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28. April – Generalstreik in Brasilien

Eingereicht on 28. April 2017 – 8:26

Markus Lehner. Für den 28. April haben alle großen brasilianischen Gewerkschaftsdachverbände zur ganztägigen Niederlegung der Arbeit aufgerufen aus Protest gegen die Arbeitsmarkt- und Rentenreform der Regierung Temer. An diesem Protesttag sind nicht nur die „linken“ Dachverbände CUT, CTB, Intersindical und CSP-Conlutas beteiligt,

sondern auch CSB, Nova Central, Força Sindical (FS), UGT, SGBT – also auch diejenigen Gewerkschaften (vor allem die FS), die den Putsch gegen die Regierung Dilma unterstützt hatten.

Dieser eintägige Generalstreik ist der bisherige Höhepunkt einer sich stetig steigernden Protestbewegung: Schon am 15. März waren mehr als eine Million Menschen dem Protestaufruf von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen gefolgt. Am 31. März und Mitte April folgten weitere millionen-starke Proteste parallel zu den Abstimmungen im brasilianischen Kongress.

Anstoß des Protestes sind eine Reihe von Gesetzesvorhaben der neo-liberalen Temer-Regierung, die eine Art „Agenda 2018“ umsetzen will – so schnell wie möglich, bevor 2018 wieder ein/e legale/r PräsidentIn gewählt werden muss. Tatsächlich richtet sich der Protest grundlegender gegen einen Generalangriff der herrschenden weißen Oberschicht auf die sowieso nicht besonders üppigen sozialen Errungenschaften der letzten Jahre.

Muster

Brasilien stellt sicher ein Muster für die politische Wende in ganz Lateinamerika dar. Selbst bei „liberalen“ oder „gemäßigt bürgerlichen“ Medien ist der Diskurs eindeutig: Die Regierung Temer mag selbst korrupt und nicht „besonders fortschrittlich“ sein, aber die „wirtschaftlichen Reformen“ seien „unumgänglich“. Teil dieses Diskurses ist es auch, dass der „Populismus“ (darunter werden in Lateinamerika die reformerischen Linken, nicht wie bei uns vornehmlich die RechtspopulistInnen verstanden) viel zu viel versprochen hätte, was sich jetzt als schädlich erweise – vor allem für die weiteren Bereicherungsprojekte der weißen Oberschichten natürlich. Klar ist eines: Die verschiedenen Projekte einer „neuen Linken“ in Lateinamerika, die auf Kompromissen und Koalitionen mit bestimmten Teilen der Bourgeoisie-, Agro-Industrie und GrundbesitzerInnen beruhten, sind allesamt gescheitert, nicht nur in Brasilien. In fast allen Ländern Lateinamerikas nutzen die Herrschenden ihre überragende Medienmacht (wie dies in Brasilien durch den allmächtigen Globo-Konzern besonders deutlich wird), bis zu den in die Verfassungen eingebauten autoritär-bonapartistischen Mechansimen, um die Linksprojekte zu stützen und mehr oder weniger legal ihre Art der „Reformpolitik“ durchzusetzen.

Daher braucht man gegenwärtig nicht direkt den Militärputsch, sondern bedient sich gut geschmierter Medien- und Justiz-Kampagnien, Spin-Gruppen in den sozialen Medien, der guten Vernetzung (auch finanzieller Art) in die Abgeordneten-Hinterzimmer hinein. Bezeichnend ist die alles dominierende „Korruptionsbekämpfung“ in Brasilien:

Der von Globo als Held des Anti-Korruptionskampfes gefeierte Bundesrichter Moro geht in geradezu hysterischer Art und Weise gegen AmtsinhaberInnen der PT, speziell den ehemaligen Staatspräsidenten Lula da Silva vor (auch wenn er gegen ihn nach Jahren keinen Beweis finden konnte), während die Spitzen der rechten Parteien (Serra, Neves, Alckmin), trotz offen liegender Beweise und Aussagen zentraler Konzernchefs (z. B. Odebrecht)  von Moro weitgehend unbehelligt bleiben – natürlich mit großem Verständnis nicht nur von Medien des Globo-Konzerns. Immerhin handelt es sich ja um Politiker, die jetzt die „notwendigen Reformen“ umsetzen müssen!

Diese Einseitigkeit ist nur verständlich, wenn man den rassistischen Hass und die Überheblichkeit der brasilianischen Oberschicht gegenüber „den Armen“ bedenkt. Der PT-Regierung wird angelastet, dass man viel zu lange sich mit den „Ungebildeten“, „Unkultivierten“, „Schwarzen“, kurz „dem Abschaum“ beschäftigt hat, während es doch um die „Zukunft dieses großen Landes“ ginge – also um die guten Geschäfte z. B. mit dem agro-industriell vernutzbaren Regenwald und die großen anderen Ausbeutungsprojekte mit der reichlich vorhandenen Ressource Mensch.

Bündel der Angriffe

Von diesem Gesichtspunkt aus wird das ganze Bündel an Maßnahmen der Temer-Regierung verständlich: Sofort nach dem Putsch wurde die Gunst der Stunde genutzt, um in der Verfassung eine Haushaltsdefizitbremse für 20 Jahre einzubauen – erwartet werden auf Grund dessen Ausgabenkürzungen im Gesundheits- und Bildungsbereich um die 40 %. Sofort gestrichen wurden die Mittel für die Bekämpfung des Analphabetismus. 10-30 % der BezieherInnen von Sozialhilfe (Bolsa Familia) verloren ihre Bezugsrechte. Die Mittel für sozialen Wohnungsbau wurden um 4,8 Mrd. Reais (rund 1,41 Mrd. Euro) gekürzt. Ebenso wurden zahlreiche Kürzungsmaßnahmen im Bildungssektor beschlossen, besonders was Stipendien und öffentliche gegenüber privaten Bildungseinrichtungen betrifft.

Besonders letzteres führte schon seit dem letzten Jahr zu massiven Protesten und Besetzungsaktionen. Als jetzt die Arbeitsmarkt- und Rentenreform dazu kamen, änderte sich auch die Basis der Protestbewegung. Hatten noch letztes Jahr vor allem SchülerInnen, Studierende und soziale Bewegungen (MTST = Bewegung obdachloser ArbeiterInnen, MST = Bewegung der LandarbeiterInnen ohne Boden) den Protest getragen, sind seit Februar die Gewerkschaften nicht mehr nur nominell beteiligt. In vielen Regionen wurden sie auch zur Führung des Protestes.

Arbeitsmarkt

Die Arbeitsmarktreformen bedeuten im Wesentlichen eine Deregulierung ähnlich derjenigen, die mit der Agenda 2010 in Deutschland durchgesetzt wurde. Einerseits wird mit dem Gesetzesvorhaben PL 4302 die völlige Freigabe der Leih- und Kontraktarbeit durchgesetzt (die bisher nur für ganz bestimmte Dienstleistungen offiziell möglich war). Ein Anstieg der Leiharbeit von 13 auf 50 Millionen wird vorhergesagt. Andererseits soll die Reform des Arbeitsrechts (PL 6787) die unbegrenzte Verlängerung befristeter Arbeitsverhältnisse ermöglichen.

Die Rentenreform (PEC 287) beinhaltet einerseits eine allgemeine Anhebung des regulären Renteneintrittsalters auf 65 Jahre – auch für Frauen, denen Kindererziehungszeiten oder ähnliches dabei natürlich nicht angerechnet werden. Da Frauen bisher um 5 Jahre kürzer arbeiten mussten, führte dies dazu, dass der 8. März zu einem sehr großen Auftakt der diesjährigen Protestwelle in Brasilien wurde. Ein weiterer Teil der Rentenreform besagt, dass der volle Rentenbezug nur bei 49 Versicherungsjahren möglich wird. Es ist kein Wunder, dass die Regierung hier eins zu eins die Forderungen des mächtigsten Verbandes in Brasilien umsetzt, des FIESP (dem Unternehmerverband von Sao Paolo). Zu diesem FIESP gehören auch Unternehmen wie Daimler, Volkswagen, Bayer, BASF und Siemens, die ja entsprechende Thinktanks aus dem Bereich der „sozialen Marktwirtschaft“ bereitstellen können.

Die Forderung der Streik- und Protestaktionen, diese Gesetze sofort zurückzunehmen, ist sicherlich nur zu berechtigt. Die knapper werdenden Abstimmungsergebnisse im Kongress zeigen, dass schon die bisherigen Proteste Wirkung gezeigt haben. Allerdings ist die Hoffnung der Gewerkschaftsführungen, mit eintägigen Generalstreiks die Regierung zum Einlenken oder zu „Kompromissen“ zu zwingen, sicher illusionär. Bedenkt man den politischen Hintergrund der Gesamtwende der Herrschenden, ist klar, warum Temer & Co. die Abgeordneten schon jetzt massiv unter Druck setzen, um die Vorhaben durch den Kongress zu peitschen. Für die Herrschenden steht hier ihr Gesamtprojekt auf dem Spiel – sie sind zu keinerlei Kompromissen oder gar einer Wiedereinbindung von PT/CUT in ihr Politikmanagement bereit. Die Strategie der CUT-Führung, die Bewegung für eine Wiederwahl von Lula zu benutzen, ist der sicherste Weg in die Niederlage.

Unbefristeter Generalstreik!

Diese verfehlte Strategie der Gewerkschaftsführung zeigt klar, dass es für die brasilianische ArbeiterInnenklasse und die armen Massen unumgänglich ist, eine eigenständige Führung unabhängig von den ReformistInnen aufzubauen. Dies setzt den Ausbau der Basiskomitees des Protestes in den Städten, Stadtteilen, Regionen und Betrieben zu einer landesweiten Führung voraus. Insbesondere wird zum Niederwerfen der Temer-Offensive mehr notwendig sein als eintägige Protestaktionen und Streiks. Der nächste Schritt kann nur der unbefristete Generalstreik sein, bis alle Angriffe zurückgenommen sind. Dafür muss nun in den Basisstrukturen gegen die auf Kompromisse mit der Regierung und das Umstimmen von Abgeordneten setzende Strategie der Gewerkschaftsführungen gekämpft werden.

Ein unbefristeter Generalstreik, der die zentralen Projekte einer Wende-Regierung zu Staub verwandeln will, kann unmittelbar zur Frage der Macht, zunächst zur Frage des Sturzes der Regierung führen. Angesichts der Machtmittel der Regierung, der Druckmittel, die die „Zivilgesellschaft“ und ihre Medien auf die Streikenden ausüben werden, wird die Frage der Kontrolle über die Information und die bewaffneten Organisationen in diesem Zusammenhang notwendigerweise zur Frage einer Regierung auf der Basis der Organisationen und Basisstrukturen der Bewegung führen, also zur Frage einer Regierung der ArbeiterInnen und der armen Bevölkerung.

Nur so kann das Informations- und Gewaltmonopol der herrschenden Oberschichten gebrochen werden, das noch jede wirkliche Maßnahme zu Gunsten der ArbeiterInnen und armen Massen hintertrieben hat. Angesichts des zersplitterten Zustands der brasilianischen Linken und der nach wie vor bestehenden Stärke der reformistischen PT (bzw. ihres linksreformistischen Zwillings, der PSOL) ist klar, dass dieser Weg nur zum Sieg führen kann, wenn gleichzeitig eine wirklich revolutionäre Alternative zu PT und PSOL aufgebaut wird. Die Macht und der Enthusiasmus der Protestbewegung wie auch das große Potential an revolutionär gesinnten Militanten, die in dieser Bewegung aktiv und organisierend dabei sind, zeigt, dass diese Alternative nicht bloß eine abstrakte Formel ist.

Quelle: Neue Internationale 219, Mai 2017… vom 28. April 2017 

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