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Warum ist für Israel die Zerstörung Gazas „vernünftig“?

Submitted by on 1. Oktober 2025 – 14:58

Björn Hendrig.Für viele ist Israels Regierung das schiere Böse. Doch sie agiert nach anerkannten Prinzipien. Diese gelten Staaten als gute Gründe für ihren Erhalt. Und das ist wirklich brutal.

Wann hört das endlich auf? Seit dem Angriff der Hamas im Oktober 2023 überzieht Israel die gesamte Region mit einem Krieg: zuvorderst in Gaza, aber auch im Libanon, in Syrien, im Iran und im Jemen.

Außerdem betreibt die Regierung die Ausbreitung von jüdischen Siedlungen im Westjordanland. Häuser von dort lebenden Palästinensern werden zerstört, das Militär sichert dies ab.

Ein Staat wütet gegen alles um ihn herum. Er schert sich nicht um Völkerrecht, Menschenrechte, Genfer Flüchtlingskonvention, schießt und bombardiert auf alles, was seiner Meinung nach den Angriff der Hamas ermöglicht oder unterstützt hat und dies vermeintlich weiter tut. Die Liste der Ziele dieser Gewalt scheint endlos. Im Prinzip gerät alles ins Visier, was die Aufschrift „Palästina“ tragen kann oder auch nur könnte.

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu bezeichnet den Gaza-Krieg als Kampf um die Existenz der Nation: „Bei dem Krieg geht es darum: Es sind entweder wir, Israel, oder sie, die Hamas-Monster.“ Ein Sieg werde „unsere Existenz und unsere Zukunft sichern“. Der Preis sei jedoch sehr hoch.

Ein Nadelstich gefährdet die Existenz Israels? Wohl kaum

Ernsthaft? Sicher, die Hamas hat die Grenze zu Israel überwunden und ein Massaker angerichtet. Aber weder hat sie israelisches Gebiet erobert noch dauerhaft besetzt. Am Bestehen des Staates hat sie nicht gerüttelt. Vielmehr hat sie sich sofort nach ihrer Attacke wieder zurückgezogen. Nach Gaza – und mit rund 200 israelischen Geiseln.

Wie kann ein solcher militärischer Nadelstich die Existenz eines Staates infrage stellen? Eines Staates, der in mehreren Kriegen zuvor gegen arabische Anrainerstaaten obsiegte, das Westjordanland Jordanien entriss, die syrischen Golanhöhen annektierte und über die unbestritten stärkste Streitmacht im Nahen Osten verfügt, sogar mit Atomwaffen? Offenbar begreift die Regierung Netanjahus den Überfall der Hamas als Angriff auf etwas Prinzipielles.

Die Grenze des israelischen Staates ist so wertvoll, dass sie mit aller Gewalt verteidigt werden muss. Das meint nicht nur dieser Staat. Alle Staaten achten mit Argusaugen darauf, dass ihr Herrschaftsgebiet nicht von anderen Herrschaften angetastet wird. Ja, was denn sonst? fragt sich dabei der aufgeklärte Zeitgenosse. Natürlich gelte es, das Staatsgebiet abzusichern. Und dazu brauche es nun einmal ausreichende Gewalt, also Militär in allen nötigen Abteilungen. Denn die Gegner auf der anderen Seite der Grenze klopfen sicher nicht höflich an und überreichen Blumensträuße…

Staaten gründen sich mit Gewalt und gründen auf ihr

Was daran stimmt: In dieser Welt konkurrieren die Staaten um den Erfolg ihrer Unternehmen und nutzen dafür all ihre Macht, gehen also potenziell kriegerisch gegeneinander vor. Die einflussreicheren unter ihnen können für das eigene Kapital einträgliche Bedingungen erpressen. Mit dem ökonomischen Erfolg und entsprechender militärischer Gewalt im Rücken üben sie Druck auf andere Staaten aus: Ihrem Vorgehen gegen Konkurrenten sollen sie sich anschließen. Anderenfalls drohen wirtschaftliche Nachteile oder Schlimmeres.

Bei alldem ist unterstellt: Die Nationen verfügen über die exklusive Gewalt über ihr Gebiet und ihr Volk. Die Grenzen markieren deren Reichweite. Wer diese Grenzen infrage stellt, attackiert die Souveränität der Herrschaft – und damit die Herrschaft selbst. Die Staatsgrenze ist eben eine Gewaltfrage. Die Geschichte der Staatengründungen legt darüber ein beredtes Zeugnis ab: Eine Gewalt setzt sich in einem Gebiet durch, definiert es als ihren Herrschaftsbereich und zieht die Grenze zu den anderen Herrschaften, sichert diese mit ihrer Streitmacht ab.

Staaten gehen nun einmal in der Regel aus Kriegen hervor, nicht aus freien Abstimmungen einer Menschenmenge. Das Deutsche Reich bildeten Fürsten und Könige 1871, als sie Frankreich besiegt hatten. Und die Bundesrepublik Deutschland entstand nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg, weil die USA ihre Besatzungszone als Frontstaat gegen die Sowjetunion aufbauen wollte. Nur zwei Beispiele von vielen.

Jüdische Terroristen gründeten Israel

Auch der Staat Israel entstand bekanntlich nicht friedlich. Mit Terror gegen die britische Besatzungsmacht und gegen die Entscheidung der Vereinten Nationen, wie das Gebiet zwischen Juden und Palästinensern aufzuteilen sei, gründeten jüdische Politiker 1948 ihren Staat. Die auf dem neuen Staatsgebiet lebenden bisherigen Einheimischen wurden größtenteils vertrieben, Grenzen zu den arabischen Anrainern gezogen. Was diese Staaten sofort mit einem Krieg beantworteten – den Israel gewann, wie die folgenden Kriege 1967 und 1973 auch.

Seither haben sich bekanntlich die einstigen Feinde Israels zwar nicht zu Freunden gewandelt, aber ihre Gegnerschaft weitestgehend eingestellt. Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien haben die Übermacht Israels akzeptiert, auch dank der Ansagen aus den USA, pflegen diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen. Syrien fällt seit dem Sturz von Präsident Assad als Gegner endgültig aus.

Israels Botschaft an die verbliebenen Feinde: Widerstand ist zwecklos

Bleiben noch der Iran, die Hisbollah im Libanon und die Hamas im Gaza-Streifen. In allen drei Fällen hat Israel – mit Unterstützung beziehungsweise Duldung der USA wie auch der Europäischen Union mit Deutschland an der Spitze – unter Einsatz umfassender militärischer Gewalt klargestellt: Widerstand gegen seine Existenz, seine Grenzen und damit die Souveränität seiner Herrschaft ist zwecklos.

Staaten greifen einander an, um sich gegenseitig ihren Willen aufzuzwingen, ihre Herrschaftsgebiete auszudehnen, neu zu definieren oder sich gegen solche Vorhaben anderer Staaten zu verteidigen. Unser „aufgeklärter Zeitgenosse“ von vorhin würde vielleicht mit den Achseln zucken und abwinken: „So geht es halt zu! Was interessiert es mich. Hauptsache hier passiert kein Krieg.“ Da täuscht er sich.

Deutschland „übernimmt Verantwortung“: Einmischen und Mitmachen

Denn erstens beteiligt sich sein Staat, Deutschland in unserem Fall, an den Konflikten in der Welt, schürt sie, mischt sich ein, gibt den „Vermittler“ und installiert eine „Ordnung“, die auf den Regeln basiert, die ihm nützen – die vielzitierte „regelbasierte Weltordnung“. Israel hat in Deutschland – neben den USA – seinen treuesten Unterstützer. Schließlich „ordnet“ dieser Staat den Nahen Osten im Sinne des Westens, zuletzt durch einen Krieg gegen das böse iranische „Regime“. Auch die Rüstungskooperation hat Tradition.

Zweitens kommt Deutschland diese Rolle nicht aufgrund einer vermeintlich humanitären und selbstlosen Politik zu. Sondern da geben seine wirtschaftliche Stärke und seine Mitgliedschaft im mächtigsten Militärbündnis der Welt, der Nato, den Ausschlag.

Was drittens nur dadurch zu haben ist, dass unser „aufgeklärter Zeitgenosse“ brav bei allem mitmacht: Arbeiten gehen für den Profit des Kapitals, Steuern zahlen für die Staatsausgaben, die Folgen der horrenden Schulden für die Aufrüstung mittragen, Familie gründen für den nötigen Nachwuchs an Staatsbürgern und nicht zuletzt bereitstehen, wenn der Staat zu den Waffen ruft.

Letzteres wird angesichts der Kriegsertüchtigung gegen den ausgemachten Feind Russland immer wahrscheinlicher. Es geht der EU mit der Führungsmacht Deutschland um die Vorherrschaft in Europa. Dafür werden Kapital und Volk hergenommen, dafür werden die Bürger als Soldaten und Backup verplant. Von wegen der Staat schütze sein Volk. Es verhält sich umgekehrt: Die Bürger haben mit ihrer Habe und ihrem Leben für die Ziele der herrschenden Politik gerade zu stehen – und auf Befehl zu töten.

Israel will den Willen für einen palästinensischen Staat ausmerzen

Was Israel treibt – Grenzverletzungen nicht zu dulden – ist noch jedem anderen Staat bestens vertraut, erntet entsprechendes Verständnis. Und doch verhält es sich bei seinem Vorgehen nach der Grenzüberschreitung der Hamas etwas anders. Die Regierung Netanjahu verstärkt nicht einfach die Grenzen und versucht, die Geiseln zu befreien. Vielmehr führt sie Krieg gegen alles, was in Gaza lebt und steht: Die Bevölkerung wird unterschiedslos bombardiert und beschossen, vertrieben und ausgehungert. Die Behausungen und die Infrastruktur des schon zuvor ärmlichen Gebiets werden zerstört.

Natürlich wissen Netanjahu & Co, dass die Existenz Israels durch den Angriff der Hamas nicht in Gefahr geraten ist. Aber dass der Wille, diese permanent um sich schlagende Existenz zu bestreiten, sich so gewaltig äußern konnte: Das ist der Skandal. Und der darf sich unter allen Umständen nie mehr wiederholen. Also soll allen Menschen der Garaus bereitet werden, die diesen Willen personifizieren.

Gleich ob diese aktiv im Widerstand sind, den Widerstand unterstützen oder einfach nur ihren kargen Alltag fristen: Es genügt, ein Angehöriger der palästinensischen Bevölkerung zu sein. Denn sie repräsentiert durch ihr bloßes Vorhandensein den Anspruch auf einen eigenen Staat. Und dieser Anspruch wird von Israel nicht akzeptiert. Mehr noch: Allein die Tatsache, dass es ihn gibt, wird als Angriff auf die jüdische Nation begriffen. Deshalb muss dieser Anspruch ausgemerzt werden. Eine „Zwei-Staaten-Lösung“ lehnt die israelische Politik daher ab, auch die Vorgängerregierungen blockierten Initiativen der USA und der EU.

Die Heimstatt der Juden definiert ihre Grenzen immer wieder neu

Die Palästinenser im Gaza-Streifen zu töten und auszuhungern, den überlebenden Rest zu vertreiben, auch aus dem Westjordanland, ist in dieser brutalen Logik tatsächlich „vernünftig“. In Israel kommt die Besonderheit hinzu, dass dieser Staat seine endgültigen Grenzen gar nicht festgelegt hat. Im „Nationalstaatsgesetz“ heißt es:

„Das Land Israel, in dem der Staat Israel gegründet wurde, ist die historische Heimat des jüdischen Volkes. Dieser Staat Israel ist der Nationalstaat des jüdischen Volkes, in dem es sein Recht auf nationale, kulturelle, historische und religiöse Selbstbestimmung ausübt. Das Recht auf nationale Selbstbestimmung ist im Staat Israel einzig für das jüdische Volk.

Dieser Staat ist nach eigener Definition noch nicht fertig. Wie weit die „historische Heimat“ reicht, ist ziemlich dynamisch zu verstehen. Entsprechend selbstverständlich erscheint Israel daher die Annexion von Gebieten wie den Golanhöhen, die Besiedlung des Westjordanlandes, die Besetzung des Süden Libanons und das Vorhaben, den Gaza-Streifen nach der Vertreibung der dortigen Bevölkerung ins Staatsgebiet einzuverleiben. Das ist alles irgendwie „historisch“.

Hinzu kommt die „Diaspora“: Israel versteht sich als Heimstatt aller Juden der Welt und lädt sie dazu ein, ihre Diaspora im Ausland zu verlassen und sich in der für sie vorbehaltenen Nation anzusiedeln. Dieser Staat ist demnach auch, was sein Volk betrifft, noch nicht vollendet. Dem permanenten Volkswachstumsprogramm stehen palästinensische Bevölkerungsteile gegenüber, die erstens per Definition gar nicht dorthin gehören, zweitens prinzipiell des Widerstandes verdächtig sind und drittens den Raum wegnehmen, den man doch für das „richtige“ Volk braucht. So verschafft sich Israel seine Feinde zuverlässig selbst (siehe auch: Israel verstehen).

Völkermord oder nur Vertreibung? Das ist nicht die entscheidende Frage

Betreibt Israel mithin einen Völkermord, wie es unlängst der UN-Menschenrechtsrat festgestellt hat? Oder handelt es sich nur um eine Vertreibung, nicht um eine Vernichtung der Palästinenser (vgl. Ronen Steinke: Ein Genozid? Nein, in: Süddeutsche Zeitung, 5. September 2025)? Gleichviel: Das Ziel der israelischen Regierung lautet auf endgültige Auslöschung jeglichen politischen Willens für einen palästinensischen Staat.

Ob eine Vertreibung reicht oder Israel doch die Vernichtung betreibt – das ist nicht die entscheidende Frage. Vielmehr zeigt dieser Staat, wie unerbittlich er seine Herrschaft über Land und Volk behauptet und ausdehnt. Und wie er jeglichen Widerstand vernichtet, sei er auch noch so aussichtslos. Darin stellt er keine Ausnahme in der Staatenwelt dar. Noch jeder Staat wendet alle ihm zur Verfügung stehenden Gewaltmittel an, um seine Souveränität und seine Interessen gegen die anderen Nationen durchzusetzen sowie innere Widerstände zu beseitigen. Grenzfragen sind Gewaltfragen, wie gesehen.

Das Spezielle an Israel: Es hat seit seiner gewaltsamen Gründung mit der Gegnerschaft der seinerzeit Vertriebenen, ihrer Nachkommen und deren Unterstützer in den Nachbarstaaten zu kämpfen. Verblieben sind nach deren zahllosen Niederlagen und der Ausweitung Israels nur noch Hamas, Hisbollah und der Iran. Erst wenn es die nicht mehr gibt, einschließlich der palästinensischen Bevölkerung, ist nach Auffassung der Regierung der Staat Israel sicher. Die ganz „normale“ gewaltträchtige Konkurrenz der Staaten in der Region hört damit aber nicht auf. Gegenüber dem Libanon, Syrien, Jordanien, Ägypten oder Saudi-Arabien hat Israel weiter viele „Fragen“ zu „klären“…

Quelle: overton-magazin.de… vom 1. Oktober 2025

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