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Aleppo – Stimmen aus der terrorisierten Stadt

Eingereicht on 16. Dezember 2016 – 15:59

 «Ich möchte frei und in Würde leben und das Regime von Bachar al-Assad sieht es als Verbrechen.» Dies ist eine der Stimmen, welche gerade in hiesigen Medien nur selten zu Wort kommen. Trotz der angekündigten Räumung

leidet die Bevölkerung von Ost-Aleppo weiterhin unter den Folgen der brutalen, viermonatigen Belagerung durch Assads Truppen sowie den regimetreuen Milizen unter iranischer Kontrolle. Mit der Rückeroberung der letzten Rebellenviertel scheinen die Kämpfe am Donnerstagnachmittag, 15. Dezember 2016, aufgehört zu haben. Nachdem die barbarische Bombenkampagne der russischen Luftwaffe den Zivilisten alles weggenommen und zerstört hat, fehlt es der verbliebenen oder fliehenden Bevölkerung an allem, was ein minimales Überleben ermöglichen würde: Spitäler, Bäckereien, Zivilschutz und Rückzugorte. Nach Berichten von mehreren Referenzmedien haben Busse und verschiedene Fahrzeuge am Donnerstag begonnen, Zivilisten sowie Rebellen aus Aleppo entlang eines Korridors aus der Stadt zu bringen. Da die Vereinten Nationen (UNO) die als „Räumung“ bezeichnete Aktion anscheinend nicht, oder nicht umfänglich, kontrollieren und den notwendigen Schutz der Zivilisten nicht gewährleisten kann, ist zu befürchten, dass Untaten gegen die „evakuierten“ Menschen begangen werden. Angesichts des grausamen Terrors, dem die Menschen von Ost-Aleppo ausgeliefert sind, und weil diese dramatische Situation vielfach auf Indifferenz und Teilnahmslosigkeit stösst, veröffentlichen wir einen Beitrag, der Menschen aus Aleppo zu Wort kommen lässt. (Red. BfS)

Redaktion Alencontre.org. Am Montag und am Dienstag, dem 13. Dezember 2016 bzw. 12. Dezember, haben Milizen, die direkt unter der Kontrolle des iranischen Regimes stehen (Revolutionsgarde, die Hisbollah, Milizen aus dem Irak), zusammen mit Spezialeinheiten der Diktatur von Bachar al-Assad einen Bezirk von Ost-Aleppo nach dem anderen zurückerobert. Bei der fast kompletten Rückübernahme des Stadtgebietes hatten sie die Unterstützung der russischen Luftwaffe und konnten sich während ihres Vorrückens auf Sperrfeuer stützen, das kontinuierlich zunahm. Es ist nachgewiesen, dass Bombenangriffe mit Phosphor, das heisst Brandbomben, zivile Opfer verursacht haben, die auf offener Strasse verbrannt sind. Junge Rebellen haben sich geweigert, in die Gebiete abzuziehen, die unter Kontrolle der Spezialeinheiten der Armee und der Polizei des diktatorischen Regimes sind. In den sozialen Netzwerken sagen sie, dass sie befürchten, gefangen genommen, gefoltert und erschossen zu werden. Übereinstimmende Informationen über solche Untaten werden jetzt bestätigt. Journalisten, die im westlichen Teil von Aleppo präsent sind, haben zudem über die Zwangsrekrutierung von jungen Männern berichtet, die aus Ost-Aleppo geflohen waren und dann zusammen mit regimetreuen Brigaden in die vorderste Linie geschickt wurden, um die letzten Rückzugsgebiete der Rebellen zu bekämpfen. Diejenigen, die sich weigern, werden den Geheimdiensten des Regimes übermittelt, den Mukhabarat, der seit Anfang 2011 etwa 40‘000 Menschen ermordet haben soll.

Omar Ouahmane, der als Korrespondent für den französischen TV-Sender France Culture arbeitet, hat verschiedene Zeugenberichte gesammelt, die am 13. Dezember mit den Nachrichten von 7h gesendet wurden: «Mondher hat die fünf letzten Jahre seines Lebens damit verbracht, zunächst über die Repression durch das Regime von Bachar al-Assad, und dann über die Gräuel des Bürgerkrieges Zeugnis abzulegen. Dieser junge Familienvater würde lieber sterben, als in die Gebiete unter Kontrolle der regimetreuen Kräfte zu gehen. Er erklärt: „Ich kann nicht in die Gebiete gehen, die das Regime kontrolliert. Zahlreiche Menschen werden dort gefoltert und erschossen. Es ist dieses Regime, das hunderttausende Menschen umgebracht hat. Es wird keine Gnade zeigen. In den rebellischen Stadtvierteln von Aleppo ausharren, unabhängig von den Folgen, war auch die Entscheidung von Mohamed, der seine Freiheit um keinen Preis verlieren will: „Warum ich nicht in die Gebiete unter der Kontrolle des Regimes gehe? Weil ich dort verhaftet werde. Ich möchte frei und in Würde leben und das Regime von Bachar al-Assad sieht dies als Verbrechen an. Hunderte von Menschen, die entschieden hatten, in die Gebiete unter der Kontrolle des Regimes zu gehen, sind heute als verschwunden gemeldet, und dies hätte auch bei mir der Fall sein können. Manche wurden in die Armee des Regimes zwangsrekrutiert. Manch andere sind im Gefängnis gelandet.“ Das einzige Verbrechen, das diesen Aktivisten vorgeworfen wird, ist, dass sie Zeugen von den Untaten des syrischen Regimes waren.»

Raphaël Pitti ist ein ehemaliger Militärarzt aus Frankreich, der unter anderem in Aleppo für die Ausbildung des medizinischen Personals (im Auftrag der Union des organisations de secours et soins médicaux) zuständig war, und immer noch im Kontakt mit Angehörigen des medizinischen Personals im übriggeblieben Gebiet unter Rebellen-Kontrolle ist. Raphaël Pitti hat am 13. Dezember dem Journalisten Eric Biegala über die regimetreuen Kräfte folgendes berichtet: „Sie haben Familien in ihren Häusern verbrannt. Sie haben etwa dreissig Kinder summarisch erschossen, in der Nähe des Friedhofes. Im Krankenhaus Al-Hayat haben sie das ganze medizinische Personal getötet, sowie die Kranken, die in diesem Spital waren. Die Leute sind terrorisiert.

Die Red Berets, eine Spezialeinheit aus Tschetschenien, oder: von Grosny nach Aleppo

Zum selben Zeitpunkt, als die Bombenangriffe durch die Luftwaffe von Wladimir Putin auf die nordsyrische Grossstadt zunahmen, berichtete die Journalistin Isabelle Mandraud von der französischen Tageszeitung Le Monde (Ausgabe vom 10. Dezember 2016): „Tschetschenische Spezialeinheiten wurden nach Syrien entsandt, um dort einen ,Militärpolizei-Einsatz zu absolvieren und den russischen Luftwaffenstützpunkt von Hmeimim, in der Provinz Latakia, zu sichern. Am 6. Dezember wurde ein Video veröffentlicht, worin dutzende Soldaten aus Tschetschenien auf einem Militärstützpunkt darauf warten, ins Flugzeug einzusteigen. Zwei Tage später wurde dasselbe Video durch eine dem russischen Verteidigungsministerium nahstehende Internetseite sowie mehreren russischen Medien verbreitet.”

Das Experiment von Grosny wird neu aufgelegt. [Das Massaker in der tschetschenischen Stadt Grosny im Jahr 2000] bedeutete die Zerstörung der Stadt und die Repression der „rebellischen“ Bevölkerung nach Methoden, die heute in Syrien und in Aleppo zur Anwendung kommen. Isabelle Mandraud erklärt es so: „Die Anwesenheit von tschetschenischen Militärangehörigen in Syrien muss als Symbol gesehen werden, das schon im Oktober 2016 in einer Twitter-Meldung der russischen Botschaft in den Vereinigten Staaten angedeutet wurde. Zusammen mit jüngeren Fotos von Grosny nach dessen Zerstörung durch russische Bomben am Anfang der 2000er Jahren und nach dessen anschliessendem Wiederaufbau, wollte die Twitter-Meldung betonen, dass diese Stadt seitdem ,ruhig, modern und florierend′ geworden ist. Unter dem Stichwort Aleppo stand anschliessend folgende Frage: ′Wäre es nicht die Lösung, die wir suchen? John Kerry? Boris Johnson?′.“

Nach der Zerstörung von Ost-Aleppo werden die russischen Suchoi-Kampfflugzeuge, die unter anderem an Bord des Flugzeugträgers Admiral-Kusnezow stationiert sind, die Provinz Idlib und damit den letzten Rückzugsort der Zivilbevölkerung von Aleppo in ihrer Flucht vor dem Massaker, mit Bomben angreifen.

Die grausame Erfahrung von Grosny bekommt in Aleppo eine neue Dimension. 2007 dienten die so genannten „Flüchtlingslager“ [in Tschetschenien und im Nordkaukasus], unter anderem das Lager von Tschernokosovo, dazu, die Widerstandkämpfer „auszufiltern“, das heisst sie zu foltern, zu erschiessen oder enorme Summen als Gegenleistung für ihre Befreiung zu verlangen. Die „Red Berets“ aus Tschetschenien, unter der formellen Befehlshoheit von Ramzan Kadyrow, sowie dem syrischen Geheimdienst (Mukhabarat) werden somit ihre Praktiken vereinigen, was stark befürchten lässt, dass neue Verbrechen unter dem Mantel der „Terrorismusbekämpfung“ begangen werden.

Die Zerstörung von Ost-Aleppo und seiner Bevölkerung geschehen nicht nur aus dem Grund, dass der Diktator al-Assad um jeden Preis „die Wirtschaftsmetropole Syriens zurückerobern will“, wie die meisten Medien analysieren. Für das diktatorische Regime von Bachar al-Assad und die regionalen Mächte, die ihn politisch und militärisch unterstützen (v.a. Russland und Iran) geht es darum, einen Teil der „syrischen Revolution“ auf brutalste Weise zu ersticken. Wie der Präsident des lokalen Rates von Ost-Aleppo, Brita Hagi Hasan, es anlässlich von zwei Konferenzen in der Westschweiz Anfang Dezember 2016 (am 11. Dezember in Lausanne und Genf) betonte, war es für das Regime die höchste Priorität alle Formen des lokalen Widerstandes zu zerstören, gerade weil dieser Widerstand seit 2012 aufgrund seiner lokalen Strukturen die Möglichkeit einer Selbstorganisation und einer Befreiung ausdrückte. Es war dieser Horizont des Möglichen, der seit der massiven Intervention der russischen Luftwaffe im Oktober 2016 mehr und mehr verschwand, bis es nur noch um den schwierigen Kampf ums Überleben ging.

Übersetzung BFS Zürich.

Quelle: sozialismus.ch… vom 16. Dezember 2016

 

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