Arbeiterkämpfe in der Schweiz 1945-73
A.V. „Die ganze Welt freute sich, als in Japan der letzte Schuss in diesem Krieg gefallen war. Aber schon verzeichnet die sozialistische Presse triumphierend den ersten Schuss, der an der inneren schweizerischen Front ausgelöst wurde,
noch bevor der Waffenstillstand auf der ‚Missouri‘ besiegelt war.“ (Schweizerische Handelszeitung, Nr. 36, 6. Sept. 45)
Tatsächlich befreite die Beendigung des zweiten Weltkrieges die Arbeiterkämpfe von einer schweren Last, die ihnen über Jahre grosse Schwierigkeiten bereitet hatten.
Krieg bedeutet für die Arbeiter, dass sie die Fabriken, wo sie sich organisieren können, verlassen müssen und vielleicht noch mehr auseinandergerissen werden als bei Arbeitslosigkeit, während die Pression ungeheuer verschärft wird.
Wie dem auch sei, der oben zitierte bürgerliche Schreiberling hatte jedenfalls recht, wenn er eine gewaltige Wiederaufnahme der Arbeiterkämpfe nach dem Kriegsende feststellte.
Falsch war seine Ansicht, dass die Arbeiter während des Krieges nicht gekämpft hätten.
Dafür gibt es zu viele Gegenbeispiele. Erreicht hatte der Krieg nur, dass die Kraft der Arbeiter vorübergehend zurückgedrängt wurde: die Reallöhne waren gesunken, die Arbeitszeit war verlängert worden und die Arbeitshetze immens gestiegen.
Der vierwöchige Streik bei der SIS (Schweizerische Industriegesellschaft für Schappe) in Arlesheim im Juni 45 kündigte eine ganze Welle von Kämpfen bis zur Konfrontation mit dem Staatsapparat an, die unserem Bewusstsein weitgehend verschüttet sind. Um zu verstehen, was in den Jahren darauf geschehen ist, sind sie jedoch sehr wichtig. Einige Momente dieser Kampfphase können wir bereits heute darstellen, andere werden vielleicht folgen.
Die erwähnte SIS in Arlesheim und Augenstein in der Nähe von Basel beschäftigte 400 Arbeitskräfte, vor allem Arbeiterinnen. Diese Spinnerinnen, die aus Abfallseide billige Garne herstellen wurden mit dem Bedeaux-System (ein extremer Leistungslohn), das sie „Fotzelsystem“ nannten, zu einer unmenschlichen Arbeitshetze angetrieben. Mit der Parole: „Allein sind wir nichts, zusammen sind wir alles“ kämpften sie erfolgreich für höhere Löhne, für eine Verbesserung der Akkordprämien und die Bezahlung von Feiertagen und Ferien.
Endgültig trat damit ein Gewerkschaftsbund ins Rampenlicht, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, mit der Parole: „Mehr Lohn, mehr Recht und Freiheit in den Betrieben“ die weitgehend unorganisierten Textilarbeiterinnen und –arbeiter und die Chemiearbeiter in die Arbeiterbewegung zu integrieren. Innert 6 Jahren, nämlich von 1940 – 1946 gelang es dem Schweizerischen Textil- und Fabrikarbeiterverband (SFTV), seine Mitgliederzahlen von 7 000 auf 40 000 zu steigern.
Der erste Schuss
Dies geschah unter der Leitung des PdA-Genossen Leo Löw und es war wohl das letzte Beispiel eines von den Kommunisten geleiteten gesamtschweizerischen Gewerkschaftsbundes, einmal abgesehen von einigen wenigen Berufsgruppen im SBHV, wie z. B. den Zürcher Zimmerleuten oder von einigen regionalen Stützpunkten, wie vor allem Genf aber auch einigen Ortschaften wie Pratteln und Nyon.
Nicht verwunderlich deshalb, dass nicht nur die Unternehmer geiferten, sondern auch die sozialdemokratischen Gewerkschafter mit Denunziationen nicht gerade zimperlich hinter dem Laden zurückhielten. Doch hinter dieser eher parteipolitischen Auseinandersetzung zweier Fraktionen des Reformismus stand das Problem von Industriezweigen wie gerade der Textilindustrie, deren Produktion auf der Beschäftigung vorwiegend un- oder angelernter Arbeiter beruhte und die gerade auch deshalb einen sehr grossen Anteil Frauen beschäftigt hatten. 1944 waren von 53’000 Arbeitskräften in der Textilindustrie 30’000 Frauen, also mehr als die Hälfte. Dieser Anteil war während des Krieges stark gestiegen.
Der kommunistische Einfluss in dieser Industrie beruhte auf zwei Momenten: einerseits auf seinen traditionellen Facharbeiterstützpunkten, wie den qualifizierten Webern. Andererseits auf dem weitgehend unorganisierten Kampfpotential der Masse von un- und halbqualifizierten Arbeitskräften, die ihre Bedürfnisse bisher nur sporadisch durchzusetzen vermochten. Leider wissen wir gerade darüber fast nichts. Nur wenn man sich z. B. das Fabrikreglement der bestreikten Basler Schappe-Industrie ansieht, weiss man, gegen was die Unternehmer vorgehen mussten und weshalb es ihnen letztlich dann doch noch lieber war, sechs vertraglich geregelte Feiertage und eine Woche Ferien zuzugestehen.
Nach diesem Reglement mussten die Arbeiter eine Kaution von 40 Franken hinterlegen, (was etwa einen Fünftel ihres Monatslohnes ausmachte!), die z. B. so gebraucht wurde: „Ebenso verfällt ein Viertel der Kaution bei unentschuldigtem Fernbleiben von der Arbeit oder bei nicht sofortigem Wiedererscheinen zur Arbeit nach Genesung von einer Krankheit.“
Mit den Arbeiterkämpfen in der Textilindustrie begannen sich jedoch auch die Bauarbeiter zu regen, die vorerst mal ebenfalls ihre Löhne auf das Vorkriegsniveau heben und danach dann aber möglichst eine reale Lohnerhöhung durchsetzen sollten. Gleichzeitig gingen sie aber an vielen Orten gegen die Akkordarbeit vor (z.B. im September 45 die Gipser in Schaffhausen oder die Zürcher Maurer und Handlanger im Dezember des gleichen Jahres), und vor allem setzten sie eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf die Tagesordnung.
Allerdings nahmen die Kämpfe der Bauarbeiter nur in wenigen, jedoch sehr wichtigen Fällen jenen einheitlichen Charakter wie bei den Textilarbeitern an. Denn im Baugewerbe kämpften die einzelnen Berufsgruppen: die Maler, die Gipser, die Schreiner und Zimmerleute, die Anschläger und Parkettleger, die Elektriker, die Isolateure, die Spengler oder die Kranführer zumeist alleine. Nur wenn die Maurer und vor allem die zahlreichen Bauhandlanger auf den Plan traten, nahm das Kampfgeschehen einen einheitlicheren Charakter an.
Doch auch die einzelnen Berufsgruppen wussten ihre Kämpfe vielfach effektiv zu führen: die Schreiner in Lausanne führten ihren Streik im August 1945. kurz vor Eröffnung des Comptoirs, was den Schreinermeistern gehörig Druck aufsetzte. Genügte das noch nicht, so gingen halt einige Buden wieder kaputt. (In diesem Falle zwei)
Weniger von sich reden machten in diesem Jahr die Arbeiter der Metall- und Maschinenindustrie. Doch im Dezember wollte sich die Motorenfabrik Brozincevic in Wetzikon nicht den SMUVschen Bedingungen des Friedensabkommens unterwerfen. Die weitgehend vorherrschenden Berufsarbeiter wollten ihre Löhne dem schweizerischen Durchschnitt anpassen. Der SMUV setzte alles daran, die Kämpfe mit seiner „Friedensvereinbarung“ zu unterdrücken.
Beugte sich ein Unternehmer jedoch diesen Bedingungen einmal nicht, so war die Gewerkschaft schliesslich nach langen Verhandlungen bereit, einen Streik zu organisieren, wie in diesem Fall.
Spärlicher sind ebenfalls Beispiele wie das des kurzen und erfolgreichen Kampfs der Arbeiterinnen der Knopffabrik Boutons Helvetia in Adliswil, die ohne jede gewerkschaftliche Hilfe in einem günstigen Moment im November 45 eine dreissigprozentige Lohnerhöhung durchsetzten. Da mussten die.49 Arbeiterinnen und 28 Arbeiter der Strumpffabrik ARGO in Möhlin (AG), die am 4. Dezember zu streiken begannen, sechs Wochen im Ausstand bleiben, bis der STFV eine Lohnzulage und weitere Verbesserungen aushandeln konnte.
Aber auch die Chemiearbeiter führten den im Juli 1944 siegreich von den Arbeitern der GEIGY-Werke in Schweizerhalle begonnenen Kampf für mehr Lohn und weniger Arbeit fort. Bereits ein Jahr später waren mehr als zwei-hundert STFV-Arbeiter der chemischen Werke in Zofingen (AG) in den Ausstand getreten, um den für die chemische Industrie in Basel gültigen Gesamtarbeitsvertrag auch für die Firma in Anwendung zu bringen.
Doch erst das Jahr 1946 sollte zum wohl aufregendsten Jahr in der Arbeitergeschichte der Schweiz während der ganzen Nachkriegszeit werden. Allerdings waren in diesem Jahr bei weitem nicht nur die Arbeiter in der Schweiz dabei, offensiv für ihre Bedürfnisse gegen die Unternehmer vorzugehen.
In ganz Europa und vor allem in den USA waren die unmittelbaren Nachkriegsjahre Schauplätze eines Kampfzyklus der Arbeiter, der verschiedentlich die Form der bewaffneten Auseinandersetzung erreichte und einen sagenhaften Repressionsapparat des Unternehmerstaats herausforderte, allerdings, wie z.B. in Italien, auch kommunistische Parteien an die Regierung schwemmte.
Der Aufstand der Bauarbeiter
Bis in den Mai 46 hinein beherrschten in der Schweiz die Bauarbeiter das Bild: sie nützten in der ganzen Schweiz den grossen Boom auf dem Wohnungsmarkt aus, um Lohnerhöhungen und bessere Ferienregelungen durchzusetzen. Jedoch kämpften Z.B. in Zürich die Plattenleger und Bauanschläger alleine, in den verschiedenen Ortschaften des Jura wiederum andere Berufskategorien für sich. Ebenso mehrere-hundert Gipser und Maler in Bern. Doch am 13. April demonstrierten 1’500 Bauarbeiter in Genf und zehn Tage später legten sie nacheinander alle grossen Genfer Baustellen lahm.
Die überall verteilten Streikposten schmissen Streikbrecher mit Gewalt von ihren Arbeitsplätzen und ganz offensichtlich bekam der SBHV grosse Mühe, die Bewegung noch zu kontrollieren. Verschiedene Unternehmer, die an sich noch arbeitswillige Elemente zur Verfügung gehabt hätten, schlossen ihre Betriebe freiwillig, weil ihnen angst und bange um ihre Produktionsmittel wurde. Die Polizei beschränkte sich vorerst einmal darauf, die Kundgebungen zu überwachen.
Bei renitenten Unternehmern wurden kurzerhand Maschinen kaputtgemacht, Werkzeuge fortgeschmissen, Ölfässer angezapft. Tausend Arbeiter marschierten durch die Stadt, und auf der Mont-Blanc-Brücke versenkten sie zum Andenken eine liebenswürdige Baumaschine in der Rhone. Als die Meister und der SBHV am 26. April wieder zusammen mit dem Staatsrat im Stadthaus um die geforderten 9 Tage Ferien verhandelten, demonstrierten tausende von Bauarbeitern durch die Stadt und zogen schliesslich zum Stadthaus, wo ihre Aktionen der Gewerkschaft endgültig entglitten.
Auch Leon Nicole, der wie andere Führer der Arbeiterbewegung zur Mässigung aufrufen wollte, wurde von militanten Bauarbeitern zum Schweigen gebracht.
Die Demonstranten stürmten das Stadthaus, warfen Akten zum Fenster hinaus, und eine Privatwohnung schlugen sie kurz und klein. Die vier bei diesem Angriff verhafteten Arbeiter gehörten nicht dem Bau- und Holzarbeiterverband an, und man kann mit Sicherheit annehmen, dass hier aussergewerkschaftliche Strukturen zum Funktionieren kamen, die sich in solchen Situationen voll entfalten können.
Die Polizei warf die Arbeiter mit Tränengas und Hydranten auf die Strasse zurück und versuchte die Demonstration aufzulösen. Doch in einer Strassenschlacht wurden vorerst mehrere Polizisten verletzt und zwei Autos umgeworfen. Eines der Autos gehörte sinnigerweise dem sozialdemokratischen Staatsrat Rosselet, der sich laut NZZ „ganz besonders um die Beilegung des Konflikts im Baugewerbe bemüht hatte“. Doch die Demonstration löste sich erst auf, als bekannt wurde, dass die Forderungen der Bauarbeiter weitgehend erfüllt waren und die Streiktage hundertprozentig ausbezahlt würden.
Im Mai stimmte eine schweizerische Bauarbeiterkonferenz schliesslich einem Landestarifvertrag zu, der „die Gefahr eines Landesstreiks im Baugewerbe abgewandt hat“.(Vorwärts Nr. 113, 17. Mai 1946)
Der Kampf der Textil- und Fabrikproleten
Inzwischen entwickelten sich jedoch auch andere kleinere Konflikte, die wichtig waren für die Fortsetzung der zu diesem Zeitpunkt keineswegs abgeschlossenen Kämpfe der Textil- und Chemieproleten. So streikte die kleine Belegschaft der Korkfabrik Scheidegger in Laufen im Mai. Obwohl nur 28 Frauen und 6 Mann stark verteidigten sich die Streikenden unter Mithilfe von herbeigeeilten Genossen aus umliegenden Betrieben mit Barrikaden gegen in einem Autocar herbeigeführte Streikbrecher. Die 150 Gerbereiarbeiter in Männedorf erstreikten sich in einer Woche eine Stundenlohnerhöhung die gleichzeitig den Druck des Akkordsystems einschränkte.
Doch zum eigentlichen Fanal für die Textilarbeiter wurde der Streik der 400 Arbeiterinnen und Arbeiter der Bindfadenfabrik Flurlingen, der im Mai 1946 spontan begann und den die Gewerkschaft erst nachher unterstützte. Der „Bindistreik“ in Flurlingen (die Fabrik war unter den Arbeitern auch als „Zwing Uri“ bekannt) wurde zu einer eigentlichen Machtprobe zwischen Textilproleten und Textilkapital.
Sieben Wochen lang standen die Arbeiter im Kampf, dem die Unternehmer prophezeit hatten, er werde schon nach einer Woche zusammenbrechen. Auch Polizeieinsätze brachten die Belegschaft nicht an die Arbeitsplätze zurück. Im Gegenteil. Die “ Bindiarbeiter“ erhielten Unterstützung aus dem ganzen Land.
An einem 24-stündigen Solidaritätsstreik beteiligten sich insgesamt 4’000 Textilarbeiter in Zürich, Basel, Liestal, Burgdorf und Schaffhausen. 15’000 demonstrierten auf dem Helvetiaplatz in Zürich. Die PdA, die diesen Kampf am liebsten „als Warnung an die rückständigen Unternehmer“ gesehen hätte, lag sicher neben der Realität. Hier ging es um mehr. Längst war die Parole: „Anpassung der Löhne an das Vorkriegsniveau“ überschritten, und die Arbeiter benützten die Gelegenheit, um ihre Bedürfnisse nach mehr Lohn und weniger Arbeit viel umfassender zu artikulieren, als dies mit dem kapitalistischen Profit zu vereinbaren gewesen wäre.
Allerdings, und das war gleichzeitig ihre grosse Schranke, wurden diese Kämpfe fast ausschliesslich mit dem Ziel geführt, das neue Kräfteverhältnis zwischen Arbeitskraft und Kapital vertraglich abzusichern. Die Gesamtarbeitsverträge weiteten sich fast über die ganze Industriestruktur aus. Darin drückte sich der vorwiegend gewerkschaftliche Charakter dieser Kämpfe aus, der nur in bestimmten Situationen überschritten werden konnte. So entwickelte sich die Arbeiterautonomie denn vor allem an den Kampfformen.
Zweifellos war diese Institutionalisierung der Kräfteverhältnisse in der Produktion vorerst eine wichtige Errungenschaft für die Arbeiter. Gleichzeitig war sie aber auch für das Kapital notwendig. Vor allem die Verallgemeinerung der Institutionen „Einigungsamt“ und „Schiedsgericht“ erlaubte es den Unternehmern immer wieder, Kompromisse durchzusetzen und damit die Kämpfe zu kontrollieren.
Diese Konfliktschlichtungsanstalten stellten sich mit der Zeit als grosses Hindernis der Kämpfe heraus, nicht zuletzt, weil sie gerne genug grosse Bussen verteilten, wenn Verträge verletzt wurden. Die Gewerkschaften wurden so gerade durch die Art, wie sie die Kämpfe führten, immer mehr in den Staat integriert und konnten sich dem auf dieser Ebene vorherrschenden Gesetzesfetischismus nicht mehr entziehen. Sie waren für die Unternehmer aber auch lebensnotwendig geworden. Ohne organisierte Arbeiterbewegung wäre es niemals mehr möglich gewesen, die Arbeiter zu kontrollieren.
Neue Kampfstrukturen ausserhalb der Gewerkschaften zu finden, ist jedoch nicht leicht. Die Arbeiter brauchten mehr als zwei Jahrzehnte, um in verschiedenen Anläufen die Vertragspolitik zu unterlaufen und ihre Wirksamkeit immer mehr zu zerstören.
Im Juni 46 kämpften die 350 Zofinger Chemiearbeiter für mehr Lohn und den Ausschluss des gelben Landesverbandes freier Schweizer Arbeiter als Vertragskontrahenten, der fast alle Streikbrecher organisiert hatte. Nach drei Wochen erreichte der STFV seine Forderungen. Es ist bezeichnend wie die Gewerkschaft zu den Arbeitern reden musste: „Noch nicht alle Forderungen der Belegschaft verwirklicht, wie es eigentlich wünschenswert wäre. Wir müssen diesen Kampf als eine Etappe betrachten, der sich neue Aktionen anschliessen werden.
Es gibt zwar Leute, die mit dem was sie im gemeinsamen Kampf erreichten nie zufrieden sind und die erst noch glauben, diese Einstellung sei besonders radikal. Eine solche Meinung hat mit ernsthafter gewerkschaftlicher Tätigkeit nichts zu tun. Akzeptieren wir deshalb den vorliegenden Vertrag, arbeiten wir unermüdlich am Aufbau und an der Konsolidierung unseres Verbandes weiter, dann wird es uns auch möglich sein in einem späteren Zeitpunkt die anderen Forderungen ebenfalls verwirklichen zu können.“ (Volksrecht Nr. 151, 1. Juli 46)
In der Textilindustrie ging es weiter: Im Juni streikten 450 Arbeiterinnen und Arbeiter der. Tuchfabrik Schild in Liestal; ihnen folgten schon bald 700 Wädenswiler Tuchweber (zweier Fabriken). Damit sie nicht als Streikbrecher gebraucht werden konnten, traten auch die 100 Arbeiter des Berner Schild-Betriebes in den Ausstand. Und nochmals 4 Tage später folgte die Tuchfabrik Schaffhausen. Als gleichzeitig in einem der grössten Textilbetriebe, der Viscose in Emmenbrücke (1200 Arbeiter), an einer Arbeiterversammlung mit mehr als der halben Belegschaft Kampfmassnahmen diskutiert wurden, gaben die Textilbarone in vielen Betrieben nach.
Mit einem Sitzstreik protestierten im November 46 die Arbeiter und Arbeiterinnen der Spinnereiabteilung der Feldmühle in Rorschach gegen die Einführung eines neuen Schichtplanes. Der neue Schichtplan sollte auf der einen Seite die grosse Überzeit während des Krieges reduzieren, andererseits den Arbeitern jedoch gleichzeitig einen Lohnabbau einbrocken. Die Feldmühle produzierte bis vor kurzem Kunstseide und (auch heute noch) Cellux-Klebebänder. Über die Arbeit schrieb ein streikender Arbeiter: „Die Ursache, die dem ganzen Konflikt zugrunde liegt, reicht also auf Kriegsanfang zurück. Die Belegschaft war durch die damalige Lage gezwungen, mit manchmal nur drei Vierteln oder gar der Hälfte des Schichtstandes zu arbeiten.
Was das in einem Betrieb, wie es die Feldmühle ist, heisst, kann nur derjenige voll ermessen, der denselben kennt. Da kann man nicht einfach einige Maschinen abstellen oder beliebig reduzieren. Nein, die Arbeit muss bewältigt werden, ob nun 20 oder bloss 12 Mann im Betrieb zur Arbeit erscheinen. Was dies in einem Betrieb heisst, in dem schon arbeitsbedingt ungesunde Verhältnisse sind, weiss sicher jeder der 180 Streikenden, und zwar besser als Herr Direktor Grauer, der noch nie mit schmerzenden, wunden Händen stundenlang in einem heissen und scharfen Schwefelsäurebad arbeiten musste.“ (Volksrecht Nr. 266, 12. Nov. 46)
Der Streik war nicht sofort erfolgreich. Nach einer Woche trat dann auch der übrige Teil der 1200-köpfigen Belegschaft in den Ausstand. Die Direktion leistete gegen diese Ausweitung der Streikfront Widerstand. Ein Rorschacher Gemeinderat unterstützte sie, indem er Streikbrecher organisierte. Diese mussten angesichts der Streikposten aber wieder abziehen.
Der Gemeinderat verliess mit seiner Familie unmittelbar darauf Rorschach in unbekannter Richtung; wohl mit Grund befürchtete er Akte proletarischer Justiz. Doch die Arbeiterfront bröckelte nach einer Intervention des BIGA ab, als der SMUV und die christlich-soziale Gewerkschaft ausscherten. Die Belegschaft unterstützte so schliesslich einen verschlechterten Einigungsvorschlag mit 494 gegen 455 Stimmen. Gegen eine starke Minderheit musste der Streik aufgegeben werden. Wahrscheinlich erlaubte diese, Spaltung der Belegschaft der Direktion später auch aktive Gewerkschafter zu entlassen.
Im November streikten 500 Arbeiterinnen und. Arbeiter der Baumwollbetriebe in Uster (90% waren Frauen). Dieser Kampf wurde besonders hitzig geführt, weil der Unternehmer versuchte, die ebenfalls streikenden Italienermädchen auf seine Seite zu ziehen und ihnen zu diesem Zwecke zum Beispiel vorspiegelte, sie müssten die gewerkschaftliche Streikunterstützung später wieder zurückzahlen. Er versuchte sogar, sie nach einer Spinnerei im Zürcher Oberland zu verfrachten.
Da begann die Gewerkschaft eine grosse Solidaritätsdemonstration der ganzen Region zu organisieren. 5.000 Arbeiter reisten nach Uster, unter ihnen eine 100-köpfige Delegation der damals noch im Streik stehenden Rorschacher Feldmühlearbeiter. Der Kampf wurde zu einem weiteren Sieg.
Der Unternehmer der Kunstseidenfabrik Steckborn wollte die: Belegschaft seines Betriebes mit deutschen Grenzgängern unterlaufen. Die Arbeiter waren keineswegs grundsätzlich gegen Grenzgänger eingestellt, sondern nur dagegen, dass ihre Arbeitsverhältnisse mittels diesen verschlechtert wurden. Deshalb verlangten sie vor der Einstellung neuer Grenzgänger den Abschluss eines Kollektivvertrages, der ihre Position absichern sollte. Als der Unternehmer die Grenzgänger im Mai 47 trotzdem einstellte, trat zuerst (wie bei der Feldmühle) die Spinnereiabteilung in den Streik. Später folgten auch andere Abteilungen der 400-köpfigen Belegschaft.
Die Streikenden forderten einen der Feldmühle entsprechenden Kollektivvertrag, allerdings mit höheren Lohnansätzen. Nach 6 Wochen setzten sie ihre Forderungen trotz der Sabotagearbeit kleinerer Gewerkschaftsverbände durch.
Im Windschatten der Textilarbeiterkämpfe hatte es der SMUV leicht eine 80-köpfige Belegschaft der Farner-Werke in Grenchen mit einem kurzen Streik unter das Friedensabkommen zu bringen. Schwieriger hatten es da noch die 80 Arbeiter einer Baumwolldruckerei in Ennenda (GL), die neben dem Abschluss eines Kollektivvertrages auch die Wiedereinstellung dreier aktiver Gewerkschafter forderten.
Da mussten vorerst alle Färberei- und Stoffdruckereiarbeiter des Kantons Glarus mit einem Solidaritäts- und Proteststreik drohen, bis dieser Unternehmer nachgab. Doch unterdessen begannen sich die Unternehmer vermehrt auf ihre Mittel zu besinnen. Bei der oben erwähnten Viscose in Emmenbrücke z.B. wurden ebenfalls drei Gewerkschafter entlassen, dagegen kam aber kein Streik mehr zustande. Vermehrt wurden unterdessen auch italienische Fremdarbeiter in die Betriebe geholt, die direkt als Lohndrücker und Streikbrecher eingesetzt werden sollten.
Offensichtlich ermutigt durch die Vermassung des kollektiven Arbeiterwiderstandes, unterstützten im Oktober 46 rund 6o Jugendliche den Streik von 34 Packern und Lageristen bei Oscar Weber in Zürich. Sie stürmten das Warenhaus und belästigten die Kunden beim Einkaufen womit sie den Direktor herausforderten. Die ausfahrenden Lieferwagen fanden vorerst mal Nägel auf der Strasse und gleich darauf eingeschlagene Scheiben.
Im Genfer Elna-Produktionsbetrieb Tavaro streikten am 13. November 1350 Arbeiter vorerst einen ganzen Tag mit einem Sitzstreik und nachher weitere 2 Tage, um eine Forderungsbewegung, die durch die ganze Genfer Metallindustrie gegangen war zu unterstützen. Der Streik bei Tavaro war von einem PdA-Genossen organisiert worden. Dieser Streik mit seiner bis zu 90% gewerkschaftlich organisierten Belegschaft und die Ganze Bewegung der Genfer Metallindustrie erbrachte Löhne, die an der Spitze der Schweizerischen Metallindustrie standen.
Wenn wir um dies Kampfbewegung der Arbeiter wissen, so wundert es uns nicht mehr, dass der National- und Ständerat Spätsommer seine Zustimmung zum neuen AHV-Artikel in der Bundesverfassung gab. Der Artikel wurde allerdings schon gegen Kriegsende vorbereitet, wohlwissend, dass das Ende des Krieges die Klassenkonflikte verstärken würde und rein. repressive Manöver nicht ausreichen würden, um diese Konflikte in einem erträglichen Rahmen zu halten.
Die Unternehmer gaben deshalb dem Drängen nach Reformen nach einigem Zögern nach, um jene Kreise des Reformismus zu stützen die die AHV als „grösstes Sozialwerk seit Jahrzehnten“ bezeichneten und auch brutal bereit waren Streiks zu unterdrücken, damit ihre Abstimmungsziele nicht zu Fall kamen.
Wir sehen hier einen Mechanismus in Gang kommen, der schliesslich die Niederlage der Arbeiter bedeuten sollte. Die Unternehmer schlossen sich vorerst mit der sozialdemokratischen Tendenz in der Arbeiterbewegung zusammen, um die Spaltung der organisierten Arbeiterbewegung zu vertiefen und die Ausschaltung der radikalen Kommunisten aus den Gewerkschaftsverbänden zu erleichtern. Dieser Mechanismus basiert in letzter Konsequenz auf der Abstützung der kapitalistischen Entwicklung in der Schweiz auf die Metall-und Maschinenindustrie, auf den professionellen Arbeiter dieser Branche und seine in repräsentierende Gewerkschaftsbewegung: den SMUV und sein Friedensabkommen.
Auf dieser Grundlage gelang es letztlich die Kämpfe in Branchen wie der Textil- und der Chemieindustrie, im Baugewerbe und Regionen wie Genf zu isolieren und ihre Ausweitung auf andere Industriezweige zu verhindern. Allerdings funktionierte dieser Typ von Reformismus auch nicht ohne materielle Zugeständnisse: auch die Arbeiter der anderen Produktionszweige erhielten 1946 ihre Lohnangleichung und vielfach mehr als das. Die Unternehmer reagierten darauf vorerst einmal damit, die Preise in die Höhe zu jagen, um wenigstens auf diesem Wege einen Teil der zugestandenen Löhne zurückzuerobern.
1947 wurde das Jahr, in dem auch der Bundesrat einen Lohnstopp zu unterstützen begann, z.B. indem er die Allgemeinverbindlichkeit gewisser Verträge ablehnte oder indem er systematisch alle Einschränkungen der Preisbildung aufhob und den Unternehmern in der Preispolitik freie Hand liess. So hatten die Arbeiter mit ihren Lohn- und Arbeitszeitforderungen in diesem Jahr nicht mehr nur die mächtigen Unternehmerverbände gegen sich, sondern auch den Staat. Der freisinnige Bundesrat Stampfli wurde zur Verkörperung des staatlichen Lohnstopps.
An einer Bauarbeiterdemonstration trugen die Arbeiter ein Transparent mit der Parole:“Unsere Antwort an Stampfli: Arbeitszeitverkürzungen mit Lohnerhöhungen!“ Doch diese Parole in die Tat umzusetzen, wurde schwieriger. Den Arbeitern zahlte sich jetzt heim, dass sie sich mit den Verträgen an die Friedenspflicht gebunden hatten und ihre Gewerkschaften weitgehend staatliche Struktur geworden waren.
SCHINDLER: der Zeit voraus
Ziemlich genau ein Jahr stand in der PdA-Hochburg in Pratteln eine neue Waggonfabrik des Schindler-Konzerns mit rund 47 Arbeitskräften, als die gesamte Belegschaft im Januar 47 in den Streik trat, um mit Erfolg die Wiedereinstellung von drei entlassenen Mitgliedern der Arbeiterkommission zu fordern. Die hundert italienischen Arbeiter streikten solidarisch mit. Die drei PdA-Genossen der Arbeiterkommission waren entlassen worden, weil sie ohne die Zustimmung der Geschäftsleitung eine Betriebsversammlung auf dem Fabrikareal organisiert hatten. „Nicht uninteressant, dass Nationalrat Ryser, Sekretär des SMUV, den Standpunkt der Direktion vertrat.“ (Vorwärts Nr. 16, 17. Januar 1947)
Die Waggonfabrik wurde von den Unternehmern als modernste Fabrik ihrer Art gefeiert, da sie gleich zu Beginn auf dem Fliessproduktionsprinzip aufgebaut war, allerdings mit einem Kern von Facharbeitern. So finden wir wieder eine ähnliche Konstellation wie in vielen Betrieben der Textilindustrie, wo sich die Kombination von PdA-Facharbeitern und Massenarbeitern als zumindest kämpferisch, wenn nicht explosiv erwies.
Bereits ein Jahr später sollte dieses Potential nochmals durchbrechen und zwar mit einer Reihe von „ungewöhnlichen und unhaltbaren Forderungen“ (NZZ). Im Februar 1948 hatten die 120 Italiener nämlich die Arbeit niedergelegt und verlangten, dass eine bislang fakultativ ausbezahlte und zur Spaltung der Arbeiter gebrauchte Reiseentschädigung obligatorisch ausbezahlt werde und dass ein Akkordzuschlag von mindestens 40% zugesichert werden sollte, was den Antreibermechanismus des Akkords weitgehend ausser Kraft gesetzt hätte. Ausserdem gingen sie heftig gegen eine Bussenordnung vor, mit der Zuspätkommen und Fernbleiben bestraft wurde.
Die Italiener kümmerten sich keine Sekunde um die Gewerkschaft und suchten keine Verhandlungen. Die Schweizer streikten vorerst für dreieinhalb Stunden mit aber nachher blieben die Fremdarbeiter für zehn Tage allein und verloren durch Entlassung auch noch ihren Führer Carriera und den Präsidenten der Arbeiterkommission (ein PdA-Genosse), der ihren Kampf aktiv unterstützt hatte. Hier zeigten sich noch grosse Grenzen dieser völlig antiinstitutionellen Kampfweise und der völlig gegen die Produktionslogik und kapitalistische Fabrikdisziplin gerichteten Forderungen.
Es half dem Kampf auch nicht zum Sieg, dass der Kommunistische Gemeindepräsident von Pratteln eine Interpellation einbrachte, mit der er verhindern wollte, dass die Schindler während des Streiks neue Einreisebewilligungen für ausländische Arbeiter erhielten.
Das kantonale Einigungsamt veranlasste die Schindler einzig, die Akkordlöhne zu überprüfen, wies aber alle Forderungen der Streikenden zurück und brachte die Fremdarbeiter schliesslich auch mit einem zehntägigen Lohnausfall in die Fabrik zurück. Es ist nicht zu bezweifeln, dass dieser Streik auf die Unternehmer mindestens ebenso grossen Eindruck gemacht hat wie zwei Jahre früher die extrem hohe Aufsplitterung der Arbeitsoperationen und die hohe Produktivität des neuen Schindler-Betriebes.
Der Zusammenhang zwischen der Einführung eines neuen Arbeitertyps und den „ungewöhnlichen Forderungen“ ist ihnen sicher nicht entgangen und sie begannen auch gleich ganz allgemein über die Fremdarbeiter zu jammern, die viel zu faul seien. So etwa die Zeitung Tat: „Wenn man auf gewissen Bauplätzen etwa Italiener hörte, die Schweizer verrichteten ja ‚Sklavenarbeit‘ und seien dümmer als sie angesichts des Reichtums und der Unternehmer sein müssten …“ (Tat Nr. 56, 26. Februar 48)
Doch kehren wir vorerst zu den Kämpfen im Jahre 1947 zurück, um besser zu verstehen, wie die Unternehmer ihre Gegenstrategie bezüglich den Arbeiterkämpfen ausbauen konnten.
Bauarbeiter: der Kampf geht weiter
1947 waren es wiederum vor allem die Maurer und Bauhandlanger, die die Szene des Klassenkampfes mit ihrer Forderung nach Verkürzung der Wochenarbeitszeit um zwei bis drei Stunden beherrschten. Daneben kämpften auch einzelne Berufsgruppen auf den Bauplätzen zum Teil sehr hart. Aber in den anderen Industriezweigen war nach aussen hin Ruhe eingekehrt. Allerdings wissen wir z.B., dass der Betriebswechsel in der Metall- und Maschinenindustrie in den Jahren 1946/47 einen Höhepunkt erreichte, der nur noch mit 1924 verglichen werden kann und bis heute nie mehr erreicht wurde.
Dieses Beispiel mag daran erinnern, dass die Arbeiter gerade in Zeiten eines Arbeitskräftemangels und Entwicklungsbooms wie 1947 auch andere Waffen als den Streik benützen, um ihre Interessen durchzusetzen.
Der SBHV hatte seinen Rahmenvertrag auf den 14. Mai gekündigt und organisierte schon im April in der ganzen Schweiz grosse Demonstrationen für die aufgestellten Forderungen. Mitte Mai bekam diese Gewerkschaft dann ernsthafte Schwierigkeiten spontane Streiks zu verhindern, die z.T. auch von einzelnen Sektionen unterstützt wurden. In Lausanne z.B. streikten 2.000 Bauarbeiter spontan, ebenso in Bern. Nach einer vorzeitigen Arbeitsniederlegung in Zürich hatten die sozialdemokratischen Leiter einer Monsterversammlung die grösste Mühe einen Streik zu verhindern.
Überall argumentierten die Gewerkschaftsführer damit, man müsse sich mässigen, damit die AHV auch in der Volksabstimmung angenommen werde. Und mit diesem Hauptargument brachten sie auch an einer Landeskonferenz einen sehr schlechten Kompromissvorschlag des Bundesrates mit 90 gegen 67 Stimmen durch.
Das ganze antiproletarische Gewicht dieses grössten sozialen Reformwerks der Schweizer Nachkriegsgeschichte zeigte sich hier in seiner nackten Brutalität, als es dazu diente, eine von allen Arbeitern mit grösstem Interesse verfolgte Bewegung von einzigartiger Geschlossenheit zu ersticken. Das war der Preis, den das Kapital für die Einführung der Altersrente verlangte und den es durchsetzen konnte, indem es die Kämpfe auf die Ebene der Institutionen verlagerte.
Offenbar gab es viele Gewerkschafter, die im Anschluss an diesen kläglichen Ausgang der Vertragsverhandlungen ihre Mitgliedsbüchlein fortschmissen, denn die PdA gab sich alle Mühe solches Tun als falsch und schädlich hinzustellen. Ob sie es mit Erfolg gemacht hat, wissen wir leider nicht. Die Wut der Arbeiter war auf alle Fälle berechtigt und da nützten die längsten Rechtfertigungsartikel in der SBHV-Zeitung wenig.
Die Arbeiterfront gegen die Lohnstopperklärung des Bundesrates war zwar noch nicht völlig zusammengebrochen, doch schwer angeschlagen und die Arbeiterniederlagen begannen sich zu häufen. Aber es war auch „das erste Mal in der Schweizer Geschichte, dass der Bundesrat während der Parlamentssession seinen Präsidenten und zwei seiner Mitglieder abordnete um eine Lohnstreitigkeit zu beseitigen“. (SBHV-Zeitung Nr. 25, 19. Juni 47)
Einen brauchbaren Überblick vom Unternehmerstandpunkt aus über die Bauarbeiterkämpfe dieser Monate gibt die NZZ: „Der grosse Arbeitskonflikt im Baugewerbe hat mit seinen Aufmärschen während der Arbeitszeit und namentlich mit der sogenannten „grève perlée“, die an manchen Orten, besonders in Genf, als bewusste Zurückhaltung der Arbeitsleistung propagiert wurde, hemmend auf den Wohnungsbau gewirkt. Im Schatten dieser grossen Auseinandersetzung, bei welcher ein Stillstand der Bautätigkeit vermieden werden konnte, sind zahlreiche Streiks von kleineren Berufsgruppen vorgekommen, die z.T. äusserst hartnäckig waren und sich in den betroffenen Regionen sehr ungünstig auf die Bauvollendung auswirkten.
Die im April ausgebrochenen Streiks der Plattenleger und Gipser in Basel dauern bis zur Stunde noch an und haben bis heute einen Ausfall von mindestens 400 fertigen Wohnungen verschuldet. Über die Ausartungen dieser Konflikte wurde in der Schweizer Presse bewegliche Klage geführt. Als weiterer gegenwärtig laufender Streik im Bauwesen ist die am 11. Juli erfolgte Arbeitsniederlegung von rund 400 Zentralheizungsmonteuren in Genf zu melden. Der Grund besteht in Meinungsverschiedenheiten über Anwendung des Gesamtarbeitsvertrages.
Neben den genannten Bewegungen haben aber noch andere dazu beigetragen, dass der Rückstand im Wohnungsbau gegenüber dem Vorjahr nur teilweise und nur unter grossen Schwierigkeiten aufgeholt werden konnte. Im Interesse einer richtigen Beurteilung der Lage scheint es geboten, diese offenen Konflikte kurz Revue passieren zu lassen. Den Anfang machte dieses Jahr ein Streik der Plattenleger in` Basel, der vom 2. bis zum 20. Januar dauerte.
Eine starke Störung bildete der Malerstreik in Locarno und Lugano, die sich von Anfangs April bis gegen den Sommer hinzog. Es streikten ferner die Steinholzleger in Zürich vom 8. bis zum 14. April, die Gipser und Maler in Biel und Umgebung vom 8. bis zum 21. April, die gleichen Gruppen in Bern vor 14. April bis zum 22. Mai und die Maler im Kanton Luzern vom 16. April bis zum 2. Mai. Diese Konflikte bedeuteten eine wesentliche Erschwerung der Bautätigkeit“. (NZZ Nr. 1440, 24. Juli 47)
Noch bevor die Unternehmer mit den Gewerkschaften Ende 1948 das Ende dieser Kämpfe mit dem sogenannten „Stabilisierungsabkommen“ zu besiegeln begannen, versuchten im Mai des gleichen Jahres Genfer Bauarbeiter noch einmal auf eigene Faust die Arbeitszeit zu verkürzen. Sie erklärten die Fünftagewoche für verwirklicht, indem sie einfach am Samstag nicht mehr zur Arbeit erschienen und mit Streikposten dafür sorgten, dass der Arbeiterwille auch eingehalten wurde.
Mit dieser Aktion hatten die Steinhauer begonnen, ihnen waren die Gipser und die Baumaler gefolgt. Sofort schaltete sich der Arbeitgeberverband ein, damit kein Präzedenzfall geschaffen werde, der es anschliessend ermöglicht hätte, die 40-Stundenwoche einzuführen. Vorerst verhinderte die Polizei am 4. Streiksamstag, dass die „fliegenden Kolonnen“ der Bauarbeiter die Bauplätze von Arbeitswilligen befreien konnten. Schliesslich drohten die Unternehmer, dass alle, die am Samstag nicht zur Arbeit erschienen am darauffolgenden Montag auf die Strasse geschmissen würden.
Sie verwirklichten diese Drohung auch und entliessen etwa 200 von 1 000 Gipsern und Malern, etwa 50 von 3 000 Maurern und rund 80 Steinhauer. Gleichzeitig brachte der Regierungsrat ein Gesetz zur Anwendung, das die Behinderung von Arbeitswilligen strafbar machte und allen, die nicht arbeiteten, die Anwesenheit auf den Bauplätzen verbot.
Gegen solche Repressionsmassnahmen blieb der Streik einzelner Berufsgruppen erfolglos und auch die Steinhauer mussten sich nach mehr als zwei Monaten Ausstand mit der gleichen Wochenarbeitszeit, allerdings auf fünf Tage verteilt, zufriedengeben.
Die 1 000 Schreiner und Zimmerleute, die gleichzeitig streikten, wurden nach 4 Wochen durch die christlichen Gewerkschaften gespalten und mussten sich schliesslich mit lächerlichen 7 Rappen mehr Stundenlohn zufriedengeben. Bei der Arbeitszeit blieben die Unternehmer hart.
Repression bis zur Krise
1948 waren die Arbeiterkämpfe sehr schwierig geworden und nur spezielle Situationen wie z.B. die Persilwerke in Pratteln (!) oder die der Lausanner und anschliessend der gesamten Waadtländer Elektromonteure, die einmal kurz vor der Eröffnung des Comptoirs in Ausstand traten, oder der Kampf der Kranführer auf den Zürcher Bauplätzen, die durch ihre kollektive Kündigung gleich die ganze Bautätigkeit in Frage stellten, führten in kurzer Zeit zum Erfolg.
Die 200 Arbeiter der Dottikoner Sprengstofffabrik dagegen kämpften dreieinhalb Monate ohne Erfolg. Nach dieser Zeit hatte der Unternehmer nämlich seinen Betrieb schon wieder mit 126 Streikbrechern aufgefüllt, die offenbar bereit waren die stark, gesundheitsschädliche Arbeit zu lächerlichen Löhnen zu machen. So konnte der Unternehmer schliesslich 85 Streikende entlassen, den Rest ausbeuten wie zuvor und der SBHV musste eine seiner härtesten Niederlagen dieser Zeit verbuchen. Nicht einmal mehr eine Solidaritätsdemonstration von 8 000 Arbeitern in Aarau half, den Unternehmer in die Defensive zu drängen.
Der Kampf gegen Entlassungen und Versetzungen in der Lederwarenfabrik in Schaffhausen war erfolgreich, weil der Unternehmer auch von seinen eigenen Ausbeuterkollegen nicht geschützt würde. Ein Streik von 360 Arbeitern in den Genfer Simar-Werken im September 48 gegen einen Akkordbrecher und gegen Entlassungen misslang jedoch nachdem die Regierung interveniert hatte. Die beiden entlassenen Genossen, die zum Ausstand aufgerufen hatten, wurden nicht mehr eingestellt.
Auf der Basis dieser Arbeiterniederlagen setzte sich die sozialdemokratische Tendenz in den Gewerkschaften immer mehr durch und sogar im ehemals kämpferischen STFV gelang es einen Beschluss durchzusetzen, der Mitgliedern der PdA verbot Funktionärsposten einzunehmen. Auf dieser Verschiebung des Kräfteverhältnisses schlossen Unternehmer und SGB Ende 1948 das bereits erwähnte „Stabilitätsabkommen“ ab, das einer gemeinsamen Kommission erlaubte, die Löhne auf dem erreichten Stand einzufrieren.
Dieses Abkommen wurde vorerst für 12 Monate unterzeichnet und hat die Löhne auch effektiv weiter eingeschränkt. Doch nach einer Verlängerung um einen Monat weigerten sich die Unternehmer sich dem Abkommen, dem sie einmal so dankbar zugestimmt hatten weiterhin zu unterstellen. Denn spätestens seit Ende Januar 1949, zum Zeitpunkt also, als das Abkommen nicht mehr erneuert wurde, hatte ein Grossteil der Unternehmer erkannt, dass das Stabilitätsabkommen zwar nicht ganz unnütz gewesen war, aber die Arbeiterklasse keineswegs so unter das Joch zurückgebracht hatte wie das für die Wiederaufnahme eines Entwicklungsbooms nötig gewesen wäre.
Nach den Arbeiterniederlagen in einzelnen Betrieben wollten die Unternehmer die erreichte Vereinheitlichung der Klasse endgültig brechen, indem sie zu Massenentlassungen griffen, um die erreichte Akkumulation von Kampferfahrungen auf Arbeiterseite auf diesem Wege zu zerschlagen.
So setzte sich der Stopp des unmittelbar mit Kriegsende begonnenen Entwicklungsbooms, der die Zahl der Fabrikarbeiter innert vier Jahren um rund 100.000 erhöht hatte, 1949 voll durch. Innert weniger Monate wurde der brutale Angriff auf die Beschäftigung, wurde die Erpressung mit Entlassung und Arbeitslosigkeit wirksame Tatsache. Kaum hatte sich die Arbeiterklasse für den Angriff zu vereinheitlichen begonnen, wurde sie durch die Unternehmer gespalten in Beschäftigte und Arbeitslose.
Die Arbeiter hatten nicht mehr die Kraft sich gegen diesen Angriff zu wehren. Innert sehr kurzer Zeit wurden mindestens ein Zehntel der 530 000 Industrie- und Bauarbeiter auf die Strasse gesetzt. Dass keine grössere Arbeitslosigkeit entstand (1949: 8 000, 1950: 10 000) war allein dem Umstand zuzuschreiben, dass rund 30 000 Fremdarbeiter, die kurz vorher gezielt gegen die einheimischen Industriearbeiter eingesetzt worden waren, das Land kurzerhand verlassen mussten. Doch die Entlassungen verfehlten ihren Zweck nicht: die Reallöhne wurden sehr schnell gestoppt und schon 1951 gingen sie seit Kriegsende zum ersten Mal wieder zurück.
Der Widerstand der Arbeiter gegen die Produktionsdisziplin ging zweifellos zurück, ganz verschwunden ist er jedoch nicht. So wissen wir z.B. von den Textilarbeitern, dass sie ihre Aufsässigkeit durchaus weiter zu betreiben wussten. Offene Arbeiterkämpfe verschwanden jedoch fast völlig und die Unternehmer konnten relativ unbehelligt eine ganze Welle von Rationalisierungsmassnahmen durchführen. Leider wissen wir gerade darüber sehr wenig.
Die Tessiner Schreiner zum Beispiel mussten 1949 einen langen und harten Kampf führen, bis sie nur 5 Rappen mehr Stundenlohn erhielten. Ohne gewaltsames Vorgehen gegen Streikbrecher wären sie kaum zum Ziel gelangt. Der kurze aber siegreiche Streik der 48 Arbeiterinnen (z.T. Fremdarbeiterinnen) und Arbeiter bei der Baumwoll- und Leinenweberei Graf in Illnau gehörte ebenfalls eher zu den Ausnahmen.
Nach 115 Tagen Streik siegten die 100 Arbeiter der Zündholzfabrik in Nyon, das heisst die Kündigungen wurden zurückgenommen und die Lohnerhöhung in Form einer Prämie ausbezahlt. Solche Kämpfe finden wir nur noch in vereinzelten Fabriken, in diesem Fall wurden die Streikenden ausserdem unterstützt durch eine kommunistische Gemeindeverwaltung.
In Zürich mussten sich die Kaminfeger nach einem Streik im Dezember 49 und Januar 5o mit einer bedeutend geringeren Lohnerhöhung zufriedengeben, dies obwohl sie durch eine Demonstration von 4 000 Arbeitern unterstützt worden waren.
Und einmal mehr reihte sich die Unternehmerpolitik in das Verhalten der Unternehmer in anderen Zentren der Kapitalakkumulation ein; in den USA und in Europa wurde die Krisenpolitik gegen die Arbeiter fast gleichzeitig betrieben.
Mehrfrontenkrieg in den 50er Jahren: Das neue Gesicht der Klasse
Auf der Basis dieser brutalen Arbeiterniederlage begannen die Kapitalisten sofort die ganze Struktur der Arbeiterklasse zu verändern: wo früher einmal Schweizer Arbeiter miteinander Kampferfahrungen gemacht hatten, sollten Emigranten zu stehen kommen und die Resignation auf diese Weise besiegelt werden. Allein von 1950 bis 1951 stieg die Zahl der kontrollpflichtigen Fremdarbeiter (ohne Niedergelassene) von 75 000 auf 137 000 und bis 1956 stieg die Zahl derselben Fremdarbeiterkategorie (Jahresaufenthalter, Saisonniers, Grenzgänger) bis auf rund 270 000 im Jahresmittel.
Diese Fremdarbeiter kamen vor allem aus den norditalienischen Regionen und in dieser Zeit verteilten sie sich etwa gleichmässig auf die verschiedenen Qualifikationsstufen (Gelernte, An- und Ungelernte). Ihre Verteilung auf die verschiedenen Industriebranchen war jedoch nicht gleichmässig; vor allem in die stagnierenden Branchen wie der Textil-, Bekleidungs-, Leder-, Holz- und mittleren Chemieindustrie, aber vor allem auch auf den Bauplätzen verdrängten sie bald viele Schweizer. In der Textilindustrie z.B. nahm der Anteil der Schweizer Arbeiter zwischen 1950 und 1960 um 45% ab, während derjenige der Arbeitsemigranten um 32% stieg.
Der Abgang der Schweizer war in diesen Branchen also grösser als der Zufluss von Emigranten. Für die Schweizer Arbeiter waren die ausländischen Arbeitskräfte eine günstige Gelegenheit in besser bezahlte Posten oder Branchen zu wechseln und sich die Löhne auf diesem Weg zu verbessern.
Im Gegensatz dazu war die soziale Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse in der Metall- und Maschinenindustrie in den 50er-Jahren eher gleichgerichtet. Die Arbeitsemigranten nahmen bis 1960 zwar um 65% zu, die Schweizer jedoch um 69%. Die Metall- und Maschinenindustrie war eine eigentlich expandierende Industrie und wir haben schon früher darauf hingewiesen, dass die Schweizer Patrons in ihrem Ausbeutungsmodell die Metall- und Maschinenindustrie bevorzugt haben, weil sie über den Berufsarbeiter dieser Branche ihre soziale Stabilität am besten gewährt meinten. Der Anteil der MM-Industrie an der Gesamtbeschäftigung stieg in dieser Zeit denn auch um 3% auf 15,5%.
Mit dieser Politik der sozialen Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse, die das Gesicht des Industriearbeiters in der Schweiz völlig veränderte und der vorhergehenden Krisenpolitik ist es den Unternehmern 1951 sogar gelungen, eine Reallohnkürzung durchzusetzen, die einzelne Arbeiterschichten sehr hart getroffen hat.
Es wäre jedoch falsch, von dieser Phase des Arbeiterkampfs als der Zeit der „totalen sozialen Friedhofsruhe“ zu sprechen. Es war vielmehr so, dass die Arbeiter in diesen Jahren ein neues Verhalten und neue Kampfinitiativen weiterzuentwickeln versuchten, wie wir es schon von früher kennen. Wir sahen das Beispiel der Schindler-Arbeiter in Pratteln, die einen radikalen Neuansatz des Arbeiterangriffs erprobten. Wir werden weitere Beispiele kennenlernen die zwar nicht sofort verallgemeinert werden konnten, jedoch ungemein wichtige Schritte im Lernprozess der Arbeiter ausmachten – allerdings auch für die Unternehmer.
Wir haben auch davon gesprochen, dass die Schweizer Arbeiter die Emigranten ausgenützt haben, um besser bezahlte Posten zu bekommen. Es gibt weitere Momente der Arbeitergeschichte in dieser Zeit, die wir ansatzweise zu rekonstruieren versuchen und deren Kenntnis uns für die Entfaltung der Kämpfe im jüngsten, grossartigen Kampfzyklus des multinationalen Arbeiters in den Zentren der Arbeiterausbeutung und Kapitalakkumulation wichtig erscheinen. Wichtig nicht im Sinne eines Geschichtsfetischismus aber zur Verarbeitung einiger Erfahrungen in den Klassenkämpfen, um auf alte Fragen neue Antworten zu finden.
In den Jahren nach 1950 war die Arbeiterklasse also sehr geschwächt. Überall in Europa holten die Arbeiter verhältnismässig höhere Lohnerhöhungen heraus. Zwischen 1950 und 1957 mussten sich die Arbeiter in der. Schweiz mit einer Reallohnerhöhung von 12% zufriedengeben, wobei sie im Vergleich mit anderen Ländern allerdings eine bedeutend höhere Ausgangsbasis hatten, so dass sie trotzdem beträchtlich war. Allerdings weiteten die Kapitalisten in dieser Zeit ihre Produktion gewaltig aus, so dass diese Lohnerhöhung für sie lange Zeit erträglich war.
In diesen Jahren öffnete sich die sogenannte „Lohnschere“ zwischen den einzelnen Industriezweigen. Wir haben gesehen, dass die Kapitalisten in den stagnierenden Branchen verhältnismässig viel mehr Emigranten beschäftigten. In diesen Branchen entstand zunächst eine grosse Konkurrenz zwischen Einheimischen und Ausländern, die es den Unternehmern ermöglichte, die Löhne gesamthaft zu kontrollieren.
Viele Schweizer verliessen jedoch diese schlechter bezahlten Branchen und Regionen, um in den besser bezahlten (in erster Linie Metall- und Maschinenindustrie sowie Chemieindustrie) ihr Geld zu verdienen. In diesen Wachstumsbranchen funktionierte die Konkurrenz zwischen Schweizern und Fremdarbeitern vorerst nicht so stark, weil die Emigranten vielfach die schlechten Jobs in der Fabrik übernehmen mussten und die Lohnunterschiede besser im Arbeitsprozess begründet werden konnten.
Dies ist etwa der Gesamtrahmen, in dem verschiedene Arbeiterschichten versuchten ihre Bedürfnisse gegen die Unternehmer durchzusetzen.
NOVA: bis hier her und nicht weiter
Am Streik der 360 NOVA-Arbeiter in Zürich im April 1952 lernen wir deutlich das damalige Klima in den Fabriken kennen: die Arbeiter waren bereit, sich ausbeuten zu lassen, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Es gab ein klares „bis hierher und nicht weiter“, das auch von den Unternehmern zumeist eingehalten wurde. In der NOVA war das Arbeitstempo nicht gerade langsam. Unter den Arbeitern aber herrschte ein stilles Abkommen, sodass keiner über ein gewisses Tempo hinaus arbeitete. Damit konnten die zum grossen Teil qualifizierten Arbeiter das Hinuntersetzen der Akkordsätze verhindern.
Nur zwei deutsche Fremdarbeiter wollten sich nicht an diese Abmachung halten. Ständig arbeiteten sie über der von den Arbeitern festgelegten Solidaritätsnorm. Als sie sich nach kleineren Auseinandersetzungen nicht dem allgemeinen Arbeiterverhalten anpassten, und der eine Deutsche sogar eine zweite Maschine zu bedienen anfing und die anderen Arbeiter als „faule Kuhschweizer“ titulierte, platzte denen der Kragen. Sie verlangten von der Direktion ultimativ die sofortige Entlassung der beiden Akkordbrecher. Diese lehnte ab. Da fackelten die Arbeiter nicht mehr lange: einmütig und spontan traten sie in den Sitzstreik. Das heisst, sie blieben bei ihren Maschinen, rührten aber keinen Finger, obwohl die Direktion allen die Entlassung androhte.
Der SMUV, in dem fast ein Fünftel der Belegschaft organisiert war, stellte sich gegen den Streik und verweigerte die Streikunterstützung. Seine Aktivitäten beschränkten sich auf eine Intervention bei der Fremdenpolizei, um die Ausweisung der beiden Deutschen zu erreichen. Die Polizei kam diesem Ansinnen auch mit der Begründung nach, dass die beiden Ausländer eine „akute Gefahr für den Arbeitsfrieden“ geworden seien. Nach fünf Tagen Streik hatte die NOVA-Belegschaft vollen Erfolg und die Streiktage wurden ausbezahlt.
Dieser zweifellos höchste Punkt des damaligen Arbeiterkampfs gegen die Intensivierung der Arbeit gab den Unternehmern Anlass, das Problem des täglichen Kleinkriegs in den Fabriken zu diskutieren. In der „TAT“ wurde das Ergebnis einer Umfrage so zusammengefasst: „Es herrscht Krieg, nach wie vor Krieg in den Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
Es ist ein komischer Krieg; die Führenden sitzen an den Pulten und Telefonen und machen einander höflich und in gemütlichem Tonfall auf die eigene Macht aufmerksam. An die Öffentlichkeit gelangen schliesslich Kompromisse und Abkommen. Dennoch ist es ein Krieg; denn das was zählt, ist letzten Endes nur die Macht des Stärkeren.“ (TAT Nr.124, 8.Mai 1952)
Natürlich hatte die TAT nicht recht, wenn sie glaubte, dieser Krieg würde nur -von den Gewerkschaftsfunktionären geführt. Die Arbeiterautonomie gegen die völlige Unterordnung der Arbeitskraft unter das Maschinensystem wurde vielmehr weitgehend ausserhalb der gewerkschaftlichen Strukturen bestimmt. Zumeist nur zwischen Arbeitern und Meistern. Heute gilt das noch. viel mehr. Natürlich gab es damals Arbeitergruppen, z. B. die rund 250 Zürcher Plattenleger, die ihre Arbeitsnormen direkt gewerkschaftlich organisiert hatten. Aber das waren Ausnahmen.
Dagegen nahmen Auseinandersetzungen auf einer Basis immer grössere Bedeutung an, die der damalige Chef des Zürcher Gewerkschaftskartells, Otto Schütz, so beschrieb: „Die Rationalisierung und Arbeitsteilung haben dieses Tempo zum Teil zu heben gestattet. Das Arbeitsprodukt ist dabei mengenmässig gestiegen, aber die Arbeit ist auch gleichmässiger, oft monotoner geworden.“ (ebenda) Oder der Arbeitsarzt des BIGA: „Andererseits darf nicht übersehen werden, dass Arbeitsteilung und Rationalisierung dazu geführt haben, dass die Fabrikarbeit oft unbefriedigend und kaum ein realer Lebensinhalt, ist“. (ebenda)
Gerade die Mehrstellenarbeit, gegen die die NOVA-Arbeiter vorerst erfolg-reich Widerstand geleistet hatten, wurde damals in vielen Industriebranchen, vor allem in der Textilindustrie, technisch möglich. Und nicht überall konnten die Arbeiter ihre stillen Abkommen erfolgreich verteidigen. Schwierig wurde es vielfach dann, wenn die Unternehmer nicht nur zwei Fremdarbeiter gegen sie einsetzten, wie im Beispiel der NOVA, sondern gleich ganze Kontingente einführten, um die Reorganisation der Arbeit durchzusetzen.
Dieser Unternehmergebrauch der Emigration zur Reorganisation der Arbeit ist ein ebenso wichtiger Aspekt wie die Lohndrückerei oder Streikbrecherei. Erst er erklärt die eigentliche Grundlage des Fremdenhasses, der 10 Jahre später von einer parafaschistischen Bewegung in eine systematisch organisierte und propagierte Klassenspaltung umgesetzt werden konnte, aber ebenso den Fremdenhass der meisten Gewerkschaften. Diese Gewerkschaften verteidigten letztendlich nur die alte Art zu arbeiten, die durch den massenhaften Import von Emigranten bedroht wurde. Gleichzeitig waren sie jedoch nicht gegen eine Steigerung der Produktivität eingestellt. An diesem Widerspruch gingen sie 10 Jahre später dann auch in eine ernsthafte Krise.
Fabrikkämpfe
Im September 1950 setzten die Arbeiter der Papierfabrik Coba in Balsthal mit dem STFV nach einem 24stündigen Streik erfolgreich einen neuen Vertragsabschluss durch. Im gleichen Monat versagte jedoch die Organisation von 2.000 Verkaufsangestellten des Textilhandels in Lausanne völlig vor den Aufgaben einer geschlossenen Streikdurchführung.
Aus dem Jahre 1951 kennen wir nur zwei erfolgreiche Aktionen des STFV in kleineren Textilfabriken, Aktionen, die der STFV auch nach der antikommunistischen Säuberung seiner Leitungsinstanzen immer zu organisieren bereit war, und einen Streik in einer Genfer Uhrenfabrik.
Der 12tägige Streik der 175 Tarex-Arbeiter in Genf im Oktober/November 1952 gegen die Entlassung des Präsidenten der Arbeiterkommission wurde zu einer Arbeiterniederlage. Der Streik wurde von der Arbeitskommission gestoppt und die Gewerkschaft in einem bundesgerichtlichen Entscheid bestraft, weil sich nicht alles versucht hätte, um den Streik zu verhindern. „Die elementaren Pflichten einer Gewerkschaft bei Ausbruch eines Streiks“ sind nach Bundesgericht: „Die Gewerkschaft (muss) ihr Möglichstes tun, um den Streik zu verhindern, oder – wenn sie darin keinen Erfolg hat – ihn abzukürzen.“ Vom November 1952 an führten 70 Weber und Spinnerinnen der Wolldeckenfabrik Schwendener in Sils-Albula eine verzweifelte Auseinandersetzung um die Wiedereinstellung von drei aktiven STFV-Gewerkschaftlern.
Die gleiche Belegschaft war 1946 in einen Solidaritätsstreik für die Arbeiter einer Tuchfabrik im nahen Cazis getreten, was die Polizei zu einer tätlichen Auseinandersetzung provoziert hatte. Doch diesmal beschränkte sich die Arbeitersolidarität in der Umgebung und in der Schweiz auf Geldsammeln und papierne Solidaritätserklärungen. Und das genügte offenbar nicht mehr. Wenn es dem STFV auch hie und da wieder einmal gelang, kleine und erfolgreiche Kämpfe zu führen, so schwand seine Verankerung in der Arbeiterklasse doch immer mehr. Auch die Protestdemonstration von 25.000 Arbeitern der Textil- und Chemieindustrie am 15. Juni vor dem Bundeshaus in Bern hatte offenbar nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Nach 81/2 Monaten verloren die Bündner Arbeiter die Schlacht und die Gewerkschaft wurde zu 6.000 Franken Busse verknurrt.
Im März 1953 siegten die Arbeiter der Kalkfabrik Dorner in Walenstadt schon nach einem Tag. Doch die Genfer Tramangestellten, die seit dem Krieg schon mindestens zweimal gestreikt hatten und im Mai 53 einen schönen Sonntagmorgen für einen Proteststreik auswählten, um gegen Rationalisierungsmassnahmen zu protestieren, hatten wenig Erfolg.
Ein Ausstand im Februar 1954 in der Papierfabrik in Horgen wurde vom STFV wieder kläglich abgebrochen.
70 einheimische und ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter der Vestonabteilung der. Herrenkleiderfabrik PKZ in Zürich leisteten im Januar 1955 nach dem Abschluss eines Kollektivvertrages Widerstand gegen die Senkung der Akkordansätze. Doch die Polizei holte die Streikenden nach einem Tag aus dem Betrieb und der Unternehmer sperrte sie für eine Woche aus. Die Arbeiter mussten den Lohnabbau schliesslich akzeptieren, da sie von der Gewerkschaft (VBLA) völlig im Stich gelassen wurden und diese die Position des Unternehmers verteidigte. Der Streik bildete allerdings nur den Höhepunkt einer längeren Phase von Auseinandersetzungen über Absentismus und Qualitätsverweigerung, die der VBLA so beschrieb: „Durch eine grössere Zahl von Absenzen zwischen Weihnachten und Neujahr (Italienerinnen, die nach Hause reisten) sowie von Krankheitsfällen bedingt, liess die Arbeitsdurchgabe in den letzten Wochen zu wünschen übrig.
Hinzu kam, dass die Betriebsleitung der Belegschaft einige Vorschriften in Bezug auf Ausführung und Qualität der Arbeit in Erinnerung rief, die in letzter Zeit vergessen worden waren.
Diese beiden Umstände, welche natürlich zu Stockungen im Arbeitsprozess und zu Leistungsrückgängen führten, verschärften nun aber den ohnehin eingetretenen Abbau der Verdienste in der ersten Zahltagsperiode dieses Jahres derart, dass die Belegschaft die von uns an begehrten Verhandlungen nicht mehr abwartete, sondern durch eine spontane Aktion die sofortige Revision der der abgebauten Positionen durchzusetzen hoffte.“ (Volksrecht Nr. 23, 28. Jan. 55) Doch der VBLA war natürlich gegen jeden „Leistungsrückgang“ und wollte nachhaltig beweisen, dass sich ohne ihn nichts durchsetzen liess.
Wenig wirksam war ein Streik von 40 Arbeitern einer Schuhfabrik in Genf im September 1956, denn der Unternehmer schloss seine Fabrik kurzerhand. 1957 gab es Auseinandersetzungen wie den Streik des christlich-sozial organisierten Personals einer Luganese Schifffahrtsgesellschaft, der allerdings von den 15 beim Eisenbahnerverband (SEV) organisierten Arbeitern der gleichen Gesellschaft sabotiert wurde. Trotz dieser üblen Streikbrecherarbeit siegten die Schiffsarbeiter auf der ganzen Linie. Im gleichen Jahr bewirkten die Arbeiter der Bell-Metzgerei in Basel mit einem halben Tag Streik, dass ein unerwünschter Arbeiter, der von der sozialdemokratischen zur christlich-sozialen Gewerkschaft übergetreten war, in eine andere Zweigstelle versetzt werden musste.
Die Aufsässigkeit auf den Bauplätzen
1951 hatten die 750 Gipser in Zürich im Mai grossen Erfolg mit einem zehntägigen Streik. Die verschiedenen Handwerkerkategorien hatten bis in die 60er Jahre immer wieder eine Avantgardefunktion übernommen. Mit ihren bereits relativ hohen Löhnen haben sie sich kaum je zufriedengestellt. Diese Tradition des radikalen Handwerkerreformismus ist in der Schweiz eigentlich erst 1963 mit der Niederlage im Gipserstreik in Zürich zu Ende gegangen. Allerdings gelang es den Handwerkern auch schon 1951 kaum mehr, grosse Solidaritätsaktionen für ihre Kämpfe in Gang zu bringen. Genauso wie unqualifizierte Arbeiter in der Aluminium- oder Fahrzeugindustrie oder die Saisonniers auf den Bauplätzen mussten sie ihre Kämpfe weitgehend isoliert führen.
1952 streikten auch die Holzarbeiter des Kantons Freiburg erfolgreich für eine Lohnerhöhung. Ebenso die Bauarbeiter im Püschle.
Vom April bis in den Juni 1953 streikten die 1.000 hochorganisierten Maler in Zürich. Mit motorisierten Patrouillen (NZZ: Überfallkommandos) sorgten sie dafür, dass der Streikbeschluss restlos eingehalten wurde. Hören wir die Klagen über die offensichtlich doch sehr effektiven Kampfformen der Maler: „Schon bald ereigneten sich dabei auch die aus früheren Jahren in unrühmlicher Erinnerung stehenden Gewalttaten: Nötigungen und Hausfriedensbruch am laufenden Band, wobei gelegentlich durch Fenster in die Räume eingedrungen wird. Ein Arbeiter wurde mit einem schweren eisernen Hammer traktiert.
Einem 6ojährignen schlug man die Zähne ein und drohte ihm, wenn er Strafanzeige erstatten sollte, würde das gleiche ‚mit seinem neuen Gebiss‘ geschehen! Die Sachbeschädigungen auf den Werkplätzen gehen in die Tausende von Franken. In einer einzigen Nacht suchte ein Sabotagetrupp auf Autos und Motorrädern vier auf das ganze Stadtgebiet verteilte Arbeitsstellen heim und bewarf Hausfassaden, Ladenlokale und Treppenhäuser mit Farbbomben. Als solche wurden Dutzende mit schwarzer und grüner Farbe gefüllte Eier, Glühbirnen und Flaschen verwendet.“ (NZZ, Nr.1183, 22.Mai 53) Allerdings funktionierte die Solidarität anderer Berufsgruppen nicht immer.
Doch genügten für den Druck gegen den Meisterverband diesmal die Fälle, in denen die anderen Arbeiter auf den Baustellen beim Ankommen von Streikbrechern mit ihrer Arbeit aufhörten. So einigten sich die Maler und ihre Meister nach acht Wochen auf einen Kompromiss.
Auf der Baustellen Grande Diene im Wallis streikten ein Jahr später 100 Arbeiter gegen einen lästigen Chef. Sie protestierten gleichzeitig dagegen, dass 20 Ausländer eingestellt worden waren, während man im selben Augenblick davon redete, schweizerische Arbeitskräfte zu entlassen. In Genf streikten im Sommer 460 Spengler während 38 Tagen, um eine Stundenlohnerhöhung von 15 Rappen durchzusetzen. Nach dem Eingreifen des Staatsrates wurde der Kampf zu einem Teilerfolg.
1955 meldete eine Schicht von Arbeitern ihre Bedürfnisse an, die bisher eher ruhig geblieben war, da ihre Unterdrückung durch die Fremdenpolizei sehr wirksam war – allerdings auch nachher immer wieder. Dies nicht zuletzt, weil dieser Repressionsapparat gegen die „fremdländischen Arbeitsaffen“ auch von den Gewerkschaften offen unterstützt wurde. Am ordentlichen Kongress des SGB 1953 hiess es in einer Resolution: „Eine loyale Zusammenarbeit zwischen kantonalen Arbeitsämtern und Fremdenpolizeibehörden ist notwendig, wenn eine wirksame Arbeitsmarktpolitik betrieben werden soll.“ Aus der Sicht dieser Leute ist die unbarmherzige Landesverweisung aufsässiger Arbeiter halt „Arbeitsmarktpolitik“.
Auf alle Fälle streikten im März 1955 trotz allem die italienischen Saisonniers beim Geleisebau am Hauenstein-Tunnel 24 Stunden lang aus Solidarität mit zwei entlassenen Kollegen, die sich aktive Gewerkschaftsarbeit zu Schulden kommen liessen. Im August streikten wiederum Saisonniers der gleichen Firma, diesmal in Ostermundigen. Ihre Forderungen für mehr Lohn und eine vertragliche Regelung der Arbeitsbedingungen wurden mit der ‚Zusicherung auf Unterlassung jeglicher Repressalien seitens der Firma erfüllt. 1957 forderten die Zürcher Gipser als Hauptforderung die 40 Std.-Woche, aber sie waren offensichtlich nicht stark genug, um einen Streik zu organisieren.
CHIPPIS: Angriff der Aluminiumarbeiter
Doch alle diese Streiks waren, wenn auch wichtig, geradezu Lächerlichkeiten gegen den Aufstand von 2.000 Aluminiumarbeitern der AIAG (später Alusuisse) in CHIPPIS im Wallis während des Sommers 1954. Dieser Kampf sollte zum radikalsten Ansatz einer neuen Kampftaktik der Arbeiter in der Schweiz werden, einer Kampftaktik, die sich zum letzten Male 1947 in der Waggonfabrik Pratteln und einigen kleineren Auseinandersetzungen angekündigt hatte.
Wer waren diese radikalen Arbeiter im Oberwallis, die ohne gewerkschaftliche Unterstützung direkt gegen die Arbeitsorganisation vorgingen und dabei nicht davor zurückscheuten, den Unternehmern einen Millionenschaden zu bilanzieren? Unter den Metallarbeitern war die AIAG bekannt als die „Hölle von Chippis“. Während durchschnittlich 60 Stunden wurden ehemalige Walliser Bergbauern an die Hochöfen gezwungen, harte und schwere Arbeit zu leisten. An diesen Öfen herrschte eine Temperatur von 60 bis 80 Grad Celsius. Die Arbeit erforderte zum allergrössten Teil keine besonderen Qualifikationen. Rund 85 % der Belegschaft waren ungelernte und angelernte Arbeiter.
Die Aluminium-Unternehmer nützten die schwierige Situation der ehemaligen Bergbauern reichlich aus, indem sie ihnen sehr schlechte Löhne bezahlten. Und ständig wurde das Arbeitstempo hinaufgetrieben. So sind nach der Modernisierungswelle nach 1949 praktisch alle alten, kleinen Öfen aus dem Betrieb verschwunden und durch neue, grössere Öfen ersetzt worden. Hatten an den alten Öfen noch 8 bis 10 Mann gearbeitet, so musste an den neuen Öfen ganz schwere und monotone Arbeit noch von zwei Mann bewältigt werden.
Die Aluunternehmer verfügten über die modernsten Ausbeutungswissenschaften: alle Arbeiten waren mit der Stoppuhr geregelt und kontrolliert. Wer die geforderte Leistung nicht erbringen konnte oder wollte, fand sich dank dem weiteren Angebot von armen Bergbauern bald auf der Strasse wieder. Ein Prämiensystem sorgte dafür, dass die Arbeitsauspressung ständig intensiviert wurde.
So ist es dem Unternehmen gelungen, den Ausstoss trotz sinkender Belegschaftsgrösse innert 10 Jahren mehr als zu verachtfachen. Die periodisch wiederkehrenden Krisendrohungen taten das ihre, diese Ausbeutung gegen die Arbeiter durchzusetzen. Kein Wunder, dass unter den AIAG-Arbeitern der Spruch herumging:
„Wir sind die Wolgaschlepper. Diese treibt man mit der Peitsche an, uns mit der Stoppuhr!“
Immer wieder hatten sich die Arbeiter gegen die AIAG-Bosse gewehrt. Im Jahre 1942 haben die Ofen- und Giessereiarbeiter in einem Teilstreik die Arbeit niedergelegt. Auch 1948 standen Streikdrohungen ins Haus. Im Sommer 1954 kam es dann zu einer entscheidenden Auseinandersetzung.
Bereits drei Jahre früher hatten die Arbeiter eine Erhöhung des Grundlohnes um 25 Rappen verlangt. Immer wieder hatte die Direktion abgelehnt. Ein durch die Gewerkschaft angerufenes Schiedsgericht bestimmte schliesslich eine Lohnerhöhung von 4 Rappen für Ungelernte, 5 Rappen für Gelernte. Geschlossen wiesen die Arbeiter diesen Schiedsspruch zurück, der nicht einmal einen Viertel ihrer Forderungen akzeptierte. Damit hatten sie genug. Der Funke ins Pulverfass war ein Flugblatt am Morgen des 10. August von einer autonomen Arbeitergruppe, das allen Arbeitern der Frühschicht verteilt wurde.
„Einige Arbeiter aus verschiedenen Abteilungen“ luden auf diesem Flugblatt ihrer Kollegen zu einem „zeitlich befristeten Proteststreik“ ein. Der Funke zündete sofort: spontan wurde die Arbeitsaufnahme verweigert. Der Aufruf der Arbeiterkommission und der Gewerkschaft, doch zu arbeiten, blieb wirkungslos. Im Gegenteil: die Arbeiter liessen ihrer Wut freien Lauf: „Wir schlagen alles kurz und klein, wenn die Kerle nicht nachgeben.“ – „Wir bekommen unser Recht, und wenn wir drei Monate streiken“. Das waren durchaus reale Drohungen.
Jetzt, wo die gewerkschaftlichen Fesseln überwunden waren, sahen auch die Forderungen radikaler aus: die Streikenden verlangten jetzt nicht mehr nur 25 Rappen Stundenlohnerhöhung, sondern die völlige Abschaffung der Prämien bei den Stundenlöhnen und deren Ersetzung durch eine Lohnerhöhung von 75 Rappen.
Jeder Arbeiter sollte so auf einen minimalen Stundenverdienst von 3 Rappen kommen, während der Grundlohn bisher bei zwei Franken lag. Diese egalitären Forderungen begünstigten vor allem die niedrigsten Lohnklassen, die jetzt mindestens 500 Franken Monatslohn nach Hause bringen sollten.
Die AIAG-Bosse lehnten die Arbeiterforderungen entschieden ab: auf ihr Prämiensystem wollten sie unter keinen Umständen verzichten, weil seine Abschaffung die Produktivität des Betriebes und damit auch die Ausbeutung der Arbeiter stark angegriffen hätten. Am zweiten Streiktag verteilte die Direktion ein Flugblatt gegen den antiproduktivistischen und antiinstitutionellen Arbeiterkampf. Sie kündigte fristlose Entlassungen an. Doch nicht genug der Drohungen: die streikenden Arbeiter sollten der Altersrechte in der Pensionskasse verlustig gehen, bei der Berechnung der Gratifikationen würden die Dienstjahre gestrichen, die Streiktage würden nicht bezahlt, die Direktion würde sich weigern, die Alterssparhefte der Arbeiter herauszugeben. Doch die Arbeiter hatten für die Drohungen der Direktion nur Hohn übrig. Paketweise schmissen sie den Wisch in die Rohne.
Gegen die Erpressung der Unternehmer setzten sie ein wirksameres Gegenmittel ein: sie drohten, die Hochöfen, die sie bisher noch in Betrieb gehalten hatten, ausgehen zu lassen, falls die Direktion ihren Forderungen nicht nachgeben bedienen lassen wollte, um den Streikenden diese Waffe aus den Händen zu schlagen, kam die Reaktion der Streikenden prompt: sie vertrieben die Streikbrecher von ihren Posten und die Öfen gingen aus. Es hat mehrere Wochen gedauert, bis die erkalteten Öfen wieder in Gang gesetzt werden konnten. Die Direktion jammerte über eine Million Schaden und schloss die Fabriktore.
Am Abend demonstrierten 2.000 Arbeiter vor dem Hotel in Siders, in dem sich die gesamte Walliser Kantonsregierung mit den AIAG Bossen zu Verhandlungen zusammengesetzt hatte.
Am Mittwochabend, drei Tage nach Streikbeginn, handelte das „Triumvirat“ aus Betriebsleitung, Walliser Regierung und Gewerkschaften schliesslich einen „Kompromiss“ aus. Ohne das von den Arbeitern gewählte Streikkomitee zu befragen oder zu den Verhandlungen zuzulassen, vereinbarten sie, dass die Direktion auf Sanktionen gegen die Streikenden verzichtet werde, falls am Donnerstag die Arbeit wieder aufgenommen werde. Auf die Forderungen gingen sie gar nicht ein, sondern bekräftigten nur das von den Arbeitern ja bekämpfte Schiedsgerichtsurteil.
Viele Arbeiter waren unterdessen offenbar durch die nach wie vor harte Haltung der Unternehmungsleitung bereits stark resigniert und fanden keine Möglichkeit mehr, ihren radikalen Kampf zu verarbeiten. In mehrstündigen „Verhandlungen“ wurde das Streikkomitee von der Gewerkschaft gegen Mittwochmitternacht zur Kapitulation gebracht.
An einer Belegschaftsversammlung am nächsten Morgen um 06.00 Uhr kamen nur noch rund 700 Arbeiter. Das Streikkomitee hatte sich bereits aufgelöst! Mit allen möglichen Tricks versuchten die Gewerkschaftsfunktionäre und der herbeigeeilte Nationalrat Giroud (SMUV-Sekretär des Welschlands) die Arbeiter zur Annahme der Vereinbarung zu bringen.
Das Verhandlungsprotokoll wurde nur ungenau wiedergegeben. In der Abstimmung stellte sich eine wesentliche Minderheit der anwesenden Arbeiter gegen den Streikabbruch und die Kapitulation konnte nur durchkommen, weil sich viel Arbeiter resigniert der Stimme enthielten. Sie drückten ihre Wut nicht einmal mehr mit einem Pfeifkonzert gegen die Gewerkschaft aus, wie das an den vorhergehenden Streiktagen noch üblich war. Gerade die vorzeitige Auflösung der autonomen Streikleitung mag einer der wichtigsten Gründe gewesen sein, dass diese gewaltige Arbeiterfront in diesem wichtigen Augenblick zusammenbrach. Bereits um 07.00 Uhr gingen die Arbeiter an ihre Arbeitsplätze zurück.
Zwei Monate später entliess die Direktion 100 Arbeiteravantgarden der AIAG und besiegelte damit ihren Sieg für lange Zeit. Dieser einzigartige Kampf kurz nach der vierten Erneuerung des SMUV-Friedensabkommens war jedoch nicht nur eine wichtige Arbeitererfahrung, gleichzeitig wurde er von den Unternehmern intensiv diskutiert und sie konnten bald einmal überzeugend begründen, weshalb sie an ähnlichen Arbeitsstellen lieber Ausländer als Schweizer arbeiten liessen, oder die alten Belegschaften in solchen Fabriken systematisch mit Emigranten durchsetzten, um eine einmal erreichte Akkumulation von Widerstandserfahrung zu zersetzen.
Löhne, Krise, Restrukturierung: welche Lösung?
Um das Jahr 1953 begann ein Prozess, den die Kapitalisten „Austrocknen“ des Arbeitsmarkts nennen, d.h. von ihrem Standpunkt aus gesehen, bestand das Problem darin, dass sie sich nicht mehr ausreichend und geeignete Arbeitskräfte für ihre Ausbeutergeschäfte beschaffen konnten. Diese Situation wurde ihnen nur deshalb nicht sofort zu kostspielig, weil sie über eine ganze Zeit die verschiedenen Arbeiterschichten gegeneinander auszuspielen vermochten. Über Jahre konnten sie den Mehrfrontenkrieg der Arbeiter in eine gewaltige Expansion der Produktion umsetzen.
Die Facharbeiter konnten sich auf dem Rücken der neuimportierten Emigranten „zufriedenstellend“ besserstellen, sei es, dass sie in der Fabrikhierarchie nach oben stiegen, sei es, dass sie das Fabrikleben überhaupt mit dem Büro vertauschten oder von schlechter bezahlten Branchen in besser bezahlte wechselten. Die Gewerkschaften funktionierten zur Hauptsache, indem sie die Positionen dieser Arbeiterschichten, aber auch der Handwerker auf den Bauplätzen verteidigten. Im Unterschied zum SMUV-Reformismus war der Gewerkschaftsreformismus auf den Bauplätzen jedoch bedeutend radikaler und deshalb auch kostspieliger.
Dagegen konnten die Unternehmer das, was sie die Schweizer Facharbeiter und Handwerker kosteten durch die schlechter bezahlten Emigranten kompensieren. Diese waren zumeist vorerst einmal froh, das Geldverdienen in der Schweiz mit der Arbeitslosigkeit oder mit den bedeutend schlechteren Löhnen in Italien vertauscht zu haben.
Vor allem aber waren sie auf viele kleine und dezentralisierte Betriebe in den verschiedenen Regionen verteilt. Gegen die Kampfansätze der un- und halbqualifizierten Arbeiter wie zum Beispiel im Oberwallis oder bei der PKZ setzten die Unternehmer zusammen mit den Gewerkschaften auf die Karte der Repression und Isolierung.
Wenn die Schweizer Arbeiter deshalb in vielen Branchen öfters den Betrieb wechselten und die Fluktuationsrate um einen Viertel stieg, so war der Betriebswechsel gesamthaft betrachtet Mitte der 50er Jahre in der BRD doch 2-3-mal in Grossbritannien 5-7-mal und in Frankreich sogar 8-9-mal grösser als in der Schweiz. Das beweist, dass sich nur einzelne Arbeiterschichten auf Kosten der anderen besserstellen konnten und es den Unternehmern dadurch gelang, gesamthaft gute Ausbeutungsraten herauszuholen. Selbst der SGB musste zugestehen, dass zwischen 53 und 56 die durchschnittlichen Reallohnerhöhungen „zweifellos weniger als die Zuwachsrate der volkswirtschaftlichen Produktivität“ ausmachte. (SGB: Tätigkeitsbericht 19 3-56R S. 97)
Die Unternehmer reagierten ganz euphorisch und investierten übermütig drauflos. Die Gesamtproduktion wie die Gesamtbeschäftigung wurden in diesen Jahren gewaltig ausgeweitet und erreichten neue Rekorddimensionen. Doch was nicht war, konnte noch kommen. 1957 war gleichzeitig das grösste Boomjahr dieser Zeit und der vorläufige Höhepunkt einer Teuerungswelle, mit der die Unternehmer auf den sich allmählich doch verstärkenden Lohndruck reagierten. Der Bundesrat war dem inflationären Lohnraub noch durch den weiteren Abbau der Preiskontrolle entgegengekommen.
Man führte eine heftige Debatte über die „Lohn-Preis-Spirale“ und es entstanden zwei sich vorerst widersprechende Vorschläge: die Gewerkschaften wollten die Reallohnsteigerungen halten und schlugen einen Fremdarbeiterstopp vor.
„Die Industrie wäre gezwungen, ihre Kapazität mehr durch Rationalisierung und weniger durch eine Vermehrung der Zahl der Arbeitskräfte zu erhöhen“ (ebenda, S. 67). Auf der Basis der grösseren Ausbeutungsspanne wäre es nach Ansicht der Gewerkschaft danach möglich gewesen, steigende Löhne zu erhalten und das Preisniveau zu kontrollieren.
Die Unternehmer dagegen schlugen dem SGB ein Abkommen zur Stabilisierung von Löhnen und Preisen vor. Die Gewerkschaften lehnten jedoch im Gegensatz zu zehn Jahren früher ab, um am 26. April nur einen „Beratenden Ausschuss für Konjunkturfragen“ beizutreten, der schlussendlich vergebens gegründet worden war, um ein Konjunkturdämpfungsprogramm zu erarbeiten.
Für die Unternehmer in der Schweiz mussten die Signale für. einen Wechsel in der Politik der Arbeiterausbeutung vorerst auf internationaler Ebene gegeben werden, bis sie den Arbeiterreformismus aktiv und unter veränderten Bedingungen an die Programmierung der Entwicklung heranliessen.
Als die Kapitalisten 1958 international zur Krise griffen, um die Arbeiter wieder ausbeutbarer zu machen und ihre Projekte durchzusetzen, entschlossen sich die Unternehmer auch in der Schweiz zu einem kurzen, aber sehr effektvollen Produktionsstopp. Sie schränkten die Gesamtbeschäftigung um rund 20 000 Arbeiter ein, allerdings ohne gleichzeitig Arbeitslosigkeit im eigenen Land zu schaffen. Es genügte, die Fremdarbeiter nach Hause zu schicken.
Doch damit war die vorhergehende Debatte über den einzuschlagenden Weg der Arbeiterausbeutung noch nicht abgeschlossen, auch wenn die Grundlage für die Durchsetzung einer nachhaltigen Richtungsveränderung mit diesem Produktionsstopp gelegt worden war.
Der Übergang in den 60er Jahren Umwälzung des Gesamtarbeiters
Der Entscheid zum Produktionsstopp 1958 erlaubte es den Unternehmern ein neues Projekt in Angriff zu nehmen, das auf der einen Seite durchaus dem gewerkschaftlichen Vorschlag, die Produktivität zu steigern, entsprach, auf der anderen Seite jedoch den gewerkschaftlichen Vorschlag, die Emigranten aus dem Land zu schmeissen oder zumindest den fortdauernden Import nachhaltig zu stoppen, sabotierte. Dieses Projekt hiess: Restrukturierung der Produktion. Den Unternehmern war unterdessen nämlich bewusst geworden, dass es ihnen langfristig nicht mehr möglich sein würde, die Kosten des SMUV-Reformismus und die hohen Löhne der Handwerker auf den Bauplätzen zu bezahlen. Gegen diese Arbeiterschicht, die nach wie vor die Basis des Arbeiterreformismus in seiner liberalen (Sozialdemokratie) und in seiner radikaleren Form (PdA) ausmachen, wollten die Unternehmer vorgehen.
Doch einmal mehr war gerade dieses Projekt nicht zu verwirklichen ohne die Hilfe ebender politischen Strömung, deren Arbeiterbasis angegriffen werden sollte. War die, Sozialdemokratie über die ganzen Fünfzigerjahre hinaus systematisch brüskiert worden und deshalb schon 1953 wieder aus dem Bundesrat ausgetreten, so sollte sie jetzt wieder direkt gebraucht werden, indem die berühmte „Zauberformel“ verwirklicht wurde: die SP bekam zwei Sitze im Bundesrat, neben zwei Vertretern der Freisinnigen, zwei der Christlichen und einem der Bauern.
Dahinter steht natürlich der wichtige jedoch noch viel zu wenig diskutierte Umstand, dass dieses Projekt der Restrukturierung der Produktion gegen die beherrschende Stellung des professionellen Arbeiters von bestimmten, gegen den Widerstand anderer, Kapitalisten durchgesetzt werden musste und dass der Produktionsstopp 1958 nicht zuletzt die relative Vorherrschaft dieser sogenannten „fortschrittlichen“ Kapitalgruppen mit sich gebracht hatte.
1958 nahm z.B. die vier Jahre früher von den Arbeitern so radikal angegriffene AIAG in Chippis die erste automatische Fabrik für Massenproduktion von Elektroden in Betrieb. Dies als Beispiel der sich anbahnenden Restrukturierung der Produktion, die in der Metall- und Maschinenindustrie ebenfalls durch die Automatisierung gekennzeichnet sein sollte. Doch weshalb wurden die lochbandgesteuerten Maschinen, mit denen bisher von Facharbeitern kontrollierte Arbeitsprozesse weitgehend durch die Maschinen selbst gesteuert werden sollten oder die automatischen Webstühle in der Textilindustrie wirklich erst Ende der Sechzigerjahre breit eingeführt?
Es stimmt natürlich, dass vorerst bedeutsame Neuzusammensetzungen der Kapitalgesellschaften vorgenommen werden mussten, wie zum Beispiel der berühmte Zusammenschluss der Genfer Metall- und Maschinenindustrie mit den grossen Zürcher Konzernen wie BBC, Sulzer, Bühne oder der Zusammenschluss von BBC und MFO, der es möglich machte, die Produktion auf weniger Produkte zu beschränken (in diesem Falle bestimmte Turbinentypen). Aber die zögernden Fusionen können doch wohl nicht wirklich erklären, weshalb das ganze Projekt einer Restrukturierung derart schwerfällig vorwärts kam.
Wir beanspruchen mit diesem Text natürlich keineswegs umfassende Antworten auf diese Fragen geben zu können. Sicher ist aber, dass es noch einige deutliche Hinweise auf die Klassenauseinandersetzungen in den Sechzigerjahren gibt, auf die wir im Folgenden eingehen möchten.
Die Unternehmer gingen dieses Projekt der Restrukturierung vorerst vorwiegend als bessere Ausnutzung der vorhandenen Arbeitslage an. So wissen wir zum Beispiel, dass 1958/59 ein Höhepunkt in der Einführung von MTM-Zeitmessungsverfahren war. Um jenen Arbeitertyp immer mehr zu verallgemeinern, den wir von der fliessenden Waggon-Fertigung in Pratteln, von der Walliser Aluminiumindustrie, aus grösseren Teilen der Textil-, Bekleidungs-, Nahrungsmittel-, oder Schuhproduktion und auch aus Chemiebetrieben wie Schweizerhalle oder Firestone kennen, mussten zuerst einmal die Arbeitsoperationen bis ins letzte Detail rationell organisiert werden. Auch der SMUV unterstützte dieses Vorhaben und gab ab 1959 eine Zeitschrift für Vorarbeiter, Zeitnehmer, Arbeitsvorbereiter usw. heraus, damit sein Gewerkschaftskader sich fachmännisch an der Reorganisation der Ausbeutung beteiligen konnte.
Doch, so fragen wir uns, warum kam es 1962 in der Industriegesellschaft Neuhausen (SIG) nicht zu einem grösseren Kampf, als die Direktion in der ausgesprochenen Facharbeiterabteilung zur Waggon-Produktion ein Multi-Stopp-Verfahren einführte, dessen Hauptzweck es war, die „Verlustzeiten“ zu vertrieben, das heisst jede Bewegung des Arbeiters, alle seine Gänge zum Werkzeugholen oder zu Kollegen oder aufs WC zu messen und dann für alle seine „notwendigen“ Arbeitsoperationen einen Durschnittwert vorzuschreiben. (Dieses System der Arbeitsorganisation wird meistens eingeführt, wenn man anschliessend umfassender Umwälzungen des Maschinensystems plant).
Im Sommer streikten die 80 Arbeiter der betroffenen Abteilung zwei Stunden erfolglos gegen diese Rationalisierungsmassnahmen, die der „Vorwärts“ als „neuesten Raubzug auf die Berufsehre“ bezeichnete. In der gleichen Abteilung kündigte einige Monate später ein junger Schweizer Berufsarbeiter gleich selbst, nachdem er mit einem Plakat zum Streik aufgerufen hatte und sein Chef im daraufhin die fristlose Entlassung angekündigt hatte. Verlassen von einer arbeiterfeindlichen Gewerkschaft mussten sich die Arbeiter schliesslich fügen und man mag sich wundern, weshalb nie einem der Zeitnehmer ein Schraubenschlüssel an den Kopf geflogen ist oder weshalb diese Ausbeutungshandlanger nie auf andere Weise aus der Abteilung vertrieben wurden.
Auf alle Fälle wissen wir leider nichts darüber. Wir wissen jedoch, wie die Arbeiter sonst reagiert haben. 1960/61 musste die SIG bei einer Gesamtbelegschaft von 2 000 Arbeitern 800 Arbeiter neu einstellen. 1962 erklärte die Firma: „Die in der Schweizer Industrie allgemein verzeichnete Wanderbewegung und die Abnahme des Anteils der Schweizer an der Belegschaft verursachten Sorgen. Trotz 737 Neueintritten konnte der Arbeiterbestand nur um 121 erhöht werden, wobei der Zuwachs fast ausschliesslich Ausländer betrifft. Gesamthaft ist leider ein langsames Absinken des Ausbildungsstandes der Neueintretenden festzustellen, welches sehr ernst genommen wird.“ (Basler Nachrichten Nr. 198, 12./13. Mai 62)
Und auch die Schaffhauser „Arbeiter-Zeitung“ wunderte sich über die Einführung des Multi-Stopp-Verfahrens „ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo man Türken, Spanier und Süditaliener unbeschwert von Berufskenntnissen importiert.“ Wir lernen an diesem Stück Arbeiterwiderstand gegen das kapitalistische Projekt der Reorganisation der Ausbeutung einen ungemein wichtigen Aspekt dieser ganzen Auseinandersetzung kennen. Denn um ihr Projekt durchzusetzen genügten den Kapitalisten weder die aktive Unterstützung der Gewerkschaft noch Zugeständnisse an den Lohn. Sie holten gezielt einen neuen Typ Emigranten in die Schweiz, genauso wie das der Fiat-Boss Agnelli, aber auch viele andere Unternehmer in Europa zur gleichen Zeit taten.
Es waren vor allem die Süditaliener, immer mehr Spanier und auch schon die ersten Türken. Hatten die Kapitalisten nach 1950 zu fast 100% norditalienische Arbeiter in die Schweiz geholt, so kamen zwischen 1959 und 1964 nur noch etwa ein Viertel der Italiener aus dem Norden, die anderen kamen aus dem Süden Italiens. Während der gleichen Zeit stieg auch die Zahl der spanischen Arbeiter in der Schweiz von 8 000 auf 82 000. Die Zahl der neuankommenden Fremdarbeiter mit Qualifikationen stieg zwischen 1959 bis 64 um nur 33% im Gegensatz zu einem Ansteigen der Unqualifizierten um mehr als 120%.
Es waren Arbeiter, die nie einen Beruf gelernt hatten und trotzdem alle möglichen Arbeiten ausführen konnten, die in den Fabriken und auf den Baustellen die einfachsten, monotonen Arbeiten verrichten sollten. An dieser Presse drücken sie einen Hebel, an jener führen sie der Bohrvorrichtung das Werkstück zu, nehmen es nach ein paar Sekunden wieder weg, zu und weg, zu und weg, immer die gleichen abstumpfenden Bewegungen, tagtäglich. Es sind die Frauen, die an MTN-Arbeitstischen auf eine halbfertige Uhrenplatte zwei Rädchen mit einem Schräubchen befestigen, auf jeder Uhr zwei Rädchen und ein Schräubchen, in der Minute schaffen sie zehn Uhren, in der Stunde sind’s dann 600, an einem Tag an die 5 000.
Diese „Arbeiter der tausend Berufe“ sind die modernen Sklaven der Produktion; zur Arbeit gezwungen, wenn sie leben wollen. Aber auch zu jeder Arbeitsverweigerung bereit, die ihnen effektiv erscheint. Sie, die immer mehr zur beherrschenden Tendenz der Produktion wurden, begannen auch langsam das Bild der Arbeiterkämpfe zu bestimmen. Doch wie wir immer gesehen haben sind auch sie nicht ohne Geschichte.
Die Textilarbeiter, die Chemiearbeiter, Pratteln, Chippis, Firestone haben eine deutliche Sprache gesprochen. Die Unternehmer werden diese Arbeiter noch mehr fürchten als die wandernden Berufsarbeiter und doch waren sie gezwungen, diesen Arbeitertyp massenhaft in die Produktion einzuführen, um weiterhin Profite herausschlagen zu können.
Doch die Unternehmer sind auch nicht dumm. Sie verstehen ihre Ausbeuter-geschäfte manchmal besser als viele Linke die revolutionäre Politik. Zwar nimmt die Zahl der Schweizer, die in die Industrie arbeiten gehen seit 1959 nun in allen Industriebranchen ab und es vermehren sich die Arbeitsemigranten (um 850), doch so leichtfertig lassen sich die Unternehmer durch diese Emigranten nicht zu einer offenen Konfrontation herausfordern. Das Kapital liess diese Arbeiter nicht direkt an die Juwelen seines Produktionsapparates, die grossen Fabriken wie BBC oder die Basler Chemie, heran. Darauf sollten die unberechenbaren Massenarbeiter zuerst einmal in den dezentralisierten Kleinbetrieben vorbereitet werden.
Die Schweizer Arbeiter
In diesen Jahren führte der STFV seine letzten grösseren Kämpfe. Der Bedeutendste unter ihnen war der massive Ausbruch der Arbeiterwut im Jahr des kurzen. Produktionsstopps 1958, als 750 Arbeiter der Gummireifenfabrik Firestone in der ehemaligen PdA-Hochburg Pratteln streikten. Nach aussen hin war es ein Streik für die Anerkennung des STFV als gewerkschaftlichem Vertragskontrahenten, denn die Firestone-Arbeiter waren bislang weitgehend unorganisiert gewesen.
Doch die Bosse waren mit der gewerkschaftlichen Organisierung der Arbeiter nicht einverstanden und schmissen vorerst einen aktiven Organisator, anschliessend 20, die zuerst dem STFV beigetreten waren, und kündigten schliesslich die Entlassung von 30 weiteren Arbeitern an. Es bestand bei den Arbeitern jedoch kein Zweifel, dass die Entlassungen nur gegen die gewerkschaftliche Organisierung gerichtet waren.
Doch hinter diesem Organisierungsversuch stand der Widerstand der Arbeiter gegen „amerikanische Ausbeutungsverhältnisse“, die einige wenige Berufsarbeiter der vorwiegend aus unqualifizierten Arbeitskräften bestehenden Belegschaft in eine gewerkschaftliche Organisierung umzusetzen versuchten. Der „Vorwärts“ beschrieb den Hintergrund dieses Kampfes so: „Aus den USA kamen neue Automaten, mit denen, nach Angaben der Betriebsleitung, über 100 Stück im Tage produziert werden könnten.
Im Durchschnitt wurden aber nur 80 ‚Finken‘ erreicht und jeder hatte davon genug. Als dann, durch jene ‚Sonderleistung‘ angespornt, die Betriebsleitung 100 Pneus herausquetschte, gab es bei der überwiegenden Mehrheit nur die Meinung, dass diese Norm unmöglich sei. Hinzu kam der vorweihnächtliche Lohnabbau. ‚Neuzeitliche Lohngestaltung‘, sagte im August und September ein Zirkular der Betriebsleitung. Genau wie drüben, schon in den dreissiger Jahren: ‚Je schneller sie die Arbeit machen, desto weniger verdienen sie‘.“ (Vorwärts Nr.5, 13.Jan.58)
Dass diese Arbeiterwut auf den neuen Zeitakkord und auf ein ebenfalls neu-eingeführtes Spitzelsystem zur repressiven Durchsetzung der unternehmerischen Ausbeutungsziele sich vorerst in einen geschlossenen Streik mit militanten Streikposten umsetzte, der nur die gewerkschaftliche Organisationsfreiheit forderte, zeigt nur die Schwierigkeiten des damaligen Arbeiterkampfs, der vorerst bedeutend mehr Erfahrungen machen musste, bis er sich wirksam und unvermittelt gegen seinen Feind richten konnte.
Doch im Verhältnis zu seiner Zielsetzung war der Kampf ein voller Erfolg, denn alle Entlassenen wurden wieder eingestellt und der STFV musste als Vertragspartner anerkannt werden. Und als im Mai ein 24stündiger Warnstreik beschlossen wurde, um den Kollektivvertrag endlich unter Dach zu bringen, gaben die Bosse am Vorabend des vorgesehenen Streiktages angesichts der entschlossenen Belegschaft nach, so dass die am Morgen bereits Streikposten stehenden Arbeiter wieder zurückgepfiffen werden konnten und anstatt einen Streiktag durchführen zu können, einen gewöhnlichen Arbeitstag über sich ergehen lassen mussten. Die Direktion wusste wohl sehr gut, dass der Streik ohne weiteres die gewerkschaftlich gesetzten Grenzen überschreiten könnte, da im Kollektivvertrag entscheidende Fragen wie die des Akkords unseres Wissens nicht enthalten waren.
Ebenso brachte ein vom Solothurner STFV organisierter einstündiger Proteststreik in der Kammgarnspinnerei DERENDINGER den Abschluss eines Kollektivvertrages.
In der chemischen Fabrik SCHWEIZERHALLE, in der die Arbeiter ja schon kurz vor Kriegsende einen harten Kampf geführt hatten, kam es zu kürzeren Arbeitsunterbrüchen, weil die Arbeiter den 13.Monatslohn forderten, wie er in der Ciba-Geigy ausbezahlt wurde. Schliesslich erhielten sie dann höhere Kin-der- und Familienzulagen. Um gegen diesen lächerlichen Kompromiss zu effektiveren Kampfformen zu greifen, reichte die Kampfkraft der Arbeiter jedoch nicht aus, obwohl Schweizer wie Italiener solidarisch zusammen gestreikt hatten.
1960 streikten in Basel die HAFENARBEITER, die auch nicht gerade dafür berühmt waren, ihre schwere und keine Qualifikationen erfordernde Arbeit besonders gerne zu machen. Sie forderten erfolgreich die Wiedereinstellung des Präsidenten der Arbeiterkommission einer kleineren Firma, der sich mit seinem Chef wegen der Pausenzeit verkracht hatte. Die Hafenarbeiter gehören gerade zu jenen Arbeitertypen, die sehr häufig kleine Streiks oder andere Kampfformen anwenden, um ihre schwierige Situation zu verbessern.
Sie sind ein bisschen die Ausgeflippten unter den Basler Arbeitern, da sie jederzeit arbeitslos werden können, wenn einmal nichts läuft. Leider wird darüber nicht sehr viel geschrieben. Und vielleicht waren die Akkordarbeiter im Hafen für die Basler Arbeiterbewegung tatsächlich nicht von grosser Bedeutung. Wir wissen jedoch, dass sie 1961 gegen die Einstellung von Grenzgängern rebellierten oder fünf Jahre später eine recht kämpferische Bewegung für einen neuen Vertrag führten, die erst ganz kurz vor einem grösseren Streik zum Abschluss kam.
Zu der uns unterdessen bereits bekannten traditionsreichen Handwerkergewalt gehört auch ein Streik der Genfer Plattenleger, die einen frisch von Streikbrechern gelegten Parkettboden kurzerhand wieder zum Fenster hinausbeförderten und in einer anderen Wohnung den neuen Parkettboden unter Wasser setzten.
In derselben Tradition stehen die Genfer Elektromonteure, die im Juni 1960 mit einem Streik für mehr Lohn kämpften. Fachmännisch zerschnitten sie in neuen Wohnbauten die Haupt- und Zufuhrleitungen wieder. Im gleichen Jahr streikten im Baselbiet 16 Saisonniers einer Baufirma, weil ihre Löhne nicht rechtzeitig ausbezahlt worden waren und weil sie manchmal zu 13-16 Stunden Tagesarbeit gezwungen wurden. Die Arbeiter wurden dann von einer anderen Firma übernommen. Zur gleichen Zeit standen aber auch die Parkettleger in Basel im Ausstand. Die Unternehmer fanden dank ihrer guten Kenntnis der Rechtslage heraus, dass der Streik ungesetzlich sei und die Gewerkschaft war gutmütig genug, den Kampf abzubrechen. Erfolgreicher waren da schon die Arbeiter der Habasit-Werke in Reinach, wo sie die Ersetzung eines sogenannten „Hausvertrags“ in einen gewerkschaftlichen Kollektivvertrag durchsetzen konnten.
1962 setzten die Gipser in Schaffhausen in einem eintägigen Streik einen neuen Vertrag mit verschiedenen Verbesserungen durch. In einer kleinen Fabrik in Ligornetto im Tessin streikten 24 Arbeiter, weil der Unternehmer sich weigerte, Verhandlungen über einen Gesamtarbeitsvertrag aufzunehmen. Da der Unternehmer auch auf den Streik hin nicht reagierte, suchten sich die Arbeiter andere Stellen.
1963 führten die Gipser in Zürich den bis heute letzten grossen Handwerkerkampf in der Nachkriegszeit: 15 Wochen lang verweigerten 1.000 Gipser die Arbeit. Unter ihnen war eine ganze Anzahl Italiener aktiv. Es waren besonders PCI-Genossen. Allerdings wurden andere Fremdarbeiter von den Unternehmern auch als Streikbrecher eingesetzt, ebenso wie Schweizer Gipser und Handlanger oder Lehrlinge. Gegen diese organsierten die Gipser wieder erfolgreich ihre motorisierten Patrouillen und in besonders hartnäckigen Fällen gingen sie gleich zu 200-300 los, um die Streikbrecher zu vertreiben
Einmal kam es zu einer Schlägerei mit der Polizei, die Streikbrecher schützen wollte. Und wie schon früher gingen mal da, mal dort einige frisch gegipste Wände oder ganze Wohnungen zum Teufel. Die Gipser hatten neben einer Lohnerhöhung vor allem die 40-Std.-Woche auf ihre Fahne geschrieben und verstanden sich durchaus als „Pioniere des sozialen Fortschritts“.
Tatsächlich wurden sie das gemessen an den materiellen Ergebnissen des Kampfes nicht, weil ihr Kampf viel zu isoliert blieb, wogegen die Malermeister selbst den „Vorort“ im Rücken hatten, um einen enorm gefürchteten Präzedenzfall für die 40-Std.-Woche zu verhindern. Die offizielle Arbeiterbewegung mochte sich nicht einmal mehr zu einer Solidaritätsdemonstration aufraffen und die Bonzen anderer Gewerkschaften scheuten sich nicht davor zurück, die Streikenden als „Störer des Arbeitsfriedens“ zu denunzieren. Zu inoffiziellen Solidaritätsaktionen anderer Berufsgruppen auf den Bauplätzen kam es sozusagen nicht mehr und so mussten die Gipser ihren Kampf schliesslich mit einer Lohnverbesserung, aber ohne Arbeitszeitverkürzung aufgeben.
Kurz nach der Niederlage im Gipserstreik startete die Bundespolizei eine breite Verfolgungsaktion gegen PCI-Mitglieder und -Sympathisanten, die offiziell an der Propaganda für die italienischen Wahlen aufgehängt wurde. Ziemlich viele Genossen wurden damals ausser Landes verwiesen oder, wenn sie gerade im Ausland waren, mit der Einreisesperre bestraft. Innert zwei, Wochen verliessen aus Protest mehr als 500 italienische Fremdarbeiter mitten in der Arbeitssaison die Schweiz. Durch den Rausschmiss und die demonstrative Ausreise von hunderten von aktiven Genossen aus der Emigration wurde jene Möglichkeit zerschlagen, die sich im Zürcher Gipserstreik angedeutet hatte: die Verbindung der antiinstitutionellen Kampfformen der Handwerker mit der Wut der Arbeitsemigranten.
Die Arbeitszeitfrage wurde vom SGB dann in dem Sinne gelöst, dass er gegen die Beibehaltung der alten Wochenarbeitszeit von 45 Stunden die Verschärfung des Fremdarbeiterstopps von 1963 aushandelte oder zumindest meinte, diese Verschärfung ausgehandelt zu haben. Wie wir nämlich noch sehen werden, waren auch viele Unternehmer an dieser repressiven Fremdarbeiterpolitik interessiert, die der SGB allerdings schon viel länger vorgeschlagen hatte. Nur hätten ihn die Unternehmer früher kaum verkraften können, denn vorher waren sie noch voll auf eine Vergrösserung der Gesamtarbeitskraft angewiesen gewesen.
Erst nachdem sie den diskutierten Restrukturierungsprozess zumindest innerhalb bestimmter Grenzen vorangetrieben hatten, konnten sie auch einen Fremdarbeiterstopp verkraften, der in Kombination mit der Werkstattflucht der Schweizer seit 1965 eine kontinuierliche Verringerung der industriellen Arbeitskraft mit sich brachte. Natürlich hatte diese Politik auch viele Unternehmer aus dem Rennen geschmissen, die sich nur dank dem unbeschränkten Fremdarbeiterimport am Leben erhalten konnten.
Der verstärkte Fremdenhass der Gewerkschaften lag darin begründet, dass der Widerstand der Schweizer Arbeiter, vor allem der professionellen, gegen die Rationalisierungspolitik nicht immer erfolgreich war. Schon der Firestone-Kampf zeigte die Schwierigkeiten unter Verwendung kommunistischer Strukturen gegen die Intensivierung der Ausbeutung vorzugehen, obwohl es damals im Gegensatz zum Kampf in der SIG Schaffhausen noch gelang, die Massenarbeiter in die Front einzubeziehen. Doch dieser Widerstand wurde immer mehr in die Defensive gedrängt und fand seinen vorläufigen Höhepunkt im Gipserstreik.
Man kann diesen Arbeitern nur aus einem völlig moralisierenden Gesichtswinkel vorwerfen, dass sie ihren Hass gegen die Unternehmer konsequent gegen jene Arbeiterschicht zu wenden begannen, mit der ihr das offenbar so notwendige Bündnis nicht mehr gelang: gegen die Arbeitsemigranten. Diese wurden immer mehr als Hauptfeind betrachtet, weil sie es eben waren, die dort, wo sich die Schweizer weigerten, sich der neuen Art zu arbeiten zu unterwerfen, diese ausführten.
Andererseits wurde die Konkurrenz zwischen Schweizer Arbeitern und Emigranten der älteren Generation nun auch vielfach dort aktuell, wo sie vorher kaum entstanden war, weil die alten Emigranten nun dank der neuen Emigrationswelle vielfach selber die besseren Jobs übernehmen konnten.
Die Reaktion der Gewerkschaften auf die Problematik reichte aber offenbar nicht aus, um die Wut der in die Defensive gedrängten Arbeiter in ihre Kanäle zu lenken. Den Rest der Arbeit übernahm eine 1963 gegründete „Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat“, die den Fremdenhass auf faschistische Bahnen zu lenken trachtete. Aber dem Kapital war die Erfahrung der Kämpfe, die die Schweizer Arbeiter geführt hatten, in die Knochen gefahren: es hütete sich davor, ihren Lohnansprüchen die kalte Schulter zu zeigen.
Die Emigranten
In dieser Zeit hatten sich überall in der Emigration Arbeiterzirkel gebildet, vor allem von PCI-Kadern getragen, die zum Teil mit Erfolg für den Eintritt in die Gewerkschaften plädierten. Es waren das jene Emigranten, vielfach mit guten Qualifikationen, die unterdessen das Niederlassungsrecht erhalten hatten oder als Jahresaufenthalter mit mehrjährigem Arbeitsaufenthalt in der Schweiz mit den Einheimischen auf dem Arbeitsmarkt gleichgestellt waren und Betrieb wie Wohnort jederzeit wechseln konnten. Sie waren durch alle Branchen hindurch tätig und bereiteten den Unternehmern wie den Gewerkschaftsbonzen grosse Sorgen, weil sie natürlich nicht in die Gewerkschaften eingetreten waren, um deren Arbeiterfeindlichkeit und Untätigkeit zu erhalten.
Auf der anderen Seite ist es aber auch wichtig zu sehen, dass der immense Import von neuen Emigranten es dieser Arbeiterschicht der alten Emigration erlaubte, an der Fluktuationsbewegung teilzunehmen und diese dadurch noch verbreitert wurde. Im Jahresbericht 1962 schrieb der Arbeitgeberverband der schweizerischen Maschinen- und Metallindustrie: „Hatten die Ausländer früher ein stabilisierendes Element gebildet, so sind es nun vor allem sie, die sehr leicht und unbekümmert den Arbeitsplatz wechseln, sobald sie mit unseren Verhältnissen irgendwie vertraut sind.“
Und ein Jahr später das gleiche Lied: „Nach Berichten massgebender Firmen war der Stellenwechsel besonders bei den Ausländern lebhaft, ja, manchmal um das mehrfache häufiger als bei den Schweizern, und dies, obwohl er für die kontrollpflichtigen Ausländer bewilligungspflichtig ist. … tatsächlich beanspruchen die Ausländer…in überreichem Masse ein Recht auf Stellenwechsel, oft nur, um die Jagd nach dem höchstmöglichen Lohn bis zum äussersten zu treiben.“ Und Erfolg hatten die Arbeiter zweifellos in einem Ausmasse, der offene Kampfformen vorerst nicht zur ersten Dringlichkeit machte.
Irgendwie mussten die Unternehmer diesen „Wandergesellen“ wieder Meister werden. In der Metall- und Maschinenindustrie versuchten sie es vorerst mit einem internen Abkommen. So verpflichtete der ASM seine Mitgliedsfirmen in einer Erklärung vom 21.März 1962 zu folgendem Verhalten: „Die Firmen stellen keine Arbeiter und Angestellten ein, die innert der letzten zwei Jahre schon dreimal oder noch häufiger den Arbeitsplatz gewechselt haben. Sie verzichten auch auf eine Einstellung, wenn ein Arbeiter oder Angestellter den erst vor kurzem angetretenen bisherigen Arbeitsplatz ohne triftigen Grund aufgeben will oder aufgegeben hat.“
Allein, da die Kapitalisten unter sich natürlich meistens nicht so einig sind, dass irgendwelche „Erklärungen“ für eine gemeinsame Strategie gegen die Arbeiter ausreichen würde, nützte diese Verpflichtung nicht gerade viel. Sie mussten zu härteren Mitteln greifen, um die Arbeiter wieder ausbeutbarer zu machen: sie mussten den Wandergesellen die Arbeitsplätze mit einem Stopp der Fremdarbeiterzufuhr, den der Bundesrat am 1. März 1963 verfügte, verunsichern.
Die Form dieses Fremdarbeiterstopps (betriebsweise Plafonierung) war zweifellos in erster Linie darauf ausgerichtet, die zu grosse und kostspielige Mobilität der Arbeiter wieder in den Griff zu bekommen. Offen verbanden die Kapitalisten mit diesen Beschlüssen „die Hoffnung, dass die Massnahmen zur Beschränkung der ausländischen Arbeitskräfte wenigstens die Fluktuation der Ausländer etwas einzudämmen vermöge.“ Von 1964 auf 1965, als die Beschränkungen nochmals verschärft wurden, wurde die Zahl der kontrollpflichtigen ausländischen Arbeiter denn auch tatsächlich um 45 000 auf 676 000 gesenkt, von 1965 auf 1966 um weitere 30 000. Allerdings nahmen dafür die Niedergelassenen zu.
Durch diese Massnahmen gelang es effektiv, die Fluktuation etwas einzudämmen. 1965 schrieb der ASM: „Eindeutig ist die Beruhigung grösstenteils auf die Dämpfung der Wanderlust der ihrer Stelle nicht mehr so sicheren Ausländer zurückzuführen.“
Zweifellos waren jedoch nicht nur die Fremdarbeitermassnahmen, sondern auch die bereits erwähnte Bupo-Aktion gegen diese alte Emigration gerichtet, um nachhaltig zu verhindern, dass sie eine Vermittlerrolle zwischen den Schweizer Arbeitern und den neu eingeführten Süditalienern und Spaniern übernehmen konnte. Doch damals reichte der Protest in der Schweiz nicht zu mehr als zu verbalen Erklärungen, zum Beispiel in der Hispano-Suiza in Genf und in der kommunistischen Presse. Es würde uns allerdings auch nicht wundern, wenn wir Beweise dafür fänden, dass auch die Gewerkschaften hinter dieser Aktion steckten.
Denn die PCI-Kader, die auf diese Weise vertrieben wurden, waren auch diejenigen, die aktiv für eine Integration der Emigration in die Gewerkschaften eintraten und so der berühmten Wüthrich-Alternative: entweder die gleiche oder gar mehr Arbeitszeit oder noch mehr „Tschinggen“, einige Schwierigkeiten bereiteten. Auch wenn viele dieser Genossen noch voller Gewerkschaftsillusionen waren, so waren ihre Arbeiterkommunikationsstrukturen: die PCI-Arbeiterzirkel, die Colonie Libere oder ähnliche Organisationen, doch noch besser als nichts.
Natürlich verschwanden diese Organisationen nicht, doch in ihrem Kampf gegen eine arbeiterfeindliche Gewerkschaft wurden sie zumindest ein grosses Stück zurückgeworfen. Wichtiger ist jedoch, dass sich danach die Notwendigkeit einer autonomen Arbeiterorganisation jenseits der reformistischen Perspektive viel dringlicher und unmittelbarer, wenn auch nicht leichter lösbar, darstellte.
Doch an der Lösung dieses Problems begannen eben jene Emigranten zu arbeiten, die erst kurze Zeit in der Schweiz ihr Geld verdienten und die durch die defensiven Einheimischen und die Repression gegen die alte Emigration völlig in die Isolierung gedrängt worden waren.
Dieser Arbeitertyp hatte von Vornherein kein Interesse mehr an den Gewerkschaften und leistete einen beträchtlichen Beitrag an die sich entwickelnde Krise der Gewerkschaft: an den sich beschleunigenden Mitgliederschwund.
Mit diesen Arbeitern begann auf neue Weise ein Typ von kurzem und von der Gewerkschaft nicht mehr kontrolliertem Streik aktuell zu werden, der Ende der 60er Jahre zu einem zentralen Moment des Arbeiterkampfs werden sollte. Damit meinen wir zum Beispiel den vierstündigen „Bettstreik“ von 50 ausländischen Bauarbeitern im November 64 in Genf. Oder den zweistündigen Streik auf einer Baustelle in Cressier ein Jahr später.
Wir sind überzeugt, dass wir damit nur einige wenige Beispiele einer viel grösseren Wirklichkeit des Kurzstreiks aufgezählt haben. Doch einmal mehr wird darüber weder bei den Unternehmern noch bei den Gewerkschaften viel geschrieben, da sie natürlich auch wissen, dass das Totschweigen der kämpferischen Seite des Arbeiterdaseins eine in gewissen Zeiten nicht unwirksame Kampfform ist.
Ebenso verhinderte aber auch die Polizei die Entfaltung dieser autonomen Kämpfe und ihre Verarbeitung durch die Arbeiter. Als im Juni 1966 56 italienische Arbeiter auf der Baustelle des Atomkraftwerkes in Beznau zu streiken begannen, konnten sie von der Presse, von der Polizei, vom kantonalen Arbeitsamt und von der Gewerkschaft ungehindert bekämpft werden. Niemand zeigte sich an ihren Bedürfnissen interessiert. Diese Bauarbeiter begannen zu streiken, weil eine Lohnerhöhung individuell aufgeteilt wurde. Einige bekamen sogar weniger.
Die Organisatoren dieser Arbeitsverweigerung waren mobile Genossen, die der Fremdenpolizei schon von einem ähnlichen Kampf in Filisur bekannt waren. Doch kaum begann der Streik, kam die Kantonspolizei und nahm allen, die nicht arbeiten wollten, ungehindert die Pässe ab. 20 Arbeiter begannen daraufhin wieder zu arbeiten. Das ebenfalls angekommene Arbeitsamt hatte einen klaren Standpunkt: „Wer von den Italienern die Arbeit aufnehmen will, soll sie; wer nicht will, soll heimreisen. Über die Rädelsführer soll die Landesverweisung verhängt werden.“ Diesem geballten Zusammenspiel von Staat und Unternehmern konnten die Arbeiter nichts entgegenstellen.
Die mobilen Wanderagitatoren zogen die sofortige Ausreise aus der Schweiz vor, weil sie sowieso wussten, dass sie ausgewiesen würden. Dieser Streik ist ein Fall, bei dem die fremdenpolizeiliche Unterdrückung des Arbeiterkampfs voll funktionierte. Es ist ein Fall unter vielen. Die Bauarbeitergewerkschaft bemerkte nur, dass die Arbeiter nicht gewerkschaftlich organisiert gewesen seien und dass das Einziehen der Pässe „in solchen Fällen“, zu denen sie des Öfteren gerufen werde, unüblich sei. Wie dem auch sei: nach den Gewerkschaften hätten die Arbeiter „die Sache“ nur nicht richtig verstanden; das übliche Argument gegen fremdländische Barbaren.
Der Einschnitt ’66’67
Trotz allem Gewicht der vielfältigen Unternehmertaktik gegen die Aufsässigkeit und die Bedürfnisartikulation der Arbeiter erreichten sie zwischen 1959 und 1966 eine Reallohnsteigerung von 30%. Im Gegensatz dazu betrug diese in den 50er Jahren nur 12%. Die Kapitalisten kam es teuer zu stehen, dass sie sich sozusagen mit den Schweizer Facharbeitern verbünden mussten, um die Emigranten zu isolieren, also genau mit jenen Arbeitern, gegen die sie eigentlich hatten vorgehen wollen. Ebenso war ihnen die Mobilität der alten Emigration ans Portemonnaie gegangen.
Es kann uns deshalb nicht verwundern, dass die Kapitalisten Mitte der 60er Jahren in schrilleren Tönen über die „Lohnkostenexplosion“ zu jammern begannen. Und dies einmal mehr nicht nur in der Schweiz. Überall führten die Arbeiter den gleichen Kampf, in der BRD und anderswo. Es kam auch nicht von ungefähr, dass in diesen Jahren in den meisten europäischen Ländern versucht wurde, über staatliche Lohnfestsetzungen und Einkommenspolitik die Lohnbewegung wieder in den Griff zu bekommen. Mit wenig Erfolg!
Wir haben schon gesehen, wie der schweizerische Staat mit der Blockierung des Flusses der Emigration den Lohndruck einzudämmen versuchte. Dies war mit weiteren Massnahmen verbunden, die ebenfalls die wirtschaftliche Expansion unterbrechen sollten. Sie sollten es den Kapitalisten besser ermöglichen, aus der verzwackten Situation des blockierten Restrukturierungsprojektes herauszukommen.
Die Krediteinschränkungen wirkten sich zum Beispiel auf die Betriebsstruktur aus: es begann die vielbeachtete Betriebskonzentration. So wurden zwischen 1966 und 1972 4 000 Betriebe geschlossen. Durch diese Betriebsschliessungen, aber auch die vielen berühmten Fusionen dieser Jahre nach 1966 wurden die Betriebsgrössen besser den Notwendigkeiten der Reorganisierung der Ausbeutung angepasst.
Dieser erneute Anlauf, die Reorganisation der Ausbeutung gegen die Arbeiter durchzusetzen, wurde wirklich aktuell durch den Produktionsstopp von 1966/67, fast gleichzeitig wie auf internationaler Ebene. (In der BRD schoben die Unternehmer damals mehr als eine Million Ausländer ab!)
In der Schweiz schufen die Unternehmer 1966/67 zwar keine Arbeitslosigkeit, aber sie benützten den leichten Produktionsrückgang, um die Betriebe von den aufsässigsten Elementen zu reinigen. Wir fragen uns, inwieweit in der Schweiz diese Kurzkrise nicht auch eine Antwort auf die Passivität der Arbeiter nach der Niederlage der Handwerker 1963 war, die auf ihre Art die Fortsetzung des Reorganisierungsprojektes verhindert hatte.
An der Druckindustrie können wir sehen, wie die Unternehmer um diese Zeit einen neuen Anlauf gegen die Facharbeiter nahmen, indem neue Produktionsverfahren eingeführt wurden. Gegen den mit dieser Zerstörung der Berufsarbeit verbundenen Angriff auf den Lohn wollten sich die Typographen damit wehren, dass sie folgenden (von der „Nationalzeitung“ so umschriebenen) Artikel im Gesamtarbeitsvertrag noch verschärfen wollten: „In allen Sparten des Buchdruckergewerbes dürfen nach wie vor die Berufsarbeiten nur durch gelernte Arbeitnehmer (Typographen) verrichtet werden. Ein Hilfsarbeiter mag noch so tüchtig sein, was er im Betrieb in die Finger nehmen darf, ist genauestens vorgeschrieben.“ (Nationalzeitung Nr.267, 13.6.67)
Doch der Typographenbund musste klein beigeben und die Neuorganisation der Produktion durch ein vom Unternehmerverband vorgeschlagenes ‚Statut für Angelernte‘ auch vertraglich zugestehen.
In der gleichen Zeit ging der Angriff auf die Berufsarbeiter aber auch in den anderen Hochburgen der qualifizierten Arbeiter (Maschinen, Uhren usw.) weiter. So machte der Verband der Maschinenindustriellen denn auch die ersten Vorstösse für eine Reorganisation der Berufsausbildung. Er schlug die Einführung der Kurz- bzw. Stufenlehre vor, die anschliessend immer mehr verwirklicht wurde. Damit sollte die Ausbildung der Arbeitskräfte der neuen Produktionsstruktur angepasst werden, die immer mehr einen mobilen und überall einsetzbaren Arbeiter erforderte. Ähnliche Beruf Ausbildungsmodelle wurden auch in anderen Branchen entwickelt.
Diese sich durchsetzende Reorganisation der Arbeit und des Arbeitsmarktes machte bereits einen bedeutenden Teil der Arbeiter in den Betrieben der Maschinen- Uhren- und Druckindustrie den Arbeitern der Textil-, Bekleidungs-, Nahrungsmittel- und Aluminiumindustrie immer ähnlicher, aber auch den ungelernten Arbeitern auf den Bauplätzen. Diese un- und angelernten Arbeitskräfte waren weiterhin zum überwältigenden Teil Arbeitsemigranten. Bereits 1967 war jeder dritte Industriearbeiter in der Schweiz Ausländer!
Die Betriebe mit den grössten Anteilen von an- und ungelernten Arbeitern blieben jedoch weiterhin in den Regionen aufgesplittert (Typisch vor allem für die Textil-, Bekleidungs-, Nahrungsmittel- und Aluminiumindustrie), so dass alle Versuche, die Vermassung verschissenster Arbeit in offenere Kämpfe umzusetzen, weitgehend isoliert blieben. Wir werden diesen Mechanismus nachher am Beispiel des Tessins genauer sehen. In den grossen Fabriken wie der BBC, Sulzer, Escher-Wyss usw. blieb die Zusammensetzung der Belegschaften vorerst noch durch die Berufsarbeiter bestimmt.
Das drückte sich nicht zuletzt darin aus, dass z.B. die BBC noch 1970 kaum spanische Arbeiter angestellt hatte.
Natürlich gab es noch viele andere Mittel, um die Arbeiterkämpfe zu kontrollieren, wie z.B. Lohnsysteme, Aufsplitterung in den Abteilungen usw.
Auf der einen Seite würde es zu weit führen, genauer auf diese Mechanismen einzugehen, auf der anderen Seite liegt hier noch eine grosse Forschungsarbeit offen.
Der Durchbruch der Emigranten
Wir wissen heute, dass der gewerkschaftliche „Arbeitsfrieden“ in der ganzen Nachkriegsgeschichte nie absolut gewesen ist. Die „andere“ Arbeiterbewegung war immer präsent. Sie artikulierte sich allerdings in Formen, die von der offiziellen Linken, aber auch von der sich seit 1968 im Zuge der Kämpfe der Jungarbeiter, Lehrlinge, Schüler und Studenten entwickelnden „Neuen Linken“ totgeschwiegen oder ignoriert wurden. Die Arbeiter mussten ihren tagtäglichen Kleinkrieg mit den Unternehmern vorerst viel offener und breiter führen, bis sie wieder als treibendes Subjekt der kapitalistischen Gesellschaft anerkannt wurden.
Und wieder haben wir es dabei mit einem internationalen Prozess zu tun, der z.B. im französischen Mai, im heissen Herbst in Italien, in den deutschen Septemberstreiks 1969 seinen Ausdruck fand. Für die Arbeiterkämpfe dieser Jahre war zweifellos auch die erwähnte Bewegung der „neuen Linken“ wichtig, und es dürfte sich lohnen, einmal die Geschichte dieser Bewegung in diesem Rahmen aufzuarbeiten.
Klassenkampf auf Italienisch
Nachdem in den frühen sechziger Jahren die ausländischen Arbeiter langsam begannen, für das Kapital ein Risikofaktor zu werden, wurde die Immigration 1964 staatlich gestoppt. Nach 1968 wurden die Schleusen für eine nächste Einwanderungswelle geöffnet. Während aber nach 1958 die Italiener das entscheidende Moment waren, waren es jetzt die spanischen Saisonniers. In der deutschen Schweiz wurde dadurch eine Verbindung des Kampfpotentials der zwei Einwanderungswellen massiv erschwert.
Dies gilt nicht für den Tessin, wo weiterhin vor allem Italiener einwanderten, und für die Welschschweiz, wo schon vor ’64 die Spanier einen wesentlichen Teil der Emigration ausmachten. Vielleicht Ist das auch der Grund dafür, dass die Kämpfe zuerst im Tessin und dann vor allem in Genf einen Höhepunkt erreichen, um mit der Pensionskassenbewegung im Raume Zürich einen neuen Schwerpunkt zu finden.
Der Streik der 70 italienischen Grenzgänger in der Flaschenfabrik Mignons in Chiasso im Januar/Februar 1967 für den Abschluss eines Kollektivvertrages war vielleicht tatsächlich noch eine Ausnahme, wo sich die Arbeiter gegen die brutale Ausbeutung ihrer schwachen Situation auf dem Grenzgängermarkt wehrten.
Der Unternehmer konnte nämlich – wie später andere nach ihm – damit drohen, dass er die ganze Belegschaft entlassen werde. Aber nur mit Mühe konnte die Gewerkschaft der Bekleidungsarbeiter ein Jahr später einen Streik verhindern. Und die Krise dieser Gewerkschaft ist durchaus exemplarisch: von rund 40 000 Arbeitern der Bekleidungsindustrie – wovon 80% Frauen und mehr als die Hälfte Ausländer – waren nur etwa 2 500 oder lediglich 5% bis 6% gewerkschaftlich organisiert. Wir erwähnen sie, weil sie im Tessin besonders ausgeprägt war.
Trotzdem waren es vorerst nicht die Bekleidungsarbeiter, sondern die 70 Arbeiter der Kugelschreiberfabrik „Penrex“ im Menrisiotto, die im Juli 1968 zur Streikwaffe griffen, um drei Wochen Ferien durchzusetzen. Mit Streikposten verhinderten sie den Abtransport fertiger Produkte. Gleichzeitig streikten auch die Arbeiter der Malisa gegen den Akkord. In beiden Fällen standen die Grenzgänger an vorderster Front. (Bei der Penrex waren nur 20% Schweizer beschäftigt) Schliesslich besetzten die Penrex-Arbeiter die Fabrik und bewachten sie rund um die Uhr mit Streikposten. Nach einem Monat Streik wurden die Arbeiterforderungen erfüllt.
Im April ein Jahr darauf streikten wiederum 25 Arbeitsemigranten einer Kugelschreiberfabrik, diesmal in Caslano, für eine Lohnerhöhung. Alle diese Streiks entwickelten sich im Mendrisiotto, dem untersten Teil des Tessins, wo fast nur Grenzgänger arbeiten. Es waren also die italienischen Grenzgänger, die eine neue Kampfwelle ankündigten, die sich später auch in anderen Regionen der Schweiz fortsetzen und die politische Landschaft gründlich verändern sollte.
Zum ersten Mal war es einer Schicht von Arbeiter nach Jahren wieder gelungen, ihre Ausbeutungssituation offen anzugreifen und sich nicht mehr durch die Anwesenheit der Bundespolizei von den Kämpfen abhalten zu lassen. Trotzdem blieb das grosse Problem dieser Kämpfe ihre Isolation, die durch die Übermacht der Unternehmer in diesem Gebiet verstärkt wurde.
Im Mai 1970 verweigerten die 150 Arbeiter (wiederum vor allem Grenzgänger) der Schuhfabrik SAVOY in STABIO (Tessin), eine Tochterfabrik der Bally, während drei Wochen die Arbeit. Sie verlangten unter anderem einen garantierten Mindestlohn und die Abschaffung des Akkordlohns. Die Arbeiter wählten eine autonome Streikleitung. Dem Streik waren kleinere spontane Aktionen wie Überstundenverweigerung und kleine Arbeitsniederlegungen während der letzten zwei Jahre vorausgegangen. Doch weil der Streik isoliert blieb, konnte die vereinigte Front von Unternehmern und Gewerkschaft den Kampf zerschlagen: 60 Arbeiter (fast die Hälfte) wurden entlassen.
Die anderen erhielten lächerliche 5% mehr Lohn. Trotzdem hatte dieser Streik grosse Bedeutung und ausserdem: wie immer, eine verlorene Schlacht ist noch kein verlorener Krieg. Die grosse Bedeutung des Streiks lag in der völligen Ablehnung jeglicher gewerkschaftlichen Logik durch die Arbeiter. Sie haben jede Vertragspolitik abgelehnt und die gewerkschaftliche Betriebskommission nicht anerkannt. Dieses Niveau der Arbeiterautonomie (auch durch die Forderungen gegen die Arbeitsorganisation charakterisiert) zerschlug den gewerkschaftlichen Arbeitsfrieden. Gleichzeitig konnte es aber von den Arbeitern noch nicht wirklich getragen werden.
Gleichzeitig führten die italienischen Arbeiter des Stahlwerkes MONTEFORNO in BODIO (ebenfalls Tessin) einen kurzen Streik. Dort hatten die Giessereiarbeiter die Forderung nach einem Franken mehr Lohn für alle verbreitet. Gegen den gewerkschaftlichen Vorschlag einer einmaligen Prämie opponierten die Giessereiarbeiter und verliessen geschlossen die Betriebsversammlung, um eine eigene Arbeiterkommission zu wählen. Sie gingen den ganzen Nachmittag nicht mehr zur Arbeit zurück, konnten ihren Kampf jedoch nicht weiterführen.
Im August 1968 streikten auch noch Arbeiter des Aluminiumwerkes Martigny gegen gesundheitsschädliche Arbeiten. Welcher Typ von Arbeiter das war, wissen wir zur Genüge vom Kampf der Oberwalliser Aluminiumarbeiter 14 Jahre früher.
Die Spanier kommen
Kaum einen Monat in der Schweiz streikten im April 1970 in Genf 200 spanische Bauarbeiter der Firma MURER vier Tage lang erfolgreich für Lohnerhöhungen. Während in der Stadt 4.000 Arbeiter und Jugendliche Solidarität demonstrierten, wurden die Forderungen erfüllt. Die Leitung des Kampfes lag in den Händen eines von den Arbeitern gewählten Streikkomitees. Die Gewerkschaft konnte nur arbeiterfeindliche Parolen verbreiten.
Seit diesem Streik konnte kein Linker mehr am Arbeiterkampf vorbeisehen. Er eröffnete eine Welle von Streiks, die von den Saisonniers, den Grenzgängern und später auch von den übrigen Emigranten getragen werden und seinen vorläufigen Höhepunkt in den Genfer Metallstreiks finden sollte.
Im Juni 1970 wurde eine Baufirma in Stansstaad von 40 spanischen Fremdarbeitern lahmgelegt. Der Kampf endete mit einer Niederlage. Die Streikenden wurden von der Fremdenpolizei an die Grenze gestellt.
Im Jahre 1971 dauerten die Kämpfe der spanischen Bauarbeiter fort. Wiederum standen Forderungen für mehr Lohn und bessere Wohnverhältnisse im Vordergrund. Am 27.April begannen 50 Arbeiter der Baufirma VAUCHER ET REY in Genf einen Streik mit der Forderung nach Bezahlung des Transportweges von den Barracken zur Baustelle. Der Kampf weitete sich schnell auf die ganze Baufirma aus. Nach kurzer Zeit standen mehr als 350 Arbeiter im Ausstand. Sie forderten ausserdem, dass der durchschnittliche Lohn zum Minimallohn für alle werde und dass die Streikstunden bezahlt würden.
Die Streikenden gingen nicht auf die der Gewerkschaft vom Unternehmer schell zugesagten lächerlichen Kompromissvorschläge ein und führten den Ausstand autonom weiter. Die Streikfront begann abzubröckeln, als einige gewählte Mitglieder des autonomen Streikkomitees vor dem Streikende enttäuscht nach Spanien zurückkehrten. (Bei diesem Manöver hatten auch Faschisten der spanischen Botschaft die Hand im Spiel, die diese Rückreise finanzierten.) Am 4.Mai begannen 50 Saisonniers der Baufirma ZSCHOKKE mit einem Solidaritätsstreik. Sie stellten ähnliche Forderungen auf.
Obwohl der Kampf mit einer Niederlage endete, nachdem der Unternehmer mit der Ausweisung drohte und insgesamt 80 Spanier die Schweiz wieder „freiwillig “ verliessen, ist seine politische Bedeutung gross: die Bauarbeiter griffen in einem ersten Schritt das Saisonniersstatut als Bedingung grosser Überausbeutung an. Dieser Angriff gegen die Gesamtheit der Ausbeutung (Wohnen und Arbeit) ist sicher nicht bloss wegen der Wegreise einiger Arbeiter zusammengebrochen, sondern vor allem auch, weil seine autonome Ausweitung auf andere Baustellen nicht ausreichend funktionierte.
Wieso gab es keine riesige Solidaritätsdemonstration mehr wie ein Jahr früher beim Murer-Streik? So konnte der Verband der Bauunternehmer zum Abschluss ein Communiqué herausgeben, in dem er den ins künftigen Gebrauch der Polizei gegen diese „Analphaten“ ankündigte.
Aber wir haben vorgegriffen. Noch vor dem Kampf bei Vaucher et Rey sollte sich die spanische Emigration noch ganz anders bemerkbar machen, auf der Strasse und in der Fabrik.
Im Dezember 1970 organisierten spanische Organisationen (PCE u.a.) eine nationale Protestdemonstration in Bern im Zusammenhang mit den Prozessen gegen baskische Separatisten in Burgos. Es erschienen rund 1.000 Leute, vorwiegend Spanier sowie einige Grüppchen von Genossen aus der neuen Linken. Während sich der Demonstrationszug in Bewegung setzte, wurde von einem Kommando das spanische Arbeitsamt besetzt.
Die Polizei traf erst kurz vor dem Demonstrationszug vor dem Arbeitsamt ein, wo sie sich im Garten in gewohnter voller Ausrüstung aufstellte.
Bei Zusammenstössen mit der Polizei setzte diese ihre Wasserwerfer auf kürzeste Distanz ein, doch schliesslich musste sie die Besetzer des Arbeitsamtes abziehen lassen. Bei der spanischen Botschaft stiess der Zug an die Abschrankung der Polizei. Einzelne Demonstranten bewarfen sie mit Knallfröschen u.ä.. Die Polizei setzte ihr ureigenstes Schweizerprodukt: die Wasser/Tränengasmischung ein. Die Demonstranten wichen zurück und antworteten mit Steinen, die, wo nötig, mit Pickel und Schaufel beschafft wurden. Die Demonstrationsleitung versuchte vergebens zu bremsen. Doch sie verlor die Kontrolle völlig. – Unterdessen hatte das Radio die Kämpfe gemeldet.
Die Zahl der Demonstranten wuchs dauernd an. Nach zwei Stunden ging, auf Grund eines Gerüchtes, eine Frau sei verhaftet worden, eine Verhandlungsdelegation von Frauen an die Abschrankung. Das Gerücht wurde zwar widerlegt, doch die Demonstranten verhandelten um ein Abkommen, nach dem die Polizei keine Wasserwerfer und die Demonstranten keine Steine mehr einsetzen würden. In einem Triumphzug zogen rund 4 000 Genossen durch die Stadt.
Die Genfer Metallindustrie steht still
Drei Monate *später, am 26.Februar ’71, traten 160 Arbeiter, etwa drei Viertel spanische Arbeitsemigranten, der Firma VERNTISSA in Genf (ein paar Monate früher von der Sulzer in Winterthur aufgekauft) in den Streik. Sie forderten eine zehnprozentige Lohnerhöhung für alle, weil der SMUV mit der Direktion ausgehandelt hatte, dass drei Prozent der Lohnerhöhung individuell je nach Arbeitsleistung ausbezahlt werden sollten.
Bei Beginn der Arbeitsniederlegung versuchten SMUV und Betriebskommission die Streikenden zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen. Sie wurden von den Arbeitern ausgepfiffen. Die Arbeiter wählten ein autonomes und multinationales Streikkomitee (vor allem Mitglieder der revisionistischen Parteien).
In Genf hatte sich offensichtlich ein eigentlich spanisches Milieu herausgearbeitet, das nicht zuletzt durch die Erfahrungen mit der spanischen Staatsgewerkschaft geprägt war.
Sprengkraft erhielt es, weil es im Gegensatz zur Region Zürich bis in die Metall- und Maschinenindustrie hineinreichte. Bei der Vorbereitung der Kämpfe hatten allerdings auch autonome Basisgruppen mitgewirkt.
Ausser der Lohnerhöhung forderten die Arbeiter, dass der Monatslohn nach Eintritt in die Firma (anstatt erst nach fünf Jahren) vergeben werden, dass sie Einsicht in die Berechnung der Lohnsätze erhielten und dass die Streikstunden bezahlt würden.
Am Nachmittag des 2.März beschlossen die Arbeiter der HISPANO-OERLIKON (seit einigen Monaten ein Bührle-Betrieb) aus Solidarität mit den Verntissa-Arbeitern in den Streik zu treten. 200 der 300 Arbeiter folgten dem Streikaufruf. Sie stellten ähnliche Forderungen wie die Verntissa-Arbeiter. Währenddessen wurde der Verlauf und die weitere Ausweitung des Kampfs in einer autonomen Versammlung der Genfer Metallbetriebe diskutiert.
Einen Tag darauf traten auch die 500 Arbeiter der ATELIERS DES CHARMILLES in den Ausstand. Insgesamt wurden damit fünf Werke bestreikt. Die Gewerkschaft stellte sich offen gegen den Kampf, weil er den Arbeitsfrieden bedrohe.
Am 5.März gelang es den Revisionisten, den Streik bei Charmilles zu brechen, als ein Mitglied des Streikkomitees persönlich einen Vertrag für 9,5% anstatt für die geforderten 10% Lohnerhöhung unterschrieb. Eine Mehrheit der Arbeiter begann wieder zu arbeiten“. Für das Abbröckeln der Streikfront aber war entscheidend, dass es der Betriebskommission eines weiteren wichtigen Betriebes, der Secheron, gelang, einen Solidaritätsstreik der 1400 Arbeiter zu verhindern, weil sie Forderungen streiklos aushandelte. Nach einer Woche entschlossen sich auch die Arbeiter der Verntissa und der Hispano-Oerlikon, sich mit den 9,5% zufrieden zu geben.
Die Kämpfe bei Savoy, Murer, Vaucher et Rey und in der Genfer Metallindustrie waren eindeutige politische Manifestationen der Arbeiterautonomie gegen Unternehmer und Gewerkschaft. Aber sie fanden sich immer einem Unternehmer gegenüber, der die Regionen Tessin und Genf zwar gut und gerne für eine grosse Ausbeutung benutzte, aber die Drohung, seine Fabriken zu schliessen und woanders wieder aufzustellen, wo sich die Arbeiter lieber ausbeuten liessen, auch wahr zu machen bereit war.
Diesem Risiko des Arbeiterkampfs war nur die sofortige Ausweitung des Kampfs gewachsen. Dieses Risiko besteht in Regionen wie Zürich weniger und es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass die Unternehmer dort sorgfältiger dafür besorgt sind, dass die Arbeiter sich nicht zu schnell vereinigen können und die Spaltung viel systematischer betreiben.
Eine weitere Schwierigkeit dieser Kämpfe war die Präsenz der Revisionisten in den autonomen Streikleitungen, deren Interessen nicht die Radikalisierung der Auseinandersetzung war, sondern der Gebrauch der Kämpfe für den Aufbau einer neuen, radikaleren Gewerkschaft. Ihr Einfluss war dort am grössten, wo auch die Professionalität der Arbeit noch am stärksten war (Genfer Metallindustrie) und wo die Zielsetzungen deshalb auch nicht mit der gleichen Radikalität gegen die Arbeitsorganisation gerichtet waren, wie z.B. bei den Massenarbeitern des Bally-Betriebes in Stabio.
Die Bewegung verästelt sich
Im März des gleichen Jahres organisierten vor allem spanische und italienische Arbeiter in den drei Werken der PAILLARD in der Waadt (Yverdon, Orbe, Ste.Croix) rotierende Streiks, weil die Direktion sich weigerte, bisher übliche Gratifikationen in der Höhe von 100-300 Franken auszuzahlen. Ausserdem forderten die Arbeiter eine zehnprozentige Lohnerhöhung, die sofortige Einführung des Monatslohns und den Verzicht auf jegliche Repressionen. Auf der Basis dieser Forderungen wurde an einer Versammlung von 700 Paillard-Arbeitern ein 21-köpfiges Streikkomitee gewählt.
An einer nachfolgenden Gewerkschaftsversammlung, an der sich auch die an sich nicht eingeladenen Nichtgewerkschaftsmitglieder Zugang verschafften, wurden die Lohnforderungen noch verbessert. Dann wurde der Kampf jedoch an eine Gewerkschaftskommission delegiert und die radikaleren Revisionisten, die vorher die Leitung der Auseinandersetzung innegehabt hatten, wurden ausser Spiel gesetzt. Ein durch die Gewerkschaft angerufenes Schiedsgericht entschied schliesslich, dass etwa die Hälfte der Forderungen erfüllt wurden.
Im Juni kam es im Stahlwerk MONTEFORNO in BODIO zum zweiten wilden Streik, um eine generelle Lohnerhöhung von 70 Rappen und eine Revision der Akkordarbeit durchzusetzen. Nachdem die Gewerkschaft als Sprachrohr der Unternehmer mit Entlassungen drohte, nahmen die Arbeiter am zweiten Streiktag den Vorschlag der Direktion an, der ihnen 40 Rappen Stundenlohnerhöhung und eine Ferienprämie von 150 Franken einbrachte. Zwei nachträglich versuchte Entlassungen konnten mit einer Streikdrohung verhindert werden.
Alle diese Kämpfe waren nur die deutlicher erkennbaren Ausdrücke einer Bewegung der Arbeiter viel breiteren Ausmasses. Im Übrigen ist auch klar, dass die beschriebenen Aktionen bei weitem nicht alle Produktionsstopps durch die Arbeiter umfasst. Hier noch einige weitere Beispiele aus den drei Monaten Juni, Juli und August 1971: ein Kurzstreik in der Mineralwasserfabrik Arkina in Yverdon für die Respektierung der Koalitionsfreiheit und für eine Lohnerhöhung von 30 bis 40 Rappen pro Stunde.
Die Arbeiter siegten. In der Hemdenfabrik Feldmann in Biasca legten 115 Arbeiterinnen zweimal für mehrere Stunden die Arbeit nieder. Sie verlangten die Aufhebung der Akkordarbeit und einen garantierten Grundlohn von fünf Franken für alle. Beim „Journal de Geneve“ streikten 20 Typographen während einer Stunde für die Erhöhung des Tarifs im Gesamtarbeitsvertrag um 20%. Mit Erfolg. In der Bagnoud in Vernier führten 100 Spanier einen Kurzstreik durch, weil die Firma ihre Kassenbeiträge für diverse Sozialleistungen nicht rechtzeitig bezahlt hatte. Nach drei Stunden waren die Beiträge bezahlt und der Streik beendet. In einem Gleisbau-Kleinunternehmen in Mettmenstetten trat die Belegschaft von 12 Spaniern in den Streik, um einen 20 Rappen höheren Stundenlohn zu erzwingen. Die Erhöhung wurde ihnen nach einem Tag zugestanden.
Repression
Seit September 1971 hatte die Direktion der BOBST in PRILLY bei Lausanne im Verlaufe eines Umstrukturierungsplans rund 70 Arbeiter auf die Strasse geschmissen. Gegen Ende Oktober fanden sich 14 der Entlassenen vor den Fabriktoren ein, um die auch innerhalb der Fabrik erhobenen Forderungen zu unterstützen: 1) Auskunft über die Gründe der Entlassungen, 2) Abgangsentschädigungen von einem Monatslohn pro Arbeitsjahr, 3) das Recht, schon am ersten Tag der Kündigung eine neue Stelle suchen zu können, 4) für die Entlassenen die volle Rückzahlung der Pensionskassenbeiträge.
Nach einem Gewalteinsatz von Vorarbeitern gegen flugblattverteilende Genossen und nachdem die Direktion die vor der Fabrik demonstrierenden Arbeiter mit Hydranten abspritzen liess, begannen 400 der 2 000 Bobst-Arbeiter mit einem dreiviertelstündigen Streik, der jedoch zusammenbrach, als er nicht auf die ganze Fabrik ausgeweitet werden konnte. Damit hatte der Unternehmer die Möglichkeit, weitere aufsässige Arbeiter auf die Strasse zu stellen (rund 50). Die Arbeiter waren in dieser Situation gezwungen, ein neues Pensionskassenreglement zu akzeptieren, gegen das sie vorher opponiert hatten.
Der SMUV spielte wie üblich eine üble Rolle, indem er die ganze Sache einem Schiedsgericht übergab und sie nachher sogar wieder zurückzog. Damit war an einem entscheidenden Punkt der Arbeiterwiderstand gegen die Neuorganisation der Produktion besiegt worden. Wie wichtig dieser Fall den Unternehmern war, zeigte sich auch daran, dass die Entlassungen und die unternehmerische Kampfführung in direkter Absprache mit dem Verband der Metall-und Maschinenindustriellen durchgeführt wurden.
Unternehmer und Gewerkschaften waren offensichtlich entschlossen, der Bewegung die Spitze zu brechen. Für längere Zeit hörte man denn auch nicht mehr viel von offenen Kämpfen in der Westschweiz. Nur am 2.Juni 1972 streikten 100 Arbeiter der Hispano-Bührle in Genf eine Stunde für eine einheitliche Lohnerhöhung von 50 Rappen. Sie opponierten damit gegen individuelle Lohnanpassungen.
Die Arbeiterinitiative im Tessin wurde in einem weiteren Streik bei Monteforno zusammengestaucht: im Mai 1972 provozierte der Unternehmer mit der Entlassung von drei Arbeitern, darunter den Vizepräsidenten einer neu gewählten Betriebskommission, einen Ausstand. Während des Streiks wurden zwei weitere Arbeiter auf die Strasse geworfen. Der -Unternehmer hatte vorübergehend gesiegt: nur ein einziger der Entlassenen wurde wieder eingestellt.
„Alles Geld zurück, sofort“
Aber seit Ende ’71 machte den Unternehmern eine andere Bewegung zu schaffen, die eine breite Massenbasis in der ganzen Schweiz entwickelte und in diesem Sinne tatsächlich einen qualitativen Sprung in der Arbeiteraufsässigkeit darstellte. Wir meinen die Bewegung gegen die betrieblichen Pensionskassen. Diese Bewegung ist allerdings auch ein Lehrstück über die Operationen des Arbeiterreformismus.
Die betrieblichen Pensionskassen waren für viele Unternehmer seit langem gute private Kreditanstalten, mit denen sie aus Arbeitergeldern z.B. Werkswohnungen finanzierten, aber häufig auch direkt in den Betrieb investierten. Als die PdA mit einer Volksinitiative vorschlug, die betrieblichen Pensionskassen mit der staatlichen Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) zusammenzulegen und die „Volkspension“ zu schaffen, ergriffen die Unternehmer die Gelegenheit begierig, aber nicht um die PdA zu unterstützen, sondern um einen Gegenvorschlag auszuarbeiten, nach dem die betrieblichen Pensionskassen obligatorisch erklärt werden sollten.
Damit zielten sie im Wesentlichen auf eine Möglichkeit ab, den Arbeitern durch eine institutionelle Massnahme (wie etwa die Steuern) die Löhne zu kürzen und diese zurückbehaltenen Gelder für ihre Produktionsziele zu verwenden.
Doch unterdessen begannen sich die Arbeiter auf ihre Weise mit den Pensionskassen zu beschäftigen: mit dem Schlachtruf: „Alles Geld zurück – aber sofort“ kündigten gegen Ende 1971 und bis in den Dezember 1972 hinein Zehntausende von Arbeitern, um die Gelder, die sie bereits in die verschiedenen Kassen einbezahlt hatten, zurückzuerhalten.
Manchmal schon am nächsten Tag oder eben halt nach einer geruhsamen Pause traten sie ihre alte Stelle wieder an. Häufig organisierten sich die Arbeiter, um die Kündigung kollektiv zu machen und damit eine manchmal gefährdete Wiedereinstellung zu erzwingen.
Die bevorstehenden Änderungen der Altersvorsorge verursachten in vielen Betrieben auch grössere Arbeiteraktionen: bei der Georg Fischer in Schaffhausen z.B. legten 200 Arbeiter für kurze Zeit die Arbeit nieder, gingen geschlossen aufs Büro und verlangten klare Auskunft. In der Micafil in Zürich streikten die Arbeiter für kurze Zeit, in der BBC-Oerlikon (MFO) wählte eine Arbeiterversammlung mit rund 500 Teilnehmern ein Aktionskomitee, das sich um die Angelegenheit kümmern sollte.
In der Escher-Wyss in Zürich stimmten die Arbeiter mit grossem Mehr gegen die Umwandlung der bestehenden Sparversicherung in eine Pensionskasse. Diese Abstimmung machte den Unternehmern offensichtlich grosse Angst. Bei der Wagon Schlieren in Zürich zogen 150 Arbeiter mit einer Petition gegen die Pensionskasse mit einem Demonstrationszug durch die Fabrik aufs Direktionsbüro.
Überall in der Schweiz kam es zu ähnlichen Vorfällen. So z.B. in der Hasler in Bern. Bei vielen Betrieben wurden autonome Arbeiterversammlungen ausserhalb der Fabrik mit grosser Beteiligung abgehalten. Dabei spielten auch verschiedentlich die linken Gruppen, die aus der Jugendbewegung entstanden, eine treibende Rolle. Jene Arbeiterversammlungen konnten jedoch zumeist bloss für die Diskussion gebraucht werden – was sicher wichtig war – das überall vorhandene Bedürfnis nach effektiveren Kampfformen jedoch nicht befriedigen konnte.
Doch auch die Revisionisten mussten sich zu bewegen beginnen. Die Italienerorganisation Colonie Libere und die Spanierorganisation ATEES starteten im August 1972 eine Petition, um die „Volkspension“ der PdA zu unterstützen. Innert kurzer Zeit sammelten sie über 50 000 Unterschriften. Trotzdem hatten sie grosse Mühe, den Arbeitern plausibel zu machen, weshalb sie mit den Scheinkündigungen warten sollten, da die Abstimmung vom 3.Dezember 1972 die Klärung bringen werde.
Doch da schalteten sich die Unternehmer kurz vor der Abstimmung selber wirksam ein. Sie erklärten, man könne die Gelder noch bis Ende 1975 zurückziehen, auch wenn der Unternehmer-Vorschlag des Pensionskassenobligatoriums durchkommen werde. Später konnten sie dann allerdings sagen, dass jene, die die Gelder noch zurückziehen wollten, die Stelle verlieren werden.
Da der Unternehmervorschlag des Pensionskassenobligatoriums auch von den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie unterstützt wurde, setzte die Abstimmung vom 3. Dezember den Schlusspunkt unter eine Bewegung, die, weil sie ihr primäres Ziel der Zerstörung der Pensionskassen nirgends mit anderen Forderungen und effektiveren Kampfformen kombinieren konnte, von der Kooperation zwischen Reformisten und Unternehmern besiegt wurde.
Anfang 1973 entstand in Zürich die Assemblea Autonoma degli operai di Zurigo, gegründet vor allem von Arbeitermilitanten der Pensionskassenbewegung. Zwar hat die Arbeiterversammlung während der Genfer Metallstreiks oder das Arbeiterkomitee der drei Paillard-Werke auf ähnliche Weise funktioniert, aber diese Organisationsansätze blieben beschränkt auf einen einzelnen Kampf ausgerichtet. Auch waren sie vor allem von revisionistischen Genossen getragen, die die autonome Organisation nur gebrauchten, um von aussen den Druck zum Aufbau einer neuen, radikaleren Gewerkschaft zu entwickeln.
Die Assemblea Autonoma hingegen verstand sich selbst als ein prinzipiell neuer Organisationsansatz. sowohl gegenüber den Gewerkschaften als auch gegenüber den neulinken Gruppen. Sie stellte sich das Problem, eine Arbeiterleitung der Kämpfe aufzubauen. Wegen der dezentralisierten Produktionsstruktur in der Schweiz musste sie von vornherein Arbeiter aus verschiedenen Betrieben umfassen. Es wurde denn auch der Versuch gemacht, sie zu einer gemeinsamen Organisation der Emigration und der Jugendbewegung zu machen. Schliesslich wurde sie durch eine Reihe von Entlassungen mit dem Problem der Repression konfrontiert.
Die Assemblea hatte nicht die Kraft, all diese Probleme zu lösen. Im Sommer 1973 brach sie auseinander. Dennoch bleibt sie auf ihre Weise richtungsweisend, da sie bisher am klarsten zeigte, mit welchen Problemen der Kampf der Arbeiter gegenwärtig fertig werden muss. Ähnliche Erfahrungen sind z.B. aus der Alfa Romeo in Mailand bekannt.
Die Arbeiteroffensive im Untergrund
Wir müssen uns auch hier bewusst sein, dass die Arbeiter neben der Waffe des Streiks noch viele andere Mittel besitzen, um ihre Interessen durchzusetzen, Mittel, die manchmal effektiver sind, um mehr Lohn und weniger Arbeit zu erhalten.
Gerade in diesen Jahren nahm die Aufsässigkeit der Arbeiter mit „verdeckten`“ Kampfformen in einem bisher nur selten gekannten Ausmass zu und für das Kapital wurde dieses neue Arbeiterverhalten, das eine tiefe Ablehnung seiner Ausbeutungsziele und der Grundlage dieser Ausbeutung – der Arbeit – ausdrückt, zu einem grossen Problem. Die Reorganisation der Arbeit, die Schaffung von Massenarbeitern mit ihrer grossen Mobilität, wie wir schon früher beschrieben haben, zahlte sich dem Unternehmer teuer zurück.
So wundert es nicht, dass in den Unternehmerzeitschriften ab 1968, ganz besonders aber um das Jahr 1970, eine Flut von Artikeln erschienen, die sich mit Kampfformen wie Fluktuation, Absentismus, Leistungs- und Qualitätsverminderung u.a.m. auseinandersetzten und worin sich die Unternehmer angestrengt überlegten, wie sie dagegen vorgehen könnten.
Denn die Arbeiter setzten in diesen Jahren ihre Waffen der Selbstkündigung sehr effektiv ein. So stieg in der Zeit um 1969/70 die Fluktuation in der Metall- und Maschinenindustrie auf einen Höhepunkt von fast 30%. Das heisst, fast jeder dritte Arbeiter wechselte in diesem Jahr den Betrieb. Und es waren vor allem die ausländischen Arbeiter, die diese Waffe am ausgedehntesten zu gebrauchen wussten. In der Textilindustrie z.B. verliessen 26 von 100 ausländischen Arbeitern pro Jahr den Betrieb wieder, während nur 18 von 100 Schweizern jährlich den Betrieb wechselten.
Obwohl die Arbeiter zum Teil für den Monatslohn streikten, haben die Unternehmer gerade diese Arbeiterforderung (als solche gegen den Leistungslohn gerichtet), für die Kontrolle der Mobilität zu verwenden gewusst. Denn nicht vergebens wird bei dieser Entlöhnungsform die Kündigungsfrist in den meisten Fällen von zwei Wochen auf drei Monate hinaufgesetzt, und nicht umsonst haben auch viele Arbeiter gegen den Monatslohn gekämpft. Zum Beispiel in der Monteforno, der BBC, aber sicher auch in vielen anderen Betrieben.
Die Unternehmer wussten allerdings auch sonst sehr wohl, weshalb sie um 1970 den Monatslohn geradezu massenhaft einführten. Während der letzten Jahre war ihnen mit der fortschreitenden Einführung von neuen Produktionssystemen die alte Art, die Arbeiter zu schnellerer Arbeit zu bringen, gehörig in die Krise gegangen. Je mehr nämlich das Arbeitstempo von der Maschine bestimmt wird, desto mehr verliert der Akkordlohn seine ursprüngliche Funktion, die Arbeiter zu mehr Leistung zu zwingen. Der Akkordlohn erreichte allenfalls noch, dass die Arbeiter zumindest gleichmässig die Arbeit ausführten.
Doch das genügte den Unternehmern nicht. Denn sie sahen die Gefahren, die ihnen aus einer weiteren Verallgemeinerung von monotoner und langweiliger Scheissarbeit erwuchsen. Sie wussten die Forderung nach gleichen Lohnerhöhungen, die da und dort, vor allem im Ausland entstanden waren, sehr wohl zu deuten. Es graute ihnen vor der Gleichmacherei des Arbeiterkommunismus. Deshalb hielten sie ihre Ausbeutungswissenschaftler an den Universitätsinstituten nachhaltig dazu an, neue Systeme der Arbeiteraufsplitterung zu erfinden. Diese wurden denn auch entwickelt als Arbeitsplatzbewertung oder Punktlohn, je nach dem.
Im Wesentlichen wurde mit diesen Systemen versucht nicht mehr bloss die Leistung des Arbeiters für die Lohnbemessung he-ranzuziehen, sondern vor allem auch seine Unterwürfigkeit und andere Kriterien unternehmerischer Ausbeutung Aus einer ganzen Reihe von Kriterien werden die Arbeiter dann bewertet und der Unternehmer erreicht in vielen Fällen auf diese Weise, eine neue Aufsplitterung der Arbeiter, die eine Vereinheitlichung ihrer Kampfziele wieder verunmöglichen sollte. Diese Lohnbemessung nach der Unterwürfigkeit des Arbeiters, (z.B. auch, ob er zu viel zu spät komme usw.) geht besser mit dem Monatslohn als mit dem Stundenlohn.
Die verschiedensten Waffen der Arbeitsverweigerung gewannen in dieser Kampfphase vermehrte Bedeutung. Wer kennt nicht die Klage der Unternehmer über die „sinkende Arbeitsmoral“ und über das „Wohlstandsverhalten“. So z.B. die „Finanz-Revue“: „Die Arbeitsmoral hat in unserem Lande ganz erheblich gelitten. Damit drücken wir lediglich eine Binsenwahrheit aus. Da sich das Personal seiner Unentbehrlichkeit weitgehend bewusst ist, stellen nicht wenige Kräfte auf permanente „Langsamarbeit“ um. Wer zählt die durch reichliche Kaffeepausen, private Unterhaltung während der Arbeit, unmotivierte ‚Botengänge‘ verlorenen Arbeitsstunden?“
Wer weiss nicht um das vermehrte Krankfeiern? Nicht vergebens wurden die Ärzte in der NZZ im Sommer 1973 mit der Begründung, „die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung“ sei „volkswirtschaftlich einschneidend“ aufgerufen, „hier gelte es, unberechtigten Forderungen “ eine gewisse Härte entgegenzusetzen und mitzuhelfen, die heutige Tendenz „zur ‚Flucht in die Krankheit’… zu bekämpfen“. Der „blaue Montag“, die Verlängerung von Ferien- und Feiertagen sind zu einer fast alltäglichen Sache geworden. Und wer kennt nicht die Leistungssenkung, die bewusste Sabotierung von Maschinen, die tätlichen Angriffe auf verhasste Vorgesetzte und vieles andere mehr?
So viele Linke diese Kampfformen auch als „unpolitisch“ und „individuell“ denunzieren mögen, die Unternehmer wissen sehr wohl, gegen was sie gerichtet sind: gegen die Arbeit überhaupt. Die Unternehmer wissen sehr gut, weswegen sie Schwierigkeiten haben. So erklärte zum Beispiel der Delegierte des Gesamtverbandes der schweizerischen Bekleidungsindustrie: „Beunruhigend sind die abnehmende Qualität, die sinkende Arbeitsmoral und -disziplin, die steigende Fluktuationsquote, die wachsenden Krankheits- und Kurzabsenzen sowie die missbräuchlichen Ferienverlängerungen der Arbeitskräfte als Folge des ausgetrockneten Arbeitsmarktes, der Fremdarbeiterregelungen oder der fortgeschrittenen Löhne und Sozialleistungen.
Was nützen Investitionen in teure Spezialmaschinen, wenn diese Kapazitäten letztlich wegen mangelnder Arbeitskräfte brachliegen, was in manchen zukunftsträchtigen Firmen gegenwärtig der Fall ist.“
Diese Arbeitsverweigerung setzte sich immer mehr um in eine „masslose Bewegung des Lohns“. Wie schon in früheren Jahren erreichen die Arbeiter von 1969 auf 1970 eine-Reallohnsteigerung um mehr als 4 1/2%, ein Jahr später sogar eine solche von 5 1/2%, von 1971 auf 1972 dann wieder – trotz starkem Widerstand der Unternehmer – eine solche von 4 1/2%. Nicht umsonst jammerte die „Finanz-Revue“ über „masslose Lohnsteigerungen“: „Das schlechte Beispiel des Auslandes macht auch hierzulande Schule. Man begnügt sich nicht mehr mit jährlichen Lohnverbesserungen von 5%, heute müssen 15-20% her, wobei in manchen Betrieben sogar zweimal jährlich Lohnaufbesserungen erfolgen, nur um einen grossen Teil des Personals überhaupt zu halten… von vernünftigem Masshalten ist schon weitherum nicht mehr zu reden… man will einfach die Marktlage rücksichtslos ausnützen“.
Die Situation wurde für viele Unternehmen prekär, denn so die „Finanz-Revue“: „An zahlreichen Orten werden die Gewinne trotz guter Umsatzentwicklung … durch masslose Lohnsteigerungen massiv beschnitten. Das Kapital war zum Gegenschlag gezwungen. Doch vorerst musste es mit relativ untauglichen Mitteln operieren. Als Junod, Chef des „Vororts“, 1971 längere Arbeitszeit und einen Lohnstopp vorschlug, wagte in der Tat noch niemand, diesen Vorschlag praktisch umzusetzen.
Vorerst mussten die Unternehmer gezielt Aktionen wie die Unterdrückung des Bobst-Streikes ausführen. Denn auch der Gewerkschaftsbund wusste die Lage ziemlich genau einzuschätzen: „Auch ein getarnter Lohnstopp würde unmittelbar eine Verschärfung der sozialen Spannungen provozieren.“ Das einzig wirksame Mittel in dieser Zeit, die Löhne zu kontrollieren, lag in der ständigen Anheizung der Teuerung. Dieses Mittel zeigte zwar zweifellos seine Wirkung, doch die damit verbundene rapide Geldentwertung machte den Unternehmern aber bald mehr Sorgen als Freude.
Die Teuerung war denn auch zu einem schönen Teil aus dem Ausland importiert worden, wo sie andere europäische und vor allem amerikanische Kapitalisten gegen ihre Arbeiter anwendeten und die anderen Länder tributpflichtig zu machen versuchten. Sorgen macht die Inflation den Unternehmern, weil sie natürlich auch Kämpfe ausserhalb der Fabrik provoziert, die die Unternehmer von dieser Seite her gefährden.
So war der CH-Staat Ende 1972 gezwungen, Massnahmen zu treffen, um die Inflation wieder in den Griff zu bekommen. Diese sogenannten „Konjunkturdämpfungsmassnahmen“ waren im Wesentlichen nichts anderes als der verzweifelte Versuch, die Lohnbewegung von der staatlichen Ebene her wieder in die kapitalistische Entwicklung einzubannen. Die „Krediteinschränkungen“ z. B. zwangen Unternehmer, die mit ihren Arbeitern nicht mehr zu Rande kamen zur Schliessung ihrer Betriebe, zu einer Fusion oder mindestens zu einer Reorganisation der Produktion.
Nicht aus Zufall trafen diese Krediteinschränkungen, aber vor allem auch die Baubeschlüsse in erster Linie ‚das Baugewerbe‘. Das Baugewerbe ist nach wie vor die konfliktreichste Branche der schweizerischen Industrie. Auch die wohl härteste institutionelle Arbeiterunterdrückung neben den direkten staatlichen Repressionsorganen wie der Polizei, nämlich das Saisonnierstatut, haben diese Tatsache nie aus der Welt geschafft.
Und so richteten sich die Massnahmen letztlich gegen die aufsässigen Bauarbeiter, seien das nun gewöhnliche Saisonniers oder 5.000-6.000 Franken pro Monat verdienende Akkordgruppen auf den Bauplätzen, die auf ihre Weise einen guten Teil des „unkontrollierbaren Lohns“ verursachten. So liess die unkontrollierbare Inflation, d. h. das unkontrollierbare Arbeiterverhalten den Unternehmerstaat eine kontrollierte Krise aufbauen, die spätestens 1973 im Baugewerbe. wirksam wurde und zu den ersten Saisonniersentlassungen führte, aber auch alltägliche Aktionen wie z. B. das nach-der-Pause-sitzenbleiben schwieriger machte.
Wiederaufnahme der Arbeiterinitiative und Krise
Gegen Ende 1973 begannen sich die Arbeiter wieder von ihren Niederlagen im Jahre 1972 und bei der PK-Bewegung zu erholen. Überhaupt sind die Arbeiter bis Ende 1973 nur schwach aus ihrer Stellung verdrängt worden. Sie verzichteten nur in Ermangelung geeigneterer Instrumente eine Weile auf offene Konfliktaustragung.
In der Schuhfabrik Henke in Stein a/Rhein streikten die Arbeiter z. B. erfolgreich, um ihre Pensionskassengelder zu erhalten. Im Genfer Spital streikten 1.000 Angestellte für 300 Franken mehr Lohn für alle und die 40 Stundenwoche. In der Gimelli in Zollikofen bei Bern erkämpften sich 100 Frauen 20 Rappen mehr Stundenlohn mit Verweigerung der Überstunden und kollektiver Leistungszurückhaltung. In einer kleineren Metallfabrik in Bern verweigerten die Arbeiter die Samstagsarbeit, die sie ohne Überzeitzuschlag machten sollten, um die Zeit zwischen Weihnacht und Neujahr vorzuholen.
In der Iril in Renens bei Lausanne streikten die 80 Arbeiter der hochautomatisierten Strumpfabteilung vorerst erfolgreich für 20 Rappen mehr Stundenlohn und Abschaffung von Kontroll- und Disziplinierungsinstrumenten. Dabei war dieser Kampf sehr geschickt angelegt, so dass sich die Morgen- wie die Nachmittagsschicht beteiligen konnte. Nachher allerdings entliess der Unternehmer widerstandslos einige Arbeiteravantgarden.
In der Verntissa in Genf drosselte die Montageabteilung während zweier Wochen die Produktion um einen Fünftel, um den Abbau der Belegschaft zu verhindern und die Bezahlung einer Prämie durchzusetzen. In der SRO in Zürich streikte ein Teil einer Abteilung kurz für den 13. Monatslohn, allerdings erfolglos.
Hinter diesem Neuauftauchen von offeneren Kampfformen, die fast durchwegs von unqualifizierten Arbeitern organisiert und getragen wurden, stand eine bemerkenswerte Verschiebung zwischen den verschiedenen Fremdarbeiterkategorien, die erklärt, weshalb die Massenarbeiter ihre Kämpfe diesmal weitgehend ohne die Hilfe revisionistischer Strukturen führen mussten. Spätestens seit dem Genfer Metallstreik hatten die Unternehmer bemerkt, dass ihnen eine Gewerkschaft, die die Arbeiter nicht zu kontrollieren vermag, wenig nützt. Sie machten sich deshalb daran, eine neue Klassenschicht zu privilegieren.
Hatten sie in früheren Jahren ihre Kontrolle über die Arbeiterkämpfe weitgehend auf einem Kompromiss mit den die Schweizer Facharbeiter repräsentierenden Gewerkschaften gestützt und alle anderen Kämpfe brutal zu unterdrücken versucht, so sahen sie sich in den letzten Jahren immer mehr gezwungen, die Emigranten der älteren Generation für diese Zwecke herbeizuziehen.
Dafür haben sie ihnen vermehrt das Niederlassungsrecht zugestanden. 1968 wurde mit der veränderten Politik in der Fremdarbeiterzulassung und dem Bundesratsbeschluss, den Arbeitsmarkt langfristig zu vereinheitlichen, die Grundlage für diese Strategie gelegt; 1970, mit der Verbreiterung der Arbeiteraktionen wurde sie wirksam.
Die massive Gewährung der Niederlassungsberechtigung an seit längerem in der Schweiz arbeitende Emigranten ging allerdings einher mit ihrer Platzierung an bevorzugten Stellen der Arbeitsorganisation (Vorarbeiter, Einrichter usw.). Nicht von ungefähr wird deshalb auch das Verbot der PCI in der Schweiz nicht kommen.
Doch all das hat den Unternehmern letztlich nicht viel genützt. Die Arbeiterkämpfe gingen im internationalen Rahmen weiter, die Kämpfe in der Dritten Welt schlugen auf die Rohstoffpreise um und die „masslose Bewegung des Lohns“ konnte in der Schweiz nur gegen Ende 1973 angegriffen werden und zeigt wahrscheinlich vorerst nicht unbedingt eine grosse Schwäche der Arbeiter. Den Arbeiterkampf völlig stoppen, werden die Unternehmer auch in der Schweiz sicher nicht.
Die Arbeiter mögen sich für eine Weile in einen Stellungskrieg zurückziehen, wie das Anfang 1973 passiert ist. Der Fortgang der internationalen Arbeiterkämpfe in der Krise, aber auch die Neuzusammensetzung der Arbeitererfahrung an entscheidenden Stellen der Arbeiterklasse in der Schweiz, ist die grösste Garantie dafür, dass wir schon bald wieder in grösseren Kämpfen stehen werden. Die Zeichen der militanten Fordarbeiter, der Picketing-Lines der englischen Minenarbeiter, der maskierten Arbeiterdemonstrationen in grossen italienischen Fabriken wurden auch hier gehört.
Nachwort: die Suche nach theoretischen Waffen
Im Laufe dieser Arbeit schlugen wir uns permanent mit der Frage herum, welche Rolle die theoretische Arbeit heute im Klassenkampf spielt. Wir glauben nicht, es begriffen zu haben, aber die folgenden Punkte scheinen uns der Überlegung wert.
Gegenwärtig entsteht in Europa ein Netz von autonomen Arbeiterkadern. Es sind Arbeiter, die sich nicht mehr einfach in den traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung wiedererkennen, Arbeiter, die selber Kämpfe organisieren, die untereinander erst in einem ganz lockeren Zusammenhang stehen. Oft stehen sie im Kontakt mit Gruppen der jungen-Linken, selten ordnen sie sich diesen unter.
Die Entfaltung der Klassenkämpfe, in denen diese Militanten sich bilden, verlangt, dass aus diesem Netz eine wirksamere Organisationsstruktur entsteht, dass eine Arbeiterleitung der Kämpfe aufgebaut wird. Die Art, wie in den letzten Jahren linke Politik gemacht wurde, wird dadurch radikal in Frage gestellt.
Das gilt auch für die Art, wie Theorie produziert wurde. Nicht, dass theoretische Arbeit überflüssig würde. Ohne Theorie keine Revolution, ebenso wenig wie ohne Gewehr. Aber bisher lautete das Problem, wie die Theorie die Massen ergreifen könne. Vielleicht müssen wir heute fragen, wie die Massen die Theorie ergreifen können. Die revolutionäre Theorie muss dazu zwei Bedingungen erfüllen, denen nur ein ganz kleiner Teil der linken Literatur gerecht wird. Einerseits muss es für die autonomen Arbeiteravantgarden möglich sein, sie zu ergreifen: es darf nicht zu viel Zeit, Geld, Konzentration, Ausbildung usw. erfordern. Andererseits muss die Theorie ihnen etwas nützen, sie muss brauchbar sein, um die Kämpfe zu organisieren.
Das kapitalistische Ausbildungswesen wird gegenwärtig in einem noch nie dagewesenen Ausmass massenhaft angegriffen. In dieser Situation kann die revolutionäre Theorie nicht mehr von Leuten entwickelt werden, die von aussen an die Klassenkämpfe herantreten. Zwar stehen die meisten Genossen, die Gelegenheit zu theoretischer Arbeit haben, nicht von vornherein innerhalb der Arbeiterkämpfe in den Fabriken.
Aber sie stehen von vornherein im Rahmen der Kämpfe, die in den verschiedenen Abteilungen der kapitalistischen Ausbildungsfabrik ihnen Ausgangspunkt haben. (In der Schweiz hat die Jugendbewegung diese ihre eigentliche Grundlage bis heute verschleiern können, weil sie sich an Zielsetzungen wie den Jugendhäusern festmachte und von da zu den Hausbesetzungen fortschritt. Und doch artikulierte sich gerade in der Betonung der „Freizeit“ die Verweigerung der Ausbildungssituation.)
Früher konnten Intellektuelle versuchen, in der akademischen Form der bürgerlichen Wissenschaft die Fragen der revolutionären Theorie zu untersuchen, um sie anschliessend zu popularisieren. Auch für Marx sah die Situation zu einem guten Teil so aus. Heute wird die Kopfarbeit ebenso der kapitalistischen Fabrikdespotie unterworfen wie die Handarbeit.
Darum scheint jener Versuch nicht mehr viel realistischer wie der Versuch, in einer Autofabrik sozialistische statt bürgerliche Autos zu produzieren. Der Klassenkampf steht heute ebenso gegen die kapitalistische Kopfarbeit, wie gegen die kapitalistische Handarbeit. Das ist die andere Seite der Tatsache, dass die herkömmliche Art der revolutionären Theorieproduktion in eine Krise geraten ist.
Das waren auch unsere Probleme. Wir hatten in der Jugendbewegung gekämpft, hatten die Nase voll von der kapitalistischen Ausbildungsfabrik. Einige von uns hatten an jenen Nahtstellen politisch gearbeitet, wo die Jugendbewegung mit den Kämpfen der Arbeiter in Kontakt gerät. Wir glaubten nicht mehr an eine theoretische Arbeit, in der die Arbeiter das Untersuchungsobjekt sind, dem man am Schluss mitteilt, was er nun zu tun habe.
Nicht einfach aus moralischen Gründen; sondern weil das nicht mehr funktioniert, weil diese Art von theoretischer Arbeit zunehmend steril wird. Die meisten von uns hatten in einer der politischen Gruppen, die aus der Jugendbewegung entstanden sind, gearbeitet oder arbeiten weiter darin. Wir litten darunter, dass das Grüppchenwesen allzu oft die Suche nach Waffen im Klassenkampf lahmlegt anstatt zu fördern. Wir realisierten, dass die Grüppchen das Problem verdrängen, dass in der gegenwärtigen politischen Arbeit Theorie und Praxis, die doch zusammengehören, objektiv gespalten sind.
Als wir uns zusammensetzten, um Material über Arbeiterkämpfe in der Schweiz der Nachkriegszeit zu diskutieren und auszubauen, merkten wir (oder wenigstens die, die es noch nicht wussten) bald, dass es viel interessanter ist, einmal die Kämpfe der Arbeiter blosszulegen und von daher weiter zu gehen, als zu untersuchen, durch welche Mechanismen der Arbeiter ausgebeutet wird und wie er darauf zu reagieren hat. Wir realisierten, dass das Wissen um solche Erfahrungen nützlich ist für die, die Kämpfe führen, kleine und grosse, dass es möglich ist, eine Analyse zu machen, die die akademische Form abschütteln kann.
Natürlich war es nicht leicht, ein blosses Sammelsurium aller möglichen. Fakten zu vermeiden. Aber da nützte uns die theoretische Arbeit, die wir vorher gemacht hatten: Sie hatte uns gelehrt, Ordnung in das Gewirr der Erfahrungen zu bringen, indem man sie vom Arbeiterstandpunkt aus betrachtet. Wir hatten gelernt, als Ausgangspunkt das Faktum zu nehmen, dass die Arbeiter in dieser Gesellschaft gezwungen werden, ihre Arbeitskraft zu verausgaben.
Wir hatten gelernt, dass diese Gesellschaft auf der Ausbeutung der Arbeiter beruht, dass ihre Entwicklung begriffen werden muss als Antwort auf die Versuche der Arbeiter, den Zwang zur Arbeit abzuwerfen. So versuchten wir, als Gesichtspunkt bei der Auswahl und Anordnung der Materialien so weit als möglich die Bedürfnisse der Arbeiter zu nehmen, die Versuche, sie durchzusetzen, die Versuche, sie einzudämmen.
Was das heisst, Arbeiterstandpunkt, hatten wir von jenen Marxisten gelernt, die gerne „Operaisten“ genannt werden, und die vor allem in Italien vertreten sind. In der Schweiz gehören vor allem die Genossen vom „Klassenkampf“ dazu. Ohne ihre Untersuchungen wäre die vorliegende nicht möglich gewesen. Aber solche Untersuchungen beruhen nicht einfach auf theoretischer Arbeit: sie wären völlig undenkbar losgelöst vom praktischen Versuch, die Arbeiterkämpfe voranzutreiben. Was wir mit diesem Papier versuchten, war Arbeitergeschichte zu schreiben, die Geschichte der Arbeiterkämpfe aus der Sicht der Arbeiter. Kampfziele, Parolen, Organisationsversuche, die wir im politischen Kampf brauchten, wurden zu Kategorien, mit denen die Vergangenheit interpretiert wird, und umgekehrt wird die vergangene Geschichte der Arbeiterkämpfe Modell für die gegenwärtige Taktik.
Man kann den Umschlag, der gegenwärtig in der theoretischen Arbeit nötig ist, sehen als Umschlag von der Kritik der politischen Ökonomie zur Arbeitergeschichte. Wir wollen versuchen, das kurz zu erläutern. Was Marx zuerst einmal tun musste, war, den bürgerlichen Standpunkt gegenüber unsrer Gesellschaft zu kritisieren, um in dieser Kritik den Arbeiterstandpunkt herauszuschälen.
Denn die Arbeiterklasse stand noch keineswegs als autonomes Subjekt da, und deshalb musste Marx – und das entsprach auch seiner eigenen sozialen Situation – durchaus vom bürgerlichen Standpunkt ausgehen. Er nahm also die offizielle Wissenschaft von der Gesellschaft, die politische Ökonomie seiner Zeit, und entwarf ihre Kritik. Aber das war nicht Selbstzweck, es diente auch nicht dazu, die Bourgeois davon zu überzeugen, dass sie abtreten sollten, das würden sie sicher nicht von selbst tun, noch sollte die Kritik der politischen Ökonomie den Arbeitern erklären, sie müssten jetzt kämpfen, das taten sie schon.
Die Kritik der politischen Ökonomie sollte es möglich machen, diese Kämpfe zu begreifen, um sie siegreich führen zu können. Wenn der Arbeiterstandpunkt einmal formuliert ist, dann muss man fortschreiten von der Kritik der politischen Ökonomie zur Arbeitergeschichte, zur Geschichte der Arbeiterkämpfe aus der Sicht der Arbeiter. Erst dadurch wird die revolutionäre Theorie zu dem, was sie sein muss: Wissenschaft von der Zerstörung des kapitalistischen Kommandos, das uns zur Arbeit zwingt.
Wir lernten Marx besser verstehen, wenn er sagte, für ihn gebe es nur eine Wissenschaft, die Wissenschaft von der Geschichte, und die Geschichte sei Geschichte von Klassenkämpfen. Oder wenn er sagt: die Arbeiterklasse „sobald sie sich erhoben hat, findet unmittelbar in ihrer eigenen Lage den Inhalt und das Material ihrer revolutionären Tätigkeit: Feinde niederzuschlagen, durch das Bedürfnis gegebene Massregeln zu ergreifen; die Konsequenzen ihrer eigenen Taten treiben sie weiter. Sie stellt keine theoretischen Untersuchungen über ihre eigene Aufgabe an.“ (Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW, Bd.27, S.19/2o). Was sie brauchen kann, sind die Erfahrungen früherer Kämpfe, von Siegen und Niederlagen, Fehlern und Erfolgen.
Nehmen wir den Aufstand der Pariser Proletarier in der Kommune von 1870. Von den heutigen „Marxisten“ würden die meisten untersuchen, was dort passierte, um sagen zu können, was gefehlt hat. Auch manchen „Operaisten“ wird man diesen Vorwurf nicht ersparen können. Anders Marx. Er war der Auffassung, der Kommunismus sei nicht irgendein Hirngespinnst,` sondern eine reale Tendenz in den gegenwärtigen Verhältnissen, „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“ Er untersuchte die Kommune, weil sich in ihr der Kommunismus Bahn brach, er versuchte die Stossrichtung der wirklichen Bewegung festzustellen, um sie fortzusetzen, nicht zu belehren.
Wo steht der Kommunismus, die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt, hier und heute? Welche Richtung schlägt er ein? Darüber wollten wir etwas erfahren, als wir den Kampf der Aluminiumarbeiter von Chippis, die Strassenschlachten der Genfer Bauarbeiter, den massenhaften Arbeitswechsel der Metallarbeiter darzustellen versuchten. Wir wollten Erfahrungen zusammenstellen, die man im Kampf verarbeiten kann, nicht Lehrsätze zum weiterpredigen.
Aus diesem Grund haben wir auch Kämpfe aufgeführt, die wir noch nicht einordnen konnten; dadurch ist der Text streckenweise nicht viel mehr als eine anekdotische Aneinanderreihung von Kampfaktionen. Umgekehrt fehlen oft wesentliche Daten: was wissen wir schon über die militärische Seite der Kämpfe? Sowohl im weiteren Sinne, also darüber, wie man sich organisierte, wo man angriff, wo zurückwich, als auch darüber, wie sich die Frage der revolutionären Gewalt jeweils stellte, wie sie in Angriff genommen wurde.
Und was wissen wir über den Gebrauch der Technik gegen die Arbeiterkämpfe, über die Veränderungen der Technologien auf den Bauplätzen nach den Kämpfen der Bauhandwerker, über die Restrukturierungsmassnahmen in der Maschinenindustrie am Ende der Fünfziger Jahre? Ein weiterer Mangel dieser Arbeit ist die völlig ungenügende Berücksichtigung des internationalen Zusammenhangs. Wahrscheinlich kommt man nur noch‘ weiter, wenn diese Grenze gesprengt wird. Was war in Spanien los, als in Genf die Metallindustrie stillstand? Was geschah in Italien, als sich die Ausgangsbasis der Emigranten nach Süden verschob?
Die Fragen, die dieser Text offen lässt oder eröffnet, wollen ein Betätigungsfeld sein für die Phantasie der Leser. Und sie wollen weitere Untersuchungsarbeit anregen, nicht um eine chronologische Enzyklopädie der Arbeiterkämpfe zu erstellen – die würde die Unternehmer interessieren, nicht uns – aber indem z.B. zentrale Momente des Klassenkampfs vom Arbeiterstandpunkt aus nach allen Richtungen hin durchforscht und miteinander konfrontiert werden. Die Mängel dieser Arbeit könnten einen wichtigen Grund haben.
Die Hypothesen der revolutionären Theorie überprüft man, indem man sie zu organisieren versucht. Vielleicht besitzt heute nur der die Instrumente, um die Wirklichkeit zu erkennen, der die Waffen in der Hand hat, um sie zu verändern. Die Klassenkämpfe liessen sich dann nur noch wirklich begreifen, wenn man fähig ist, sie zu organisieren. Damit wären wir wieder am Anfang: Der Versuch, den Arbeiter Standpunkt stellvertretend für die Arbeiter einzunehmen, hat heute keinen Sinn mehr.
Zu den Quellen:
Darstellungen über die Arbeiterkämpfe haben wir keine gefunden. Für die Streikberichte konnten wir jedoch auf die umfangreichen Zeitungsartikelsammlungen im Sozialarchiv in Zürich und im Wirtschaftsarchiv in Basel zurückgreifen. Es gibt jedoch eine ganze Menge, zumeist sehr schlechter bürgerlicher Untersuchungen über die Entwicklung der Wirtschaft, der Institutionen und der offiziellen Arbeiterbewegung, die man mit der Zeit zu interpretieren lernt. Interpretieren heisst hier, vom Arbeiterstandpunkt zu durchleuchten.
Schweizerischer Gewerkschaftsbund: Tätigkeitsberichte
Industrielle Organisation (Zeitschrift des betriebswissenschaftlichen Instituts an der ETH Zürich)
Schweizerische Handelszeitung
Böhler, Eugen: Bericht über die Tätigkeit des paritätischen Stabilisierungsausschusses der wirtschaftlichen Spitzenverbände, in: Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, Bern 1950
Hagmann, H.-M.: Les travailleurs etrangers, Lausanne 1966
Maillat, Denis: Structures des salaires et immigration, Neuchâtel/Paris 1968
Gasser/Kneschaurek: Struktur- und Entwicklungsprobleme der schweizerischen Volkswirtschaft, Zürich 1957
Kindleberger, Charles P.: Europe’s Postwar Growth, The role of labour supply, Mussachusetts 1967
Strukturwandlungen der schweizerischen Wirtschaft und Gesellschaft, Bern 1962
Gegen die Pläne des Kapitals in der Schweiz, Genf 1972
Klassenkampf: Nationales Bulletin Nr.6, Dokumente zum 4. Organisationsseminar, Oktober 1973.
Die theoretischen Voraussetzungen diskutierten wir vor allem anhand der Marxschen Schriften und der folgenden Ansätze, das Marxsche Erbe gegen eine immense Verstümmelung zu verteidigen (Auswahl): Tronti, Mario: Operai e capitale, Torino 1971
Bologna, Sergio: Klassenzusammensetzung und Theorie der Partei an den Anfängen der Rätebewegung, in: Zusammensetzung der Arbeiterklasse und Organisationsfrage, Westberlin 1973 (vgl. aber auch die anderen Aufsätze im Sammelband: Operai e stato, Milano 1972)
Proletarische Front: Arbeiterkampf in Deutschland, München 1973
Materiaux pour l’intervention: les ouvriers contre l’état refus de travail, Paris/Milano 1973
Abkürzungen:
AHV Alters- und Hinterlassenenversicherung
ASM Arbeitgeberverband der Schweizerischen Maschinen-und Metallindustrie
Bupo Bundespolizei
BRD Bundesrepublik Deutschland
CH Schweiz
GB Grossbritannien
MFO Maschinenfabrik Örlikon
MTM Method for Time Measurement: Verfahren, um dem Arbeiter die Zeiten für die ein-zelnen Bewegungsabläufe der Arbeit vorschreiben zu können.
NA Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat (schweizerische rechtsextreme Organisation) NZ Nationalzeitung
PCE Partido Comunista d’Espana
PdA Partei der Arbeit (früher Kommunistische Partei der Schweiz)
SBHV Schweizerischer Bau- und Holzarbeiterverband
SEV Schweizerischer Eisenbahnerverband
SGB Schweizerischer Gewerkschaftsbund
SMUV Schweizerischer Metall- und Uhrenarbeiterverband
SPS Schweizerische Sozialdemokratische Partei der Schweiz
STB Schweizerischer Typographenbund
STFV Schweizerischer Textil- und Fabrikarbeiterverband
Quelle: Untergrundblättle… vom 9. Juni 2017
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitskämpfe, Gewerkschaften, Repression, Sozialdemokratie, Widerstand
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