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Sozialdemokratie und Russophobie

Submitted by on 28. Oktober 2025 – 13:09

Norbert Faulhaber. Der abrupte Schwenk der SPD-Führung in Richtung einer kompromisslos anti-russischen Politik nach dem 24. Februar 2022, gipfelnd in der „Zeitenwende“-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz, hat viele aktuelle und ehemalige Anhänger, die einst in den Zeiten der Brandt’schen „Ostpolitik“ politisiert wurden, irritiert. Was sie dabei übersehen: Russophobie

hat in der deutschen (und der europäischen) Sozialdemokratie durchaus eine lange Tradition.

Im Herbst 1972 errang die SPD unter ihrem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt mit fast 46 Prozent der abgegebenen Stimmen ihren größten Wahlsieg in der bis heute rund 160-jährigen Geschichte der Partei. Zentrales Thema der Wahlschlacht damals waren die so genannten „Ostverträge“ mit den ehemaligen Weltkriegsgegnern UdSSR und Polen, sie sahen unter anderem die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze – und damit den Verzicht auf die bis 1945 deutschen Regionen Ostpreußen, Schlesien und Ostpommern – vor. Die CDU/CSU-Opposition prangerte diese Verträge als Vaterlandsverrat an, aber eine klare Mehrheit der westdeutschen Wählerinnen und Wähler war offenkundig bereit, auf diese längst verlorenen Territorien zu verzichten, zugunsten einer Aussöhnung mit dem Feind von damals. Nicht nur der heute ikonische Kniefall des Kanzlers in Warschau vor dem Mahnmal für die Opfer des (gescheiterten) polnischen Aufstands gegen die Nazi-Besatzer machte seinerzeit diese Verständigung mit der polnischen und der UdSSR-Regierung möglich, sondern auch das ausgesprochen gute persönliche Verhältnis zwischen Brandt und dem sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew; die Fotos von den beiden Politikern, wie sie in trauter Eintracht vor der Küste der Krim im Schwarzen Meer badeten, gingen um die Welt.

Russophobie setzte sich nach 1945 fort

Und das, obwohl Willy Brandt in den 1950er und zu Beginn der 1960er Jahre noch ein beinharter kalter Krieger war (sogar Kontakte zum US-Geheimdienst CIA wurden ihm nachgesagt).(1) Doch als Außenminister im Kabinett der Großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger begann er eine neue Ostpolitik zu konzipieren, in Zusammenarbeit mit einem seiner engsten Berater, dem späteren Kanzleramtsminister Egon Bahr. Kaum war er dann selbst im Amt als Regierungschef, wurde dieses Konzept umgesetzt; Schlüsselbegriff war dabei die Formel vom „Wandel durch Annäherung“. Auch mit der Regierung der von der Bundesrepublik bis zu diesem Zeitpunkt quasi geächteten DDR suchte er eine Verständigung; sein Besuch in Erfurt im Frühjahr 1970 war der erste Schritt auf dem Weg zu einer Überwindung der bis dahin fast undurchdringlichen Mauer, die die beiden deutschen Teilstaaten voneinander trennte.

Der überragende Sieg der SPD damals war umso überraschender, als die konservative Opposition im Wahlkampf sehr bewusst an die anti-russischen (und nicht zu vergessen: auch anti-semitischen!) Vorurteile in der Bevölkerung anknüpfte, die seit Jahrzehnten, wenn nicht gar seit Jahrhunderten, von den deutschen Nationalisten jeglicher Couleur angeheizt wurden, und die sich seit der Oktoberrevolution in Russland 1917 mit rabiat anti-kommunistischen Ressentiments verbanden: ein wahrhaft toxisches Gemisch, das dann wenig später von den deutschen Nazis dazu benutzt wurde, ihrem erbarmungslosen Vernichtungskrieg gegen die damalige Sowjetunion Legitimität zu verleihen – mit durchschlagendem Erfolg. Es galt schließlich, dem „jüdischen Bolschewismus“ die Stirn zu bieten – und ethnische Slawen waren ja eh „Untermenschen“, die es mitleidlos auszumerzen galt.

Diese ausgeprägte Russophobie in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung setzte sich nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht 1945 ungebremst fort, sogar noch verstärkt durch die Schmach der militärischen Niederlage und synchron mit der Übernahme führender Ex(?)-Nazis in den Staats- und Verwaltungsapparat der 1949 gegründeten westdeutschen Teilrepublik. „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“ plakatierten CDU und CSU im Bundestagswahlkampf 1953(2) und errangen mit derartigen Parolen einen fulminanten Wahlsieg. Die SPD, die mit dieser Diffamierung ja eigentlich gemeint war, ignorierte dies einfach und gebärdete sich ihrerseits mindestens genauso anti-kommunistisch und anti-sowjetisch – als „rotlackierte Nazis“ hatte der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher bereits ein paar Jahre zuvor die verhasste Konkurrenz auf der linken Seite des Parteienspektrums bezeichnet. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) wurde denn auch in Westdeutschland verboten und die Herrschaft ihrer Schwesterpartei SED im sowjetisch besetzten Ostteil Deutschlands als ein Regime im „Reich des Bösen“ etikettiert (um sich einmal eine berühmte Formulierung des US-Präsidenten Ronald Reagan dreißig Jahre später auszuleihen).

Warum diese anti-kommunistische und anti-sowjetische Grundstimmung in den späten 1960er Jahren deutlich an Zugkraft verlor, wäre eine eigene Analyse wert. Eine große Rolle hierfür hat bestimmt die Studentenbewegung ab 1967 gespielt, die erstens sich dadurch auszeichnete, dass diverse marxistische Klassiker quasi wiederentdeckt wurden, und zweitens führende antikapitalistische und antiimperialistische Revolutionäre in der so genannten „Dritten Welt“ zu Helden – und mitunter sogar zu regelrechten T-Shirt-Ikonen – der jugendlichen Protestbewegung aufstiegen: etwa Che Guevara, Ho Chi Minh oder Mao Tse-tung. Für einige wenige Jahre stand der Zeitgeist, nicht nur in Deutschland, eindeutig links; bezeichnenderweise wurde 1968 wieder eine kommunistische Partei (die DKP) in Westdeutschland zugelassen, zahlreiche (in der Regel maoistisch orientierte) Kleinparteien folgten.

Helmut Schmidt beendete die Phase des Ausgleiches

Diesen Zeitgeist hatte die seinerzeit dezidiert deutschnational und rechtskonservativ gepolte CDU/CSU offensichtlich unterschätzt – wohl auch den Wunsch breitester Bevölkerungskreise sowohl in West wie auch in Ost, den „Eisernen Vorhang“ durchlässiger zu machen. Und auch international ging der Trend in der ersten Hälfte der 1970er Jahre in Richtung Entspannungspolitik und einer friedlichen Koexistenz beider großer miteinander konkurrierenden Gesellschaftssysteme: dem kommunistisch regierten Ostblock und dem (wie man heute sagen würde) „Werte-Westen“. Höhepunkt dieser Entwicklung war wohl die „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ 1975 in Helsinki, an der alle Staats- und Regierungschefs der beiden bis anhin verfeindeten Militärblöcke teilnahmen: der NATO und des von der Sowjetunion dominierten Warschauer Pakts.

Ironischerweise war es der Nachfolger Willy Brandts im Amt des Bundeskanzlers, der Sozialdemokrat Helmut Schmidt, der ein paar Jahre später diese Phase des Ausgleichs und der Verständigung zwischen West und Ost wieder jäh beendete: mit einer einzigen öffentlichen Rede. Obwohl sich Schmidt verbal stets zu einer Fortsetzung der Brandt’schen Ostpolitik bekannte, konnte er offenbar seine individuelle Sozialisation in jungen Jahren nie so richtig überwinden: Im Zweiten Weltkrieg war er als Oberleutnant der Nazi-Wehrmacht im Russlandfeldzug eingesetzt, unter anderem bei der berühmt-berüchtigten Belagerung (genauer gesagt: Aushungerung) Leningrads. Über das, was er dort genau gemacht hat, hat er sich immer ausgeschwiegen, für seine „Verdienste“ in dieser Funktion wurde er aber interessanterweise mit dem „Eisernen Kreuz“ ausgezeichnet.(3) 1977 hielt er dann eine aufsehenerregende Rede beim „Londoner Institut für strategische Studien“ – und reaktivierte etwas, das in der Regierungszeit seines Vorgängers Brandt fast schon im Mülleimer der Geschichte verschwunden war: die These von der sowjetischen (sprich: russischen) Bedrohung.

Der Westen, so Schmidt damals, habe in Europa dem nuklearen Potenzial der sowjetischen Streitkräfte „nichts entgegenzusetzen“. Nonchalant ging der Kanzler dabei über das französische und das britische Nuklearpotenzial hinweg, ebenso wie über die nukleare Feuerkraft der US-Mittelmeer-Flotte mit ihren mit „Polaris“-Raketen bestückten U-Booten.(4) Entschieden forderte er eine „Nachrüstung“ der NATO. Die US-Regierung unter Präsident Jimmy Carter griff den Ball erfreut auf, nur wenig später wurde diese „Nachrüstung“ offiziell von den NATO-Instanzen beschlossen. Bizarrerweise war es ausgerechnet Willy Brandt, seinerzeit immer noch SPD-Parteivorsitzender, der im Dezember 1979 einen zögerlichen SPD-Parteitag dazu überredete, diesen Aufrüstungsplänen zuzustimmen. Als wenige Jahre später die Stationierung der neuen Atomwaffen (Pershing 2-Raketen und Cruise Missiles) tatsächlich anstand und sich inzwischen eine riesige Protestbewegung dagegen formiert hatte, wechselte er dann aber die Seiten und wetterte (auch als Demonstrationsredner) gegen das „Teufelszeug“ – allein, es war zu spät, im Herbst 1983 wurden die neuen Waffen in Westdeutschland und in Großbritannien stationiert.

SPD: Schon vorher russophob

Dass Sozialdemokraten glauben, vor einer russischen/sowjetischen Bedrohung warnen zu müssen, hat allerdings eine lange Tradition. Schon als die SPD-Fraktion im kaiserlichen Reichstag im Sommer 1914 für die Kriegskredite von Wilhelm II. stimmte – helles Entsetzen bei ihren europäischen Schwesterparteien auslösend – begründete sie das damit, dass es schließlich gelte, der „russischen Tyrannei“ entgegenzutreten. Bereits in den Jahren davor hatte SPD-Chef August Bebel in zwei so genannten „Flinten-Reden“ eifrig anti-russische Ressentiments geschürt – ebenso wie der später zu großer Berühmtheit gelangte „Bluthund“ Gustav Noske (der als Minister für Heer und Marine für die Niederschlagung des „Spartakus-Aufstandes“ verantwortlich war und höchstwahrscheinlich auch den Befehl zur Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gegeben hat).(5) Besonders pikant war dabei natürlich der Umstand, dass Russland und das deutsche Kaiserreich damals eine lange gemeinsame Grenze hatten; im trauten Verein mit der Doppel-Monarchie Österreich-Ungarn hatten alle drei Staaten in der Vergangenheit nach und nach das Territorium des vorher selbstständigen Königreichs Polen unter sich aufgeteilt.

Die Kriegskredite von Kaiser Wilhelm II. wären wohl auch ohne die Stimmen der Sozialdemokraten im Reichstag beschlossen worden – aber dennoch darf heute eifrig darüber spekuliert werden, ob sich der Erste Weltkrieg (nach dem Urteil der meisten Historiker die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“) hätte verhindern lassen, hätten die Mitgliedsparteien der sozialdemokratischen II. Internationale damals tatsächlich konsequent das umgesetzt, was sie in den Jahren vor 1914 sich geschworen hatten: bei einem drohenden Kriegsausbruch synchron einen Generalstreik in allen beteiligten Ländern auszurufen, unter der Parole „Arbeiter schießen nicht auf Arbeiter!“. Wie es sich gezeigt hat, schossen sie dann schließlich doch…

Die nach der russischen Oktoberrevolution erfolgte Spaltung der II. Internationale in sozialdemokratische und kommunistische Parteien fügte den traditionellen anti-russischen Ressentiments eine wichtige neue Komponente hinzu: Die Begriffe „anti-russisch“, „anti-sowjetisch“ und „anti-kommunistisch“ wurden jahrzehntelang praktisch austauschbar. Das Verblüffende bei dem heutigen Putin-Bashing (das nicht erst 2022, sondern schon nach der „Maidan-Revolution“ und der „Krim-Krise“ 2014 bei den meisten westlichen Mainstream-Medien in vollem Umfang einsetzte) besteht ja darin, dass die aktuelle russophobe Propaganda im „Werte-Westen“ sich so gut wie gar nicht von der anti-sowjetischen und anti-kommunistischen Propaganda der Jahre 1946-1991 unterscheidet: Lenin = Stalin = Putin, salopp gesprochen. Ja, sogar die These, Putin sei ja viel, viel schlimmer als damals Breschnew, denn die Sowjetunion sei seinerzeit primär an der Konsolidierung ihres Imperiums interessiert gewesen, während die heutigen Machthaber in Moskau expansive Gelüste hätten, die bis zur Einverleibung ganz Westeuropas reichen würden, findet sich in „Experten“-Kreisen.(6) Für all diejenigen unter uns, die in der Zeit des Kalten Krieges schon auf der Welt waren, klingt das natürlich reichlich bizarr, haben sie doch noch das allseitige Geschrei vom „Griff der Kommunisten nach der Weltherrschaft“ im Ohr. Um eben diesen angeblichen Welteroberungsplänen entgegenzutreten, wurden nach 1946 in allen west- und nordeuropäischen Ländern (meist auch auf Betreiben der Sozialdemokraten) die Kommunisten aus den Koalitionsregierungen entfernt, in die sie nach dem Ende des II. Weltkrieges unter der Parole „nationale Einheit“ aufgenommen worden waren.

Besondere Würze erhielt diese Spaltung der politischen Linken nach 1917 natürlich auch dadurch, dass sich Sozialdemokraten und Kommunisten einen erbitterten Kampf nicht nur um Arbeiterstimmen bei Wahlen, sondern auch um ihren jeweiligen Einfluss in den Gewerkschaften lieferten. Und immer dann, wenn Erstere dabei den Kürzeren zu ziehen drohten, wurde das Argument von der „5. Kolonne Moskaus“ ausgepackt. Dass diese Spaltung der Arbeiterbewegung einer der wesentlichen Faktoren war, der die Machtübernahme der deutschen Nazis 1933 begünstigte, ist heute unter Historikern wohl unbestritten. Und mancherorts wurden damals dann auch die richtigen Lehren aus diesem Komplettversagen gezogen: 1936 siegte bei den Parlamentswahlen in Frankreich eine aus Sozialdemokraten, Kommunisten und Linksliberalen gebildete „Volksfront“ – in spektakulärem Kontrast zu den Ereignissen im benachbarten Deutschland – und verbot sofort alle faschistischen Organisationen…

Sanna Marin und Magdalena Andersson: In sozialdemokratischer Tradition

Mitunter verlief die Entwicklung aber auch völlig entgegengesetzt. Preisfrage: In welchem europäischen Land gab es einmal eine Regierung, in der Sozialdemokraten in trauter Eintracht mit einem faschistischen Ministerkollegen am Kabinettstisch saßen? Antwort: in Finnland, in den Jahren 1941 bis 1944, in der Regierung des (liberal-konservativen) Premierministers Johan Wilhelm Rangell. Mehrere Minister der finnischen SP, darunter der Finanzminister Väinö Tanner, arbeiteten damals in einer Koalition mit der rechtsextremen „Patriotischen Volksbewegung“ zusammen, deren Vorläuferorganisation (die so genannte „Lapua-Bewegung“) nach einem missglückten Staatsstreich in den 1930er Jahren verboten worden war und die sich nunmehr auf den parlamentarischen Kampf konzentrierte.(7) An der Seite der Nazi-Wehrmacht griff die finnische Armee im Juni 1941 die Sowjetunion an, unter anderem beteiligte sie sich an der Belagerung Leningrads. In den Anfangsmonaten richtete sie in den von ihr vorübergehend besetzten sowjetischen Territorien in Karelien Konzentrationslager ein, in denen hauptsächlich Frauen und Kinder zusammengepfercht wurden.(8)

Als nach der Niederlage der deutschen und finnischen Truppen die Regierung in Helsinki einem für sie demütigenden Friedensvertrag mit der UdSSR zustimmen musste, verpflichtete sie sich auch dazu, ein Kriegsverbrechertribunal nach dem Vorbild der Nürnberger Prozesse einzurichten; der während des Krieges amtierende Premierminister Rangell und auch der sozialdemokratische Finanzminister Tanner der oben erwähnten Koalitionsregierung waren unter den Angeklagten.(9) Beide wurden (es war keine international besetzte, sondern aus Finnen bestehende Jury, deshalb wohl die vergleichsweise milden Urteile) zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt – was besagten Ex-Finanzminister aber nicht daran hinderte, nach der Verbüßung seiner Haftstrafe in den 1950er Jahren als Vorsitzender der finnischen Sozialdemokratischen Partei zu kandidieren und zu gewinnen (!).(10) Prompt benutzte er sein neues Amt dazu, die Aussöhnungspolitik des damaligen moskau-freundlichen (konservativen) Staatspräsidenten Urho Kekkonen mit der Sowjetunion nach Kräften zu sabotieren…

Exakt in dieser unseligen, extrem antirussischen/antisowjetischen Tradition sind die ehemaligen sozialdemokratischen Regierungschefinnen von Finnland und Schweden, Sanna Marin und Magdalena Andersson, zu verorten, die 2022 den NATO-Beitritt beider Länder in die Wege leiteten und auf einen Konfrontationskurs mit Russland einschwenkten. Und in den letzten Monaten profilierte sich bekanntlich die dänische (ebenfalls sozialdemokratische) Ministerpräsidentin Mette Frederiksen als ausgesprochene Anti-Putin-Hardlinerin. In Norwegen wiederum ist der ehemalige Premier Jens Stoltenberg wieder Finanzminister in der aktuellen sozialdemokratischen Regierung – als NATO-Generalsekretär (bis 2024) tat er, wie wir wissen, alles, um die Kriegshysterie in Europa anzuheizen. Überall, wohin man sieht: Sozialdemokraten an vorderster Front – da will natürlich auch die deutsche SPD nicht hintanstehen („Verteidigungsminister“ Boris Pistorius: „Wir sind nicht im Krieg, aber auch nicht mehr im kompletten Frieden“), schon gar nicht eingedenk ihrer oben beschriebenen Geschichte.

Fico: Die Ausnahme

Bereits kurz nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine hatte die Sozialistische Internationale (seit 2013 nur noch eine Rumpforganisation nach der auf Wunsch der SPD erfolgten Rechts-Abspaltung „Progressive Allianz“) auf Betreiben des spanischen Premierministers Pedro Sanchez die sozialdemokratisch ausgerichtete Partei „Gerechtes Russland“ (drittstärkste Fraktion im Parlament in Moskau) aus dem Parteienbündnis geworfen(11), weil sie die Invasion gerechtfertigt hatte (bereits ein paar Jahre zuvor waren die nicaraguanischen „Sandinistas“ aus der Organisation ausgeschlossen worden). Und am 17. Oktober dieses Jahres wurde die slowakische Partei „Smer“ des amtierenden Premierministers Robert Fico aus der „Europäischen Sozialdemokratischen Partei“ herausgeworfen, wohl unter anderem wegen ihrer Weigerung, Waffen an die Ukraine zu liefern.(12) Komplettiert wird die Riege der dezidiert anti-russisch orientierten prominenten europäischen Sozialdemokraten durch den britischen Premier Keir Starmer („Labour ist die NATO-Partei!“) und den aktuellen Shooting Star der französischen Sozialdemokraten, den Europaabgeordneten und möglichen Präsidentschaftskandidaten Raphael Glucksmann („Sie, Monsieur, vertreten die Partei der Kapitulation“, schleuderte er Jordan Bardella, dem Parteichef des Rassemblement National, in einer TV-Diskussion kurz vor der Parlamentswahl 2024 entgegen, als dieser erklärte, mit ihm als Premier werde es keine französischen Truppen in der Ukraine geben).

Die (zeitlich ohnehin beschämend kurze) Ära des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt und seiner Aussöhnungspolitik gegenüber dem Osten war somit, rückblickend betrachtet, nur ein vorübergehendes Intermezzo in der langen Geschichte der deutschen und europäischen Sozialdemokratie – je nach Sichtweise ein Glücksfall für die deutsche und europäische Politik oder (in den Augen der neuen kalten Krieger) eine Art Betriebsunfall, an den niemand mehr erinnert werden möchte Es ist denn auch absolut kein Zufall, dass von der „Manifest“-Fraktion in der deutschen SPD, die sich mehr oder weniger klar von dem „Zeitenwende“-Aufrüstungskurs distanzierte, nun schon seit Monaten nichts mehr zu hören und zu sehen ist, und Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, der trotz des von seiner Regierung verantworteten militärischen Überfalls auf (Rest-)Jugoslawien 1999 heute ein ausgesprochen pazifistisch orientierter und russlandfreundlicher Politiker ist, in seiner Partei inzwischen als eine Art Paria gilt. Sozialdemokratie und Friedenspolitik – das ist heutzutage wohl nur noch ein Thema für Historiker.

Fußnoten

1) Eine längere Passage in dem Enthüllungsbuch „CIA“ von Victor Marchetti und John D. Marks handelt offensichtlich von Willy Brandt, obwohl sein Name nicht genannt wird (etliche Passagen in dem Buch durften nach einer gerichtlichen Auseinandersetzung mit der CIA nicht abgedruckt werden, Marchetti und Marks brachten an diesen Textstellen stattdessen leere Seiten in der Länge des Originaltextes): Victor Marchetti/John D. Marks, „CIA“, Deutsche Verlagsanstalt, 1985

2) Der Entwurf zu diesem Plakat geht angeblich auf Eberhard Taubert und Rudolf Fust zurück, die beide im Dritten Reich für die Propagandaabteilung der NSDAP tätig waren: Klaus Körner, „Erst in Goebbels’, dann in Adenauers Diensten“, Die Zeit, Nr. 35/1990

3) Sabine Pamperrien, „Helmut Schmidt und der Scheißkrieg. Die Biographie 1918 bis 1945“, Piper Verlag, 2014

4) Anton-Andreas Guha, „Ende. Tagebuch aus dem Dritten Weltkrieg“, Athenäum, 1983

5) Sebastian Sauer, „Erster Weltkrieg: Wider den äußeren Feind“, Junge Welt, 31. Juli 2025; „Sozialdemokratie und Krieg: ‚Unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit‘“, Der Freitag, 24. April 2022

6) Etwa Sabine Schattenberg, „‘Warum Breschnew nicht Putin werden konnte’ – aber Putin zu Breschnew werden könnte“, Zeitgeschichte online, 17. März 2018

7) „Rangell cabinet“, https://en.wikipedia.org

8) Tina Kinnunen/Ville Kivimäki, „Finland in World War II: History, Memory, Interpretations“, Brill Verlag, 2011

9) „Political Paavo“, Time, 6. Dezember 1948

10) „Väinö Tanner“, https://en.wikipedia.org

11) Socialist International, „Decision regarding membership of A Just Russia-Patriots-For the Truth Party“, 7. März 2022

12) „Europäische Sozialdemokraten schließen slowakische Smer-Partei aus“, Die Zeit, 17. Oktober 2025

Quelle: overton-magazin.de… vom 28. Oktober 2025

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