Atomenergie : Nordkorea vor unserer Haustür
José Sanchez. Zukünftige Generationen werden an dem Erbe der radioaktiven Abfälle schwerer zu tragen haben, als an allen öffentlichen Schulden der Welt. Eine Bedrohung, die eine sofortige Abschaltung aller Atomkraftwerke bei weitem rechtfertigt.
Die durch die Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 hervorgerufene grosse Angst scheint in weite Ferne gerückt. Die durch die in Fukushima im Jahre 2011 hervorgerufene Beunruhigung schwächt sich ebenfalls ab. Wir möchten einfach daran erinnern, dass sich in der Schweiz 14 Kantone in der Hochrisikozone, das heisst im Bereich von 50 Kilometer um eines der fünf Atomkraftwerke befinden. Die Wolken der radioaktiven Verseuchung spotten über den Föderalismus, über die Kantonsgrenzen und über den Röstigraben.
Diese zwei Katastrophen der Atomindustrie erinnern uns an die grosse Gefahr, die von dieser Art der Stromproduktion ausgeht. Diese Gefahr ist der Natur der radioaktiven Strahlung geschuldet. Deren Energie muss kontrolliert und in sehr ausgefeilten Hüllen eingekapselt werden.
«Abfälle» wie andere auch?
Die totale Opposition gegen die Beibehaltung und Weiterentwicklung der Atomenergie ist auch aus einem anderen Grund gerechtfertigt. Es handelt sich um das Entstehen von «Abfällen», die aus dem Brennstoff der Reaktoren und den unmittelbar daran angrenzenden Zonen entstehen. Sie haben sehr hohe Radioaktivität, die bis zu Hunderten von Jahrmillionen anhalten kann.
Selbst wenn gewisse Industrien im Verlaufe ihrer Produktionsprozesse mehr oder weniger grosse Mengen von Abfällen produzieren, so beherrscht man deren Einschliessung und ihre Lagerung weitgehend. Im Kapitalismus jedoch zählt nur die Herstellung von Waren. Die Kosten ihrer Zerstörung oder ihrer Wiederaufbereitung am Ende des Lebenszyklus oder nach dem Verfall ihres Gebrauchswertes interessiert die Hersteller nicht. Deshalb die illegalen Deponien, die verschmutzten Industriestandorte und die unkontrollierte Ausfuhr zu lächerlichen Preisen in arme Länder.
Der «Atommüll» stellt ein Problem ganz anderer Grössenordnung dar. Seine hohe Radioaktivität setzt der Handhabung und der wilden Deponierung Grenzen, wie auch sein grosser Umfang. Mit seiner hohen Strahlungsdichte ist dieser Atommüll noch nach Hunderten, ja nach Hundertausenden von Jahren immer noch so stark radioaktiv, dass Teile davon für alle Lebewesen eine tödliche Gefahr darstellen. Es gibt keine Möglichkeit, die Radioaktivität zu neutralisieren oder zu reduzieren. Die Strahlung geht weiter, und nur auf diesem Wege geht ihre Intensität zurück, aber zum Preis, dass sie ihre unmittelbare Umgebung vergiftet hat.
Wer kümmert sich um die Lagerung?
In den 1950er- bis in die 1970er-Jahre wurde eine wahnwitzige Lösung angewandt: Die hoch radioaktiven Abfälle wurden im Meer versenkt. So kam es, dass momentan an die 100’000 Tonnen radioaktive Materialien auf dem Meeresgrund lagern. Die wiederholten Protestbewegungen in den entwickelten kapitalistischen Ländern haben zur Einstellung dieser Praktiken geführt. Sie werden demgegenüber beispielsweise von Russland weiterhin angewandt.
Die heute empfohlenen Lösungen gehen in Richtung unterirdischer Endlager in stillgelegten, hergerichteten Minen oder in riesigen, tief in die Erde gebohrten Silos.
Ein erstes Problem stellt die Gegnerschaft gegen solche Lagerstätten seitens der angrenzenden Bevölkerung dar. In der Tat, wer kann die vollständige Abdichtung gegen die hoch radioaktiven Stoffe, und zwar über eine sehr lange Zeitdauer, garantieren? Niemand kennt die Materialeigenschaften der Behälter angesichts der Wirkung der Radioaktivität und der intensiven Strahlung dieses Atommülls.
Und wer kommt für die Lagerung auf?
Das zweite Problem ist die Finanzierung des Rückbaus der Atomkraftwerke und der Lagerung der radioaktiven Materialien (Brennstoff, Reaktorkern, radioaktiver Müll während des Betriebes) dar. Diese Kosten wurden bis jetzt stark unterschätzt, um die Profite der Betreiber zu schützen und die Bevölkerung nicht aufzuschrecken.
Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz hat 2011 diese schlechte Schätzung im Falle der Schweiz verurteilt. Momentan belaufen sich die Schätzungen für die notwendigen Aufgaben des Rückbaus der Atomanlagen und der Beseitigung des Atommülls auf 11,5 Milliarden Franken. Der durch die Betreiber finanzierte Fonds beläuft sich hingegen lediglich auf 4,3 Milliarden. Dies stellt ein Finanzierungsloch von 7 Milliarden dar! 2015 war diese Schätzung auf etwa 20,6 Milliarden gestiegen, das heisst fast das Doppelte in nur vier Jahren.[i] Wie wird diese Finanzierungslücke gestopft? Vollständiges Schweigen, sowohl seitens der Betreiber wie auch seitens der politischen Instanzen. Es sei denn, die Verlängerung der Betriebsdauer sei der einzige Ausweg…
«Die Finanzierung des nuklearen Erbes lautet auf einen ungedeckten Wechsel», so Nationalrat Roger Nordmann.[ii] Er befürchtet zudem, dass die Buchhaltungstricks der Betreibergesellschaften von Gösgen und Leibstadt pleite gemacht haben: «Die Gefahr ist gross, dass die Steuerzahler zur Kasse gebeten werden». Wie bei den Banken werden die Profite privatisiert, für die Verluste jedoch muss die Öffentlichkeit aufkommen!
Für die Betreiber bedeutet die Betriebsverlängerung natürlich eine Erhöhung der Rentabilität der Anfangsinvestition. Das ist ein gutes Geschäft; von daher der Druck, die Betriebsdauer auf 50 Jahre oder gar mehr zu verlängern; diese war ursprünglich auf 30 Jahre angesetzt. Angesichts der mit «ökologischen» Argumenten forcierten Elektroautos mit derem gigantischen und einträglichen Markt ein Bombengeschäft.
Wenn man die Betriebsdauer von Atomkraftwerken erhöht, erhöht man auch das Unfallrisiko, vor allem aber die Menge an hochradioaktivem Atommüll, der nachher entsorgt werden muss. In diesem Sinne stellt die Initiative der Grünen einen gefährlichen Kompromiss dar, da die AKWs Gösgen und Leibstadt weiterhin je bis 2024 und 2029 laufen und entsprechend Atommüll produzieren werden.
Den Verbrauch einschränken – eine Träumerei?
Die Einschränkung des Verbrauchs von elektrischer Energie wird zum Gebot der Stunde. Ist dies eine Unmöglichkeit? Der Kanton Genf hat mit seinem Plan ECO21 allein im Jahr 2015 den Energieverbrauch um 4% gesenkt.[iii] Laut Staatsrat Antonio Hodgers «ging der Verbrauch von elektrischer Energie zwischen 2010 und 2015 um 3,5% zurück, trotz eines gleichzeitigen Bevölkerungswachstums von 5,7%». Damit wird klar, dass es durchaus Möglichkeiten der Einsparungen gibt; solche Massnahmen müssten sofort landesweit umgesetzt werden. Gegenwärtig sind zwei Atomkraftwerke stillgelegt, ohne dass die von den Befürwortern der Atomenergie angedrohte Katastrophe eingetreten wäre.
Mit dem bekannten Zynismus sehen die Chefs der Atomenergie vollständig über die Probleme des Atommülls und des Rückbaus der AKWs hinweg, denn ihr Interesse gilt ausschliesslich der maximalen Rentabilität. Die Erpressung seitens der AXPO, der Betreiberin von Beznau I und II und von Leibstadt, die im Falle einer Annahme der Initiative am 27. November eine Entschädigung von 4 Milliarden Franken fordert, spricht Bände!
Wenn denn dieses Argument der Entschädigung greifen sollte, dann ebenfalls für Firmen, die aufgrund der kapitalistischen Konkurrenz pleitegehen. Es ist dies eine zurechtgestutzte Argumentation, die vor allem die Strategie der Erpressung seitens der Atomlobby aufzeigt.
Diese grossen Menschenfreunde denken wohl, dass sie diesen Atommüll in Zukunft in genügend armen Gegenden vergraben können, wo sich die Bevölkerung durch Versprechungen von neuen Arbeitsplätzen und günstigen wirtschaftlichen Auswirkungen ködern lassen. Machen wir dem Anwachsen des Berges von Atommüll ein Ende, indem wir uns für ein sofortiges Abschalten dieser todbringenden Technologie engagieren.
[i] L’Impartial, 22 octobre 2016
[ii] Le Courrier, 24 octobre 2016
[iii] Le Courrier, 14 octobre 2016
Tags: Ökosozialismus, Widerstand
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