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Der Klassenkampf in Venezuela

Eingereicht on 13. Juni 2017 – 17:29

Roberto Jorquera. Das politische Terrain in Venezuela war seit der Wahl von Hugo Chávez im Jahre 1998 immer unstabil. Einerseits war da die wachsende Zuversicht der Arbeiterklasse, eine Änderung des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Systems in Venezuela zu fordern.  Andererseits taten die herrschenden Eliten alles in ihrer Macht Stehende, um die revolutionäre Bewegung zu hintertreiben und geradewegs anzugreifen.

Die Opposition griff dabei zu Mitteln wie militärische Staatsstreichversuche, wirtschaftlicher Sabotage, Absetzungsreferenden, alltäglicher Verbreitung von politischer Propaganda über verschiedene Kanäle, einer anhaltenden internationalen wirtschaftlichernund politischen Kampagne und anhaltenden politischen Protesten.

Um die gegenwärtige Krise zu verstehen, müssen wir die Klassenkräfte, die gegen die Regierung mobilisieren und ihre Forderungen näher betrachten. Die Mesa de la Unidad Democrática (MUD – Vereinigte demokratische Verhandlungsrunde), die 2008 gegründet wurde, umfasst ein Bündnis der wichtigsten Kräfte der Rechten, die die mächtigsten Segmente der venezolanischen Wirtschaft repräsentieren. Auch Kräfte der Zentrums-Linken sind im Bündnis vertreten, die sich dem Aufruf zur Absetzung des gegenwärtigen Präsidenten angeschlossen haben. Diese Kräfte werden durch den US-Imperialismus, der auf die nationale Bourgeoisie setzt, fortwährend unterstützt. So berichtete die lateinamerikanische Fernsehkette Telesur am 17. Mai:

«Seit mindestens 2009 hat das US-amerikanische Aussenministerium für die Unterstützung der rechten Opposition in Venezuela insgesamt mindestens 49 Millionen Dollar budgetiert…. In einer detaillierten Aufstellung wird ersichtlich, dass das Budget eine Million Dollar spezifisch der ‘Unterstützung des politischen Wettbewerbs und dem Aufbau eines Konsenses’ vorgesehen hat.»

Die Auseinandersetzung in Venezuela besteht jedoch nicht einfach zwischen der Rechten und der Linken. Sie tobt auch innerhalb der bolivarianischen Kräfte. Insbesondere seit dem Tode von Hugo Chávez sind die linken Strömungen der bolivarianischen Revolution zunehmend kritisch gegenüber der Führung der regierenden Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) wegen deren wachsenden Anpassung an die rechte Opposition und den fehlenden Fortschritten einer allmählichen Übergabe der Kontrolle der Privatwirtschaft an die Arbeiterklasse.

Eine zentrale Schwäche der aktuellen Führung der bolivarianischen Revolution besteht in deren Beharren auf den nationalen politischen Institutionen, wie etwa der Nationalversammlung und den Strukturen der Provinz- und Städteverwaltungen. Selbst unter Chávez waren diese Institutionen durchaus nicht im Einklang mit der Arbeiterklasse, die sich über ihre Arbeitsplätze und über Institutionen wie die Gemeinderäte, die Basisorganisationen der Gemeinden und verschiedene misiónes und einer Vielzahl von sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Basisorganisationen mobilisiert hatte. Viele dieser Organisationen waren in andauernde politische Auseinandersetzungen mit den Abgeordneten verstrickt, die die Interessen der Arbeiterklasse nicht wahrgenommen haben.

Ähnliche Auseinandersetzungen fanden in Chile in den frühen 1970er Jahren statt zwischen den linken Kräften, die um die Cordones Industriales,  linke Organisationen wie der MIR – der Linken Revolutionären Bewegung – und Teilen der sozialistischen und der kommunistischen Parteien herum organisiert waren einerseits und andererseits der Kräfte um Allende, die für Verhandlungen mit den Rechten eintraten.  Das Scheitern des Prozesses einer Vereinigung mit den revolutionären Sektoren der Arbeiterklasse unter der Regierung Allende und dessen Unfähigkeit zu einer Konfrontation mit den Wirtschaftseliten verschafften der Rechten die Möglichkeit eines Staatsstreichs.

Der venezolanische Prozess zeigt viel Ähnlichkeit mit der chilenischen Geschichte; die Führung ist unfähig mit einer Verstaatlichung der wichtigsten Wirtschaftssektoren zu einer Konfrontation mit den Wirtschaftseliten überzugehen. Im Rahmen des bolivarianischen Prozesses mobilisierten sich immer wieder Millionen, die die Regierung aufforderten, den Prozess zu vertiefen und die politischen Eliten mit einer Übertragung von politischer Macht an die Organisationen der Arbeiterklasse herauszufordern. Jorge Martin von dem britischen Solidaritätsnetzwerk Hands off Venezuela argumentiert:

«Es gibt einen Kampf zwischen der revolutionären Basis und der Bürokratie und den reformistischen Strömungen innerhalb der bolivarianischen Bewegung. Die Bürokratie und die Reformisten versuchen, die revolutionäre Initiative der Massen zu behindern und zu blockieren, während die revolutionäre Initiative der Massen der allereinzigste Faktor ist, der die Revolution bislang in jeder schwierigen Situation gerettet hat. Je länger aber dieser Zustand anhält, umso schwieriger wird es, die breite Basis zu mobilisieren, gerade in einer ernsten ökonomischen Krise.»

Errungenschaften des Chávismus

Die bolivarianische Revolution brachte unter Chávez enorme Fortschritte. Zahllose misiónes wurden zum Rückgrat für einen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Wandel, der der Arbeiterklasse zugutekam. Während dadurch die alten politischen Eliten herausgefordert wurden, hat der Prozess kaum grössere Auswirkungen auf den grossen privaten Sektor gehabt, der weiterhin die venezolanische Wirtschaft dominiert.

Im Verlauf des Prozesses wuchs das Selbstvertrauen der Arbeiterklasse an, womit sie sich durchwegs gegen alle grösseren Angriffen der Opposition verteidigen konnte. Die Errichtung von Gemeinderäten, sozialistischen Gemeinden, einiger Arbeiterkontrolle in den Fabriken und zahlreiche andere politischen Formen von Organisation haben das Selbstvertrauen der Arbeiterklasse anwachsen lassen. Die misiónes waren entscheidend bei der Anhebung des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Niveaus. Anderson Bean schrieb am 17. Mai auf der US-Webseite SocialistWorker.org folgende Einschätzung des Prozesses:

«Das Gewicht, das der Macht der breiten Bevölkerung und der partizipativen Demokratie in der chávistischen Verfassung von 1999 beigemessen wird, ist deutlich und liess eine Vielzahl von Institutionen entstehen wie die misiónes, die partizipative Budgetallokation, die Mitverwaltung von staatseigenen Fabriken, Gemeinderadios, Gemeinderäte und die Gemeinden.

Die PSUV jedoch liess wenig Raum für die breite Beteiligung in der Partei. Obgleich in den früheren Zeiten der Partei Hunderte von Aktivisten an den Gemeindeversammlungen teilnahmen, und verschiedene Strömungen in der Partei ihre Vertreter und Vertreterinnen hatten, die Vorschläge einbringen konnten, so blieb sie doch eine stark zentralisierte Partei mit Chávez an der Spitze der Pyramide.

Die Partei verliess sich auf die unbestrittene Autorität von Chávez und entwickelte nie eine kollektive Führung. Dies funktionierte eine Zeit lang aufgrund von Chávez Charisma, seiner Fähigkeit, sich direkt an die breite Bevölkerung zu wenden. Nach seinem Tode aber und nach der Wahl von Nicolás Maduro traten die Grenzen des Modells immer offener zutage.

Unter Maduro wurden die Möglichkeiten der öffentlichen Beteiligung innerhalb der PSUV und der Gesellschaft überhaupt weiter eingeschränkt. Eine regierende Bürokratie innerhalb der Partei und des Staates wurde immer mächtiger. Diese Bürokratie kontrolliert das gesamte Budget des öffentlichen Sektors und ging mit verschiedenen Teilen des privaten Sektors Bündnisse ein.»

Dies stellt die entscheidenden Herausforderungen für die revolutionären Kräfte in Venezuela dar. Es geht um den Kampf sowohl gegen die Führung der PSUV wie auch gegen die rechte Opposition. Eine wichtige Herausforderung für die revolutionären Kräfte besteht jedoch auch darin, den rechten Kräften unter der Führung es MUD keine politische Munition zu liefern. Die Errungenschaften der bolivarianischen Revolution müssen aktiv verteidigt werden; dabei ist die Mobilisierung der Arbeiterklasse entscheidend, um die wichtigsten ökonomischen Sektoren unter ihre Kontrolle zu stellen.

Gemeinderäte

Am 29. März schrieb Katrin Kozarek auf der Internetseite Venezuelanalysis.com:

«Sozialistische Revolutionäre aus dem ganzen Lande … riefen die Regierung von Präsident Nicolás Maduro auf, die verfassungsmässige Anerkennung der Gemeinden zu unterstützen. Die Gemeindebewegung geniesst aktuell breite gesetzliche Anerkennung, ohne aber in der Verfassung verankert zu sein. Die Unterstützer der Gemeindebewegung jedoch sind zuversichtlich, dass sich dies mit der Initiative von Maduro für eine Verfassungsreform bald ändern könnte. ‘Die Gemeinde ist das Wesen des Volkes’, wie Frank Corrales von der sozialistischen Gemeinde JiraJara im Bundesstaat Guerrero sagte.

Als Venezuelanalysis.com mit Corrales während einer Versammlung am Dienstag sprach, sagte er: ‘Wir wissen, was wir wirklich brauchen … und es liegt an uns, von der Basis her die Umwandlung dieses Staates in Richtung eines gemeindebasierten Staates vorzubereiten. Wir müssen fortfahren, diesen Staat in einen sozialistischen Staat zu transformieren, wo es für alle Leute eine höchstmögliche Menge von Glück gibt. Die Gemeinde oder nichts!’ meinte er.»

Als Antwort auf die laufende Krise rief die Regierung eine neue verfassungsgebende Versammlung aus – die erste seit 1999 die Verfassung neu geschrieben wurde. Die Versammlung soll 500 direkt gewählte Abgeordnete umfassen und weitere 250, die von den sozialen Bewegungen gewählt werden. Das Vorgehen und der Zeitraum müssen noch festgelegt werden.

Unter allen involvierten politischen Kräften besteht ein Einvernehmen, dass die Regierung eine gewisse Verantwortung für die kürzlichen Zusammenstösse trägt, darunter die zunehmende politische Verfolgung sogar von denjenigen, die die bolivarianische Revolution unterstützen, dabei jedoch die Regierung kritisieren. Diese hat es nicht geschafft, die Lage unter Kontrolle zu bekommen und es damit dem Belieben des privaten Sektors überlässt, der die Produktion ab- und einzuschalten, und damit die Hamsterei antreibt und die Preise in die Höhe treibt, um eine Stimmung des politischen Chaos und der Instabilität zu schaffen.

Andererseits hat die von den USA unterstützte Opposition unter Führung des MUD klargemacht, dass sie nicht in Verhandlungen treten wird, während die Arbeiterklasse über ihre verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Organe fordert, dass der Prozess vertieft wird, um die seit 1998 erkämpften Errungenschaften verteidigen zu können.

Quelle: redflag.org… vom 13. Juni 2017; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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