi war vor Hassan Nasrallah Vorsitzender der Hisbollah, und Ahmed Yassin führte die Hamas an, nachdem diese Ende der 1980er Jahre von den palästinensischen Zweigen der Muslimbruderschaft gegründet worden war. Alle wurden nach spektakulären militärischen Geheimdienstoperationen durch Israel ermordet. Diese politischen und militärischen Morde haben jedoch nie zu greifbaren Erfolgen geführt – und die aktuelle Situation wird keine Ausnahme sein.

Obwohl es schwierig ist, genau zu wissen, was von der unbestreitbar geschwächten Hamas übrig geblieben ist (die IDF-Propaganda behauptet, dass mehr als die Hälfte ihrer Kämpfer tot sei), scheint die Organisation immer noch zu existieren. Dies zeigt sich vor allem in der Fortsetzung der Kämpfe im Gazastreifen, die den Charakter eines Krieges geringer Intensität angenommen haben, der angesichts der maximalistischen Ziele, die sich der israelische Staat gesetzt hat, endlos ist. Wichtiger noch: Obwohl es in Kriegszeiten sehr schwierig ist, die öffentliche Meinung zu erforschen, gibt es Anzeichen dafür, dass sich an der Unterstützung, die die Hamas vor den Angriffen vom 7. Oktober 2023 in Gaza genoss, wenig geändert hat. Im Westjordanland hat sie sogar erheblich zugenommen. Laut den Ergebnissen der letzten Umfrage, die das Palästinensische Zentrum für Politik- und Umfrageforschung (PSR) zwischen dem 26. Mai und dem 1. Juni 2024 durchführte, hielten 57 Prozent der Palästinenser:innen im Gazastreifen die Entscheidung, Israel am 7. Oktober anzugreifen, für richtig, was demselben Prozentsatz wie im Dezember 2023 entspricht. Im Westjordanland stieg die Zustimmung auf 73 Prozent, ein leichter Rückgang im Vergleich zum Dezember 2023, als 82 Prozent der Bewohner des Westjordanlands den Angriff für gerechtfertigt hielten. In einer Art Ausweichbewegung scheint jede Partei auch dort an Popularität zu gewinnen, wo sie nicht regiert: Im Westjordanland finden 82 Prozent der Bevölkerung, dass die Hamas in dem Konflikt zufriedenstellend gehandelt hat, während Abbas‘ Handeln nur 8 Prozent und das der Fatah 25 Prozent Zustimmung finden. Im Gazastreifen bleibt die Popularität der Hamas-Bewegung weiter hoch, da 64 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, dass die Hamas zufriedenstellend gehandelt hat. Die Popularität der Fatah stieg dort ebenfalls an, von 21 Prozent auf 32 Prozent zwischen Dezember und März, und blieb im Juni bei 23 Prozent. Indem sie die Gebiete wiedervereinigt und es der Hamas ermöglicht, sich in den Gebieten zu etablieren, aus denen die Palästinensische Autonomiebehörde sie vertrieben hatte, könnte die Partei, die den Gazastreifen regiert, ihre Wähler:innenbasis vergrößern und ihre Hegemonie über die palästinensische Politik vertiefen.

Eine Handvoll Hypothesen, wie Ryan Bohl für Stratfor festhält, ermutigen sogar zu der Annahme, dass ein Sieg der Hamas auf politischem Gebiet wahrscheinlicher ist. Wie die US-amerikanischen Präzedenzfälle in der Region steht auch Israel vor der Sackgasse eines neuen asymmetrischen Krieges „gegen den Terror“. Noch nie in der Geschichte war eine intensive Bombenkampagne eines Besatzers gegen einen Besetzten von Erfolg gekrönt. Die USA haben diese Taktik wie in Vietnam, in Nordkorea und während des Golfkriegs viele Male ausprobiert – immer ohne Erfolg. Vor diesem Hintergrund ist es zweifellos möglich anzunehmen, dass es der Hamas nicht nur gelingen wird, nach dem Krieg eine Position in Gaza zu behalten, sondern dass sie – gestärkt durch ein gewisses „Prestige“ – zu einem Bestandteil der Führung eines breiteren Kampfes werden könnte, der ohne konsequente politische Opposition seitens der Fatah vom Westjordanland, dem Libanon und Syrien aus geführt wird. Die Hamas-Bewegung hat übrigens die Integration in die PLO zu einem ihrer Hauptziele erklärt und setzt sich aktiv für die Abhaltung allgemeiner Wahlen in allen palästinensischen Gebieten ein, um aus ihrer großen Popularität im Westjordanland Kapital zu schlagen und sich an die Spitze der Palästinensischen Autonomiebehörde zu setzen. Dies ist die strategische Bedeutung der in Peking unterzeichneten Vereinbarungen zwischen vierzehn palästinensischen Fraktionen über die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit nach dem Krieg. Diese Möglichkeit ist umso wahrscheinlicher, als die IDF ihre Ziele im Gazastreifen bisher nicht erreichen konnte, während Israel die militärische Repression im Westjordanland mit täglichen tödlichen Razzien, Massenverhaftungen und einer beispiellosen Intensivierung des Siedlungsbaus verschärft hat. Diese Situation droht mehr denn je in einen Zweifrontenkrieg zu eskalieren (die offene Front im Libanon nicht mitgerechnet), obwohl Tel Aviv seit Jahren daran arbeitet, Gaza von den besetzten Gebieten zu trennen. Es liegt damit nahe, dass die israelische Armee wahrscheinlich weiterhin unfreiwillig der Hamas helfen wird, ihren Plan zu verwirklichen: eine Verbindung von Gaza mit dem globalen Kampf zur Befreiung Palästinas herzustellen.

Vor diesem Hintergrund und im Rückblick auf das vergangene Jahr scheint es schwierig, die Analyst:innen – ebenso wie die Erklärungen westlicher Politiker:innen – ernst zu nehmen, die versucht haben, Sinwars Tod zu einem Wendepunkt und Ausgangspunkt für eine „Deeskalation“ zu machen. Wahrscheinlich hat sich sogar gerade das genaue Gegenteil ereignet. Während die IDF am Tag nach dem 7. Oktober 2023 den Tod des Hamas-Anführers zu einem „entscheidenden“ Ziel gemacht hatte, trägt seine Ermordung paradoxerweise dazu bei, die Widersprüche in Israel zu verstärken. Netanjahu steht vor einer Entscheidung, die er bislang nicht treffen musste: Einerseits könnte der Druck für die Rückkehr der Geiseln und die gewaltigen Mobilisierungen der letzten Monate, insbesondere in Tel Aviv, wieder zunehmen und verstärkt werden. Diese stellen weder den kolonialen Charakter des Gaza-Krieges noch die Ausweitung der israelischen Operationen auf den Libanon in Frage, könnten aber dazu beitragen, Netanjahu innenpolitisch zu schwächen. Andererseits könnten die USA und andere imperialistische Mächte versucht sein, die Gelegenheit zu nutzen, um ein solches Ziel zu unterstützen und zu versuchen, einen Waffenstillstand zu erzwingen. Im Zusammenhang mit dem Libanon sind in den letzten Wochen im westlichen imperialistischen Block erste Risse in Bezug auf die bedingungslose Unterstützung Israels aufgetreten. Diese Reibungen zeugen davon, dass sich die Politik Israels verändert und in längerfristigen Veränderungen bezüglich seiner Stellung im imperialistischen System verwurzelt ist, da seine Position als Schlüsselgarant der westlichen Interessen in der Region geschwächt wird. Da der Architekt des 7. Oktober 2023 nun ermordet wurde, könnten diese Risse sich vertiefen.

Die US-Regierung versucht zwar, Netanjahu eine gewisse Zurückhaltung aufzuerlegen, aber die absolut vorrangige Natur der strategischen Allianz mit Israel und der hegemoniale Niedergang der USA begrenzen ihre Fähigkeit, Druck auf den israelischen Premierminister auszuüben. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass Sinwars Ermordung keines der Probleme der IDF gelöst hat. Der Tod eines Anführers ist nicht der Beginn einer politischen Lösung. Die Situation erinnert an den Beginn des Jahrhunderts, als die Hybris der USA in Afghanistan und im Irak die Phantasie von einem Regimewechsel zugunsten der Interessen des US-Imperialismus beflügelte. In dem Glauben, ein politisches und militärisches Problem mit einem Sturm aus Feuer und Blut lösen zu können, waren die USA in langwierige und letztlich erfolglose Besatzungen hineingezogen worden, die mangels einer politischen Lösung immer mehr Massaker, aber auch Widerstand hervorriefen. Während die menschlichen Kosten immens waren, haben zwei Jahrzehnte militärischer Aggressionen weder Demokratie noch die Ausrottung des Terrorismus gebracht – der Islamische Staat hat sich gerade auf den Ruinen der beiden Länder eingenistet, während die Taliban in Afghanistan wieder an die Macht gekommen sind. Im Falle Israels und seines „inneren“ Kolonialkriegs (der Unterschied ist bemerkenswert und radikalisiert die Feststellung) sind Sinwars Tod, die Unterstützung der Westmächte für diesen neuen „Krieg gegen den Terror“ und der Status quo der israelischen Sackgasse in Gaza ein weiteres Versprechen für die Aufrechterhaltung der laufenden Trends. Eine Sackgasse, die mehr denn je untrennbar mit den Dynamiken verbunden ist, denen der laufende Konflikt folgt.

Vom Sumpf in Gaza zu einer unvermeidlichen erweiterten Konfrontation

Israels Antwort auf den iranischen Raketenangriff vom 1. Oktober 2024 ließ fast einen Monat lang auf sich warten. Nach einer Vielzahl von Drohungen und Ankündigungen konnte man von Israel eine heftige Antwort erwarten, die vor allem auf die strategischen Interessen des Irans, die Öl- und sogar die Nuklearinteressen, abzielte. Die israelische Antwort nahm schließlich die Züge einer kalkulierten und maßvollen Reaktion an. Dies geschah zweifellos unter dem Druck seines US-amerikanischen Verbündeten, der besorgt war, dass der Konflikt im Vorfeld der Wahlen ernsthaft eskalieren könnte, und vielleicht auch aufgrund der Zurückhaltung des israelischen Staates selbst, der sich an mehreren Fronten im Kampf befindet und dessen beträchtliche militärische Macht allmählich erschüttert werden könnte. Israel scheint an drei großen Standorten etwa 20 Ziele anvisiert zu haben, darunter Produktionsstätten für Raketen und Flugabwehrbatterien. Israel scheint seinen Schlag also mit der Absicht geplant zu haben, die Zahl der Opfer möglichst gering zu halten und die Auswirkungen auf einem Niveau zu halten, das es dem Iran ermöglichen würde, größere Schäden zu leugnen und die Situation einzudämmen. Es handelt sich dabei um eine in größerem Maßstab durchgeführte Art desselben Gegenschlags, den Israel im April gestartet hatte, als die IDF das Zentrum des Iran ins Visier nahm.

Der Krieg, den Israel in Gaza und im Libanon führt, treibt den israelischen Staat offensichtlich zu einer größeren Konfrontation mit dem Iran. Weder Israel noch der Iran wollen derzeit einen regionalen Krieg, aber die Dynamik der Zerstörung, die Israel nach dem 7. Oktober 2023 in Gang gesetzt hat, lässt den israelischen Staat ohne Kriegsziel und ohne eine andere Perspektive als die der schlichten Vernichtung der Palästinenser:innen zurück. Es ist dieses politische Vakuum, das den Vertreter:innen der radikalsten ethnisch-rassistischen Rechten, die unverblümt zum Krieg gegen den Iran und im weiteren Sinne gegen jeden aktuellen oder potenziellen Feind aufruft, jede Menge Spielraum bietet. Der Minister für innere Sicherheit, Itamar Ben Gvir, erklärte am Tag nach dem israelischen Gegenschlag, der Angriff auf den Iran sei wichtig „als erster Schlag, um die strategischen Interessen des Iran zu schädigen, und [dies] müsse der nächste Schritt sein“. In der Tat ist es wahrscheinlich, dass die Spannungen in den nächsten Wochen wieder abflauen werden. Gleichzeitig scheint es jedoch, dass der Verlauf des Konflikts den Akteuren, insbesondere Israel, weitgehend entgleitet.

Seit dem Ersten Golfkrieg zwischen Iran und Irak (1980-1988) – einem Konflikt, in dem sich die Kämpfe hauptsächlich entlang der Grenze zwischen den beiden Ländern abspielten –, hatte der Iran noch nie einen Angriff dieser Größenordnung erlebt. Unabhängig davon, ob es zu einem Krieg zwischen Israel und dem Iran kommt oder nicht, hat der Austausch gegenseitiger Angriffe bereits zu einer neuen regionalen geopolitischen Gleichung geführt, die weit über die aktuelle Situation hinaus andauern wird. Vier Punkte scheinen dabei besonders entscheidend zu sein. Erstens könnte die Schwächung seiner „Stellvertreter“ den Iran dazu ermutigen, sich notgedrungen allmählich auf eine neue Form der konventionellen militärischen Abschreckung zu verlassen, deren Umrisse der Angriff vom 1. Oktober 2024 skizziert hat. Dieser Prozess scheint bereits im Gange zu sein, wie der Austausch von Schlüsselfiguren in der iranischen Militärorganisation und die Rhetorik des iranischen militärischen Oberkommandos vom April über die sogenannte „neue Gleichung“ belegen, nach der der Iran auf jeden Angriff gegen ihn direkt und ohne Umweg über Mittelsmänner reagieren würde. Zweitens sieht sich der Iran gezwungen, seine Haltung der „strategischen Geduld“, die er nach dem blutigen Krieg mit dem Irak eingenommen hatte, aufzugeben. Trotz seines offensichtlichen Widerwillens, kühne Entscheidungen zu treffen, griff der Iran Israel zweimal direkt an und offenbarte am 1. Oktober 2024 einige Schwachstellen in der Verteidigung eines Staates, der als unbesiegbar galt. Drittens wurden in diesem Zusammenhang alle bisherigen roten Linien umgestoßen. Viertens schließlich könnte die Situation die radikale Veränderung der Teheraner Atompolitik vollenden und den iranischen Versuch beschleunigen, Atomwaffen zu erwerben, um sein abschreckendes Arsenal zu erweitern. All dies darf natürlich nicht über die Schwächen des iranischen Regimes hinwegtäuschen, sowohl in politischer als auch in militärischer Hinsicht. Das Regime ist zunehmend delegitimiert, wie der Einbruch der Wahlbeteiligung bei den letzten Wahlen (Parlamentswahlen und vorgezogene Präsidentschaftswahlen) zeigt, und muss sich mit einer feindseligen Bevölkerung und einer durch internationale Sanktionen erstickten Wirtschaft auseinandersetzen. Auf militärischer Ebene kann sich der Iran nur auf sein leistungsfähiges und umfangreiches ballistisches Arsenal verlassen, das jedoch nur die Folge einer praktisch nicht vorhandenen Luftwaffe ohne Kapazitäten ist. Aber gerade diese Schwächen sind es, die den unberechenbaren Charakter der Situation im Nahen Osten offenbaren oder darauf hinweisen.

In diesem Zusammenhang wird das Fehlen politischer Auswege, die Tendenz zu einem langwierigen und zermürbenden Konflikt mit der Hamas, aber vor allem mit der Hisbollah, weitere, auch unkontrollierte Eskalationen begünstigen. Diese Glut wird unter dem anhaltenden Atem der israelischen extremen Rechten und ihres historischen „Projekts“ eines „Groß-Israel“, das nun vom israelischen Generalstab selbst zur Schau gestellt wird,  immer weiter angefacht1. All dies kann mittelfristig nur die bestehenden Tendenzen zu einer allgemeinen Konfrontation anheizen. Die westlichen Mächte sind im Übrigen die Hauptverantwortlichen für diese Situation. Abgesehen von einigen Posen haben sie weder im Kontext des genozidalen Krieges in Gaza und der Ausweitung der Besiedlung des Westjordanlandes noch angesichts der Ausweitung des Konflikts auf den Libanon versucht, von dem abzuweichen, was seit dem 7. Oktober letzten Jahres ihre Linie ist: die bedingungslose Unterstützung Israels. Das endgültige Scheitern des Oslo-Prozesses in diesem Zusammenhang, aber auch die zunehmende regionale Isolierung Israels – symbolisiert durch die Abkühlung der Beziehungen zu Saudi-Arabien, dessen Kronprinz Mohammed bin Salman erklären musste, dass es keine Anerkennung des Staates Israel ohne „die Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staates mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt“ geben würde – haben wieder ins Rampenlicht gerückt, dass die Stabilisierung des Nahen Ostens nicht ohne eine Lösung der palästinensischen Frage auskommen kann. Und dass diese unter den derzeitigen Koordinaten die Kriegstendenzen nur noch verstärken würde. Der Krieg hat seit der Gründung Israels immer eine zentrale Rolle in der Politik des Landes gespielt. Aber vielleicht war er noch nie so sehr die einzige Perspektive.

Ein Krieg ohne Ende

Als Benjamin Netanjahu nach der Ermordung Nasrallahs von der Möglichkeit sprach, „das jahrelange Kräftegleichgewicht in der Region zu verändern“, waren einige begeisterte Anhänger:innen Israels versucht, in der Situation einen möglichen Vergleich mit dem Sechstagekrieg von 1967 zu sehen – ein plötzlicher und unerwarteter israelischer Sieg, der das Kräftegleichgewicht im Nahen Osten veränderte. Doch während es eindeutig Chancen für Israel gibt, bleiben die Widersprüche und Risiken enorm. Die strategische Landschaft des Nahen Ostens mit Gewalt neu zu gestalten, ist eine alte israelisch-amerikanische Idee, die der israelische Staat zumindest offiziell für sich beansprucht. Als der damalige Verteidigungsminister Ariel Sharon 1982 seine Truppen in den Libanon einmarschieren ließ, wollte er nicht nur die Fedajin (Märtyrer:innen) von Yassir Arafat zerschlagen, die vom Süden des Libanons aus Guerilla-Aktionen und Anschläge in Israel durchführten. Er wollte auch seinen lokalen Verbündeten Baschir Gemayel, den Anführer der christlichen Kataëb-Partei (Phalangen), in Beirut an die Macht bringen und die syrischen Streitkräfte aus dem seit 1976 besetzten libanesischen Gebiet vertreiben.

Die Fantasie einer Neugestaltung der Levante tauchte 2003 im Zuge der US-Invasion im Irak wieder auf. Und erneut 2006 im Zusammenhang mit dem zweiten Krieg gegen den Libanon. In allen drei Fällen war das Ergebnis das Gegenteil von dem, was man sich erhofft hatte. Die israelische Offensive im Libanon von 1982 war weit davon entfernt, die syrischen Truppen nach Damaskus zurückzuschicken, sondern trug dazu bei, dass sie sich bis 2005 dauerhafter im Libanon festsetzten. Zwar mussten die PLO-Kämpfer den Libanon unter den Schlägen Israels evakuieren, doch ihr Abzug erleichterte die Entstehung einer neuen Miliz, die Israel ebenso feindlich gesinnt war – die Hisbollah. Mit dem Sturz des Baath-Regimes von Saddam Hussein geriet der Irak in die iranische Umlaufbahn, und die Operation von 2006 konnte die Hisbollah nicht „zerstören“, geschweige denn ihr eine politische Niederlage zufügen. Schließlich hatte der Sechstagekrieg 1967 zwar die regionale geopolitische Gleichung verändert und Jahre später zu dem vom US-Imperialismus unterstützten Friedensabkommen mit Ägypten geführt, aber er bedeutete nicht das Ende der nationalen palästinensischen Sache, die den Verrat der arabischen Nationalismen überlebte und dann durch die Intifada in den besetzten Gebieten wieder an die Oberfläche kam.

Während sich im Hintergrund eine breitere Dynamik der Fragmentierung der internationalen Ordnung abzeichnet, die die Möglichkeiten einer kriegerischen Eskalation verstärkt, funktioniert die (radikalisierte) Reaktivierung der „Bush-Doktrin“ des Greater Middle East – des berühmten Paradigmas der Barbarei gegen die Zivilisation im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ – im aktuellen Konflikt als ideologisches Dispositiv (das vor allem im Westen noch relativ wirksam ist). Diese Rhetorik, die bei weitem nicht nur ein Privileg von Netanjahus Likud-Partei ist, ist in erster Linie der zynischste Ausdruck des Imperialismus im Nahen Osten. Während die Entwicklungen im Jemen und im Irak ebenfalls mit neuer Aufmerksamkeit verfolgt werden müssen, ist die Situation bereits dabei, eine Reihe von vereinfachenden Erzählungen über das „Ende des Nahen Ostens“ in der US-Politik in Frage zu stellen.

Der aktuelle Konflikt weist jedoch deutliche Unterschiede zu früheren Konflikten und insbesondere zur imperialistischen Doktrin der USA auf. Israel scheint derzeit nicht darauf aus zu sein, im Libanon oder gar im Gazastreifen ein Regime zu installieren, das seinen Interessen mehr entgegenkommt. Vielmehr geht es darum, das innenpolitische Gleichgewicht im Libanon neu zu ordnen, selbst mit (und durch) die Gefahr eines neuen Bürgerkriegs nach dem von 1975-1990. Israel versucht, seinen Staatsaufbau durch eine vermeintlich endgültige Lösung des „Palästinenserproblems“ zu vollenden. Israel gestaltet den Nahen Osten durch einen Kollateralschock um und bringt die regionalen Gleichgewichte durcheinander, nicht durch die Verfolgung eines bestimmten politischen Ziels. Dieses Unterfangen zwingt nach und nach alle Akteure in der Region, einzugreifen oder sich zu äußern, und verschiebt die westlichen Großmächte wieder in Richtung der Achse Persischer Golf-Levante, wo Teheran seinerseits seine Verbindungen zu Moskau und Peking verstärkt hat. Diese Dynamik ist bereits dabei, die Geopolitik und die imperialistischen Mächte im Nahen Osten teilweise neu zu zentrieren. Der Iran-Israel-Konflikt ist ein erster Ausdruck davon, aber er ist auch bei weitem nicht das letzte Kapitel einer sich beschleunigenden Dynamik. Anfang Oktober entsandten die USA erstmals Truppen nach Israel, und der Westen beteiligt sich bereits an Militäroperationen im Roten Meer und im Persischen Golf, sei es gegen die Houthis oder gegen die iranischen Salven.

Das Wall Street Journal vom 24. Oktober berichtete, dass der Kreml die Houthis über den Iran mit Satellitendaten versorgt habe. Während Russland in den letzten Monaten vermehrt militärische Partnerschaften mit dem Iran und Nordkorea eingegangen sein soll, um im Gegenzug Ausrüstung und Personal für die Fortsetzung des Konflikts in der Ukraine zu erhalten, sieht sich Wladimir Putin immer mehr gezwungen, seinem iranischen Verbündeten zu helfen. Anfang Oktober trafen sich der neue iranische Präsident Massud Peseschkian und sein russischer Amtskollege zum ersten Mal. Ein weiteres Symbol der Annäherung zwischen den beiden Ländern, das ein stärkeres Engagement des Kremls bedeuten könnte. Während der Iran Drohnen und ballistische Raketen zur Unterstützung der Invasion in der Ukraine transferiert, soll das Land ein Auge auf die hochentwickelte russische Militärtechnologie (insbesondere Su-35-Kampfflugzeuge und S-400-Luftabwehrsysteme) geworfen haben.

Das von Israel verfolgte maximalistische Ziel, das „Palästinenserproblem“ schlicht und einfach zu beenden, tendiert aufgrund seines barbarischen und zugleich unmöglichen Charakters dazu, alle geopolitischen Vermittlungen (angefangen natürlich mit den Stellvertretern des Iran), jede Diplomatie und jede regionale Zusammenarbeit aufzulösen, auch wenn sie derzeit noch „halten“. Der Krieg, so Carl von Clausewitz, ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Im Falle Israels tendiert diese Fortsetzung der Politik im Krieg dazu, zu ihrer schlichten und einfachen Verneinung zu werden: In dem Maße, wie der israelische Staat in die Leere seines mythischen und ethnisch-rassistischen Projekts Groß-Israel versinkt, untergräbt er die eigentlichen Bedingungen seiner Existenz innerhalb einer arabischen und persischen Welt, deren Völker (gegen ihre kriminellen, komplizenhaften oder passiven Staaten) den verlorenen Faden der Politik und der palästinensischen Sache wieder aufnehmen könnten.

Fußnoten

  1. Israelische Funktionär:innen haben in internationalen Foren Karten von Israel vorgelegt, bei denen bemerkenswert ist, dass alle diese Karten keinen Hinweis auf einen palästinensischen Staat oder ein palästinensisches Gebiet enthalten.

#Titelbild: Die Ermordung des Hamas-Anführers Sinwar ist weit davon entfernt, den Krieg zu beenden, sondern offenbart im Gegenteil die Flucht nach vorn des israelischen Regimes, das in einen immer brutaleren genozidalen Krieg verwickelt ist.

Quelle: klassegegenklasse.org… vom 4. November 2024

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