China geht brutal gegen seine Unterschicht vor
Hendrik Ankenbrand. Fast 300 Millionen Wanderarbeiter gibt es in der Volksrepublik, die kümmerlich leben. Behörden behandeln sie wie Dreck. Die Wanderarbeiter sollen aus den überfüllten Städten verschwinden – und sei es mit Gewalt.
Im Wanderarbeitervorort Magezhuang, 23 Kilometer östlich von Pekings Platz des Himmlischen Friedens, begann der Bau von Chinas schöner neuer Welt vergangene Woche um sechs Uhr abends. „Schwarze Wächter“ tauchten vor den Unterkünften im Dorf auf, dunkel gekleidete Hilfspolizisten. Die Bewohner hätten ihre Sachen zu packen, Zeitfrist: drei Stunden.
Dann rollten Bagger an und schlugen mit ihren Schaufeln alles kurz und klein. Lastwagen fuhren die Trümmer weg, dafür brachten Transporter auf Ladeflächen junge Bäume. Die Polizei ließ Steinbarrieren auf den Zugangsstraßen zum Dorf aufstellen, damit die Wanderarbeiterfamilien nicht mehr wiederkehren konnte. Dann begann der Staat zu pflanzen. Nach drei Tagen stand dort, wo eben noch Menschen gelebt hatten, ein Pappelwald.
Wanderarbeiter – so heißt in den glitzernden Millionenmetropolen an Chinas Ostküste die Unterschicht. 282 Millionen ist sie groß, was 35 Prozent von Chinas arbeitender Bevölkerung ausmacht. Auf eine Wanderarbeiterin kommen zwei Männer, ihr Alter liegt im Schnitt bei 39Jahren. Für durchschnittlich 3572 Yuan (umgerechnet 453 Euro) im Monat putzen in Peking, Schanghai und Shenzhen die Straßen, kochen in Restaurants, schneiden Haare, fahren Taxi, ziehen Wolkenkratzer hoch und bauen am Fabrikband das neue iPhone zusammen.
Nur jeder Dritte mit Arbeitsvertrag
Einen Arbeitsvertrag hat nur jeder Dritte, in Umfragen geben 84 Prozent der Wanderarbeiter an, sie arbeiteten in der Woche mindestens 44 Stunden, oft eher das Doppelte. Gerade mal 16 Prozent haben Anspruch auf Rente, 18 Prozent eine Krankenversicherung. Ein Koch ohne Versicherung, der sich mit einer Schnittwunde den Finger entzündet, ist im Krankenhaus schnell ein Jahresgehalt los.
Der rasante Aufstieg der chinesischen Wirtschaft ist auch der Tatsache geschuldet, dass es Chinas Wanderarbeiter heute noch immer sehr billige Arbeitskräfte sind. Ihnen geht es nicht viel besser als vor dreißig Jahren, am Anfang von Chinas wirtschaftlichem Aufstieg. Auch wenn sie das Registrierungssystem als „Arbeiter vom Lande“ zählt, sind sie oft in den Städten an der Ostküste aufgewachsen oder dort sogar geboren. Doch die „Landarbeiter“ sind Menschen zweiter Klasse geblieben, die für die Schulbildung ihrer Kinder anders als die Stadtbürger bezahlen müssen.
Abschaum der Gesellschaft
Wenn es das Bürgertum wie im smoggeplagten Peking nach frischer Luft verlangt, müssen die Wanderarbeiter den Bäumen weichen. Oder einer anderen Verschönerung, wie der 35 Jahre alte Fahrer Zhu, der den Reporter im Wagen eines Taxidienstes zu den Dörfern am Pekinger Stadtrand bringt, die die Regierung derzeit räumen lässt. Viermal musste Zhu in der Hauptstadt bisher umziehen.
Im Dorf Picun zwischen der fünften und sechsten Ringstraße mit 5000 von Räumung betroffenen Wanderarbeitern hockt der Alte Wang mit seinem Enkel auf einer Decke am Straßenrand. Er kann sich gar nicht mehr erinnern, wie oft er in Peking schon sein Zuhause verloren hat. Bei fünfzehnmal hat der Alte aufgehört zu zählen.
„Diduan renkou“ wurden die Wanderarbeiter von einer Bezirksregierung in der vergangenen Woche in einem internen Schreiben genannt, wo es von ihnen nach offizieller Zählung 8 Millionen gibt. Der abschätzige Begriff ist mit Unterschicht nur unvollständig übersetzt, Bodensatz trifft es eher, der Abschaum der Gesellschaft.
Parteichef verspricht mehr Zeit für Auszug
Den Bodensatz wollten die Behörden loswerden, nachdem vor einer Woche in einer überfüllten Unterkunft für Wanderarbeiter im Pekinger Vorort Daxing ein Feuer ausgebrochen war und 19 Menschen getötet hatte. Illegale und brandgefährdete Behausungen in den Außenbezirken sollten geschlossen werden, ordneten die Beamten an, mancherorts traten die schwarzen Wächter den Bewohnern die Türen ein. Dass dann Zehntausende Menschen bei nächtlichen Temperaturen von weit unter null Grad innerhalb von Stunden auf der Straße saßen, störte die Obrigkeit wenig.
Erst als eine Welle der Empörung durchs Internet ging, Nutzer von Chinas „Reichskristallnacht“ sprachen und ausländische Reporter zu berichten begannen, versprach Pekings Parteichef Cai Qi den Wanderarbeitern für den Auszug mehr Zeit. Für den Alten Wang, seine drei Enkel, seine Frau, Sohn und Schwiegertochter in Picun bedeutete dies: Statt bereits am vergangenen Sonntag hatten sie nun fünf Tage länger Zeit. Der Strom bleibt trotzdem abgestellt, also tastet sich die Familie im Dunkeln durchs Zimmer, um Wasser zu kochen. Eine neue Bleibe haben sie in den fünf Tagen nicht gefunden.
Chinas Städte explodieren
Familie Wang will nicht weg, weil sie für zwei Kinder das Schuldgeld ein halbes Jahr im Voraus bezahlt hat, das wäre verloren. Was nun? „Wusuowei“, sagt der Alte Wang auf der Decke, ein Umzugswagen fährt vorbei, eine Stunde Miete kostet 13 Euro. „Wusuowei“ bedeutet „Ist mir egal“, ein Ausdruck von Leere und Resignation.
23 Millionen Menschen werden im Jahr 2020 in Peking leben. In Schanghai sind es bereits heute 25 Millionen, Shenzhen nahe Hongkong im Süden war Ende der siebziger Jahre noch ein Fischerdorf und zählt heute 12 Millionen Einwohner, Tendenz schnell steigend.
Republikgründer Mao hatte den Chinesen noch befohlen, viele Kinder zu gebären, weil der Herrscher darauf setzte, dank Chinas riesiger Bevölkerung einen Atomkrieg mit der Sowjetunion zu überstehen. Doch spätestens seit 1972, als der Club of Rome sieben Jahre nach Maos Tod in seiner Studie „Die Grenzen des Wachstums“ die Mär von der drohenden Überbevölkerung in die Welt gesetzt hat, ist eine der größten Ängste von Chinas herrschenden Kommunisten die Furcht vor den Massen im eigenen Land.
Volk sehnt sich nach besserem Leben
Der „Hauptwiderspruch“ in der chinesischen Gesellschaft seien heute die „stets wachsenden Bedürfnisse des Volkes nach einem besseren Leben“ und die gleichzeitig „unausgewogene und unzureichende Entwicklung“, hat Präsident Xi Jinping im Oktober auf dem Kongress der Kommunistischen Partei gesagt. Angesichts der Räumungswelle, die einen Monat später rollte, dürfen die Worte in der Rückschau als Warnung interpretiert werden: Ein besseres Leben mit weniger dreckiger Luft, weniger Stunden im Stau und ohne brennende Wanderarbeiterunterkünfte könne es mit der millionenstarken Unterschicht am Stadtrand nicht geben. In Chinas „neuer Ära“ mit blitzblanken Städten, in die die neue „Großmacht“ nach dem Willen ihres Führers eintreten soll, scheint der Bodensatz keinen Platz mehr zu haben.
Wie Kriegsgebiet muten die Schuttberge in Pekings Wanderarbeiterdörfern dieser Tage an. Selbst Pekings Mittelschicht, die sonst kaum etwas übrighat für den Bodensatz am Stadtrand, äußert ihren Verdacht, die Feuergefahr sei als Grund für die Massenräumungen nur vorgeschoben und die Regierung tatsächlich im Krieg mit der Unterschicht. „Unsere größte politische Aufgabe“, hatte Pekings Parteichef Cai Qi seine mitfühlende Weisung vom „Nichts überstürzen“ gleich wieder eingeschränkt, sei es, die „grauen Nashörner“ zu bekämpfen, ein Sinnbild für so gewaltige wie ominöse Gefahren, die das schöne Leben der wohlhabenden Stadtbürger bedrohen und damit die Machtbasis von Chinas Partei.
Wanderarbeiter sollen zurück in ihre Heimatprovinzen
„Peking falten“ heißt ein Bestseller der Schriftstellerin Hao Jingfang. Eine halbe Million Exemplare hat sie verkauft, seit August ist der Science-Fiction-Roman auf Deutsch erhältlich. Weil Luft und Sonnenlicht kostbar sind, wird im fiktiven Peking des Buchs im Schichtsystem gelebt und die 50 Millionen Köpfe zählende Unterschicht am Stadtrand zwischen 22 Uhr und 6 Uhr morgens unter der Erdoberfläche „weggefaltet“.
Am Mittwochmorgen sitzt Hao Jinfang in Peking im Taxi, sie fährt ins Büro in einer Denkfabrik, die Chinas Staatsrat in Fragen der Stadt- und Bevölkerungsentwicklung berät. Bis vor etwa zwei Jahren sind die Vorschläge des Instituts für das Überbevölkerungsproblem in der Regierung auf offene Ohren gestoßen: bessere Häuser zu bauen und ein schlaueres Verkehrssystem, Cluster zu entwickeln, anstatt einfach Menschen zu vertreiben. Nicht alles aus dem Gespräch mit Hao sollte ihr zuliebe zitiert werden, eines wird jedoch klar: auf die Strategien der Fachleute scheint Chinas Führung nicht mehr viel zu geben. Stattdessen greift die „sozialistische Großmacht“ zu den Rezepten aus der Vergangenheit. Die Wanderarbeiter sollen zurück in ihre Heimatprovinzen im Hinterland, auch wenn es dort weder Arbeit noch Wohnung für sie gibt.
Ist der Zukunftsroman real geworden? Hao verwahrt sich gegen den Vergleich. „Im Buch wurden den Wanderarbeitern am Stadtrand wenigstens Schlafplätze gestellt“, sagt sie. Die Realität aber sei schlimmer.
Quelle: faz.net… vom 4. Dezember 2017
Tags: China, Neoliberalismus
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