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Gesundheitswesen: „Ich fürchte mich vor der Zeit danach“

Eingereicht on 19. April 2020 – 15:00

Schon vor der Corona-Krise arbeitete das Gesundheitspersonal unter schlechten Bedingungen und war chronisch überlastet. Um mehr über die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals vor, während und nach der Corona-Krise zu erfahren, haben wir mit Roberta* gesprochen. Sie arbeitet auf einer Notfallstation im Raum Basel. Ihre Schilderungen zeigen eindrücklich, wie die vergangenen Sparmassnahmen die Arbeitsbedingungen systematisch verschlechtert haben. (Red.)

Sozialismus.ch: Wie nimmst du momentan die Stimmung an deinem Arbeitsplatz oder in anderen Abteilungen wahr?

Roberta: Meine Stimmung ist momentan eher gelassen. Ich arbeite aber auch auf dem Notfall, da ist die Situation anders als auf den Intensivstationen. Bei uns und auf anderen Notfallstationen sind die sogenannten «Fallzahlen» eher gesunken. Wir haben es deshalb eher ruhig. Die Zahlen sind jedoch derart stark gesunken, dass es uns Sorgen bereitet. Es kann eigentlich nicht sein, dass es weniger Schlaganfälle und Herzinfarkte gibt. Wir befürchten, dass diese Menschen einfach nicht mehr auf den Notfall gehen.

Zu Beginn der Corona-Krise war es sehr unruhig und chaotisch. Es gab viele Unsicherheiten und Änderungen. Wir wussten zu Beginn auch nicht, ob wir eingezogen werden könnten. Doch seit drei Wochen ist die Lage eher stabil. Mein Eindruck ist, dass die Situation bei uns momentan nicht ausserordentlich belastend ist, mit Ausnahme für die Grenzgänger*innen. Während einer gewissen Zeit haben einigen von ihnen in Hotels übernachtet, weil es unklar war, ob die Grenzen für die Grenzgänger*innen geöffnet bleiben. Das war sehr belastend. Inzwischen hat sich aber gezeigt, dass die Grenzen für sie offenbleiben.

In anderen Abteilungen ist es aber sicher anders. In der Intensivpflege haben die Pfleger*innen mehr zu tun als auf dem Notfall. Auch die IMC – das ist eine Mischstation zwischen der medizinischen Abteilung und der Intensivstation – ist stärker belegt. Denn man versucht, Patient*innen von der Intensivstation in die IMC-Abteilung zu verschieben, um Beatmungsgeräte freizuhalten.

Im Bruderholzspital ist die Situation gravierender. Dort wurde ein Ferienstopp verhängt und es wurden 12,5-Stunden-Schichten eingeführt. Die Pfleger*innen werden auch innerhalb der Spitalgruppe des Kantonsspitals Baselland (diese beinhaltet die Spitäler Liestal, Laufen und Bruderholz) hin und her geschickt. Es herrscht Unsicherheit in Bezug auf die Arbeitspläne. Manchmal wissen die Pfleger*innen nicht einmal, wann sie in der darauffolgenden Woche arbeiten müssen. Gerade für jene, die Kinder betreuen müssen, ist das eine grosse Belastung. Auf dem Bruderholz ist die Station zwar noch nicht komplett überfüllt. Doch die Behandlung von Corona-Patient*innen ist ganz generell sehr belastend, weil sich die Situation der Patient*innen sehr schnell verschlechtern kann und sie plötzlich intensivpflegebedürftig werden. Die Angst der Pflegenden ist, dass dieser Moment verpasst wird, weil die Patient*innen nicht rund um die Uhr überwacht werden können.

S: Wie sieht die Materialausstattung aus?

R: Letzte Woche gab es im Bruderholzspital zu wenig Schutzmaterial. Das ist sehr belastend. Die Angestellten mussten mit Regenmänteln statt Schutzkitteln arbeiten. Dieser Mangel wurde unterdessen aber behoben.

Bei uns wurden die Schutzmasken ebenfalls reduziert. Früher konnten wir zwischen den Patient*innen auch die Schutzmaske wechseln. Jetzt haben wir eine Maske pro Schicht. Das ist sehr unangenehm und ich musste mich zuerst daran gewöhnen. Denn man hatte jahrelang die Gewohnheit, die Masken innerhalb eines Tages mehrmals zu wechseln.

Desinfektionsmittel wurden auch reduziert. Mittlerweile gibt es in der Umziehkabine keine Desinfektionsmittel mehr. So kann man sich nicht mehr vor dem Austritt aus dem Spital nochmals die Hände desinfizieren.

S: Wie wird das Personal getestet?

R: Wir werden nur bei Symptomen getestet. Wir müssen sogar weiterarbeiten, wenn wir positiv sind, ausser wir haben Fieber. Diese Weisung finde ich nicht akzeptabel. Denn man ist immer mit Menschen in Kontakt, auch wenn man eine Maske trägt und die Hände desinfiziert.

F: Mit der Verordnung des Bundesrates wurden die Anforderungen an das Gesundheitspersonal erhöht. Wie erlebst du das?

R: Insgesamt habe ich das Gefühl, dass viel applaudiert wird und man sich beim Pflegepersonal bedankt, dass aber gleichzeitig in vielen Spitälern sehr schwierige Arbeitsbedingungen herrschen. Pfleger*innen wissen nicht, wann sie nächste Woche arbeiten. Einige können auch keine Ferien nehmen.

Ich fürchte mich vor allem vor der Zeit danach. Denn jetzt wurden viele Behandlungen verschoben. So akkumuliert sich enorm viel Arbeit, die irgendwann erledigt werden muss. Eine offene Frage ist auch, wann wir jene Urlaubstage nehmen können, die wir jetzt nicht nehmen dürfen.

Auf der einen Seite werden Milliarden in Firmen gesteckt, damit sie nicht pleite gehen. Auf der anderen Seite wird die Arbeit auf immer dieselben Personen abgewälzt. Man zeigt sich zwar dankbar, doch eine Lohnzulage oder bessere Arbeitsbedingungen haben wir nicht erhalten. Im Gegenteil: Wir haben sogar zu wenig Schutzkleidung.

Ich sehe auch keine Einsicht vonseiten der Politik. Die jahrelange Sparpolitik im Gesundheitswesen – die Privatisierungen usw. – wird nicht infrage gestellt. Es zeichnet sich also momentan kein Kurswechsel in der Gesundheitspolitik ab.

S: Wie haben sich die Arbeitsbedingungen in den letzten Jahren entwickelt?

R: Ich habe lange auf einer Medizinabteilung gearbeitet. Die Arbeitsbedingungen waren sehr belastend. Als Neuanfängerin hat man mir nahegelegt, ich solle doch eine Fortbildung zur Burnout-Prophylaxe machen. So wird Ermüdung und Stress beim Personal als individuelles Problem abgetan. Es heisst dann immer, man sei zu wenig «belastbar».

Nach einigen Jahren habe ich auf die Notfallstation gewechselt. Der Grund war die Arbeitsbelastung. Wir mussten sehr viele Entscheidungen treffen, die eigentlich ethisch nicht vertretbar waren. Wir mussten Patient*innen vernachlässigen. Wir konnten keine Beziehung zu den Patient*innen aufbauen, was allerdings zentral wäre, und mussten uns auf die medizinisch dringlichste Behandlung beschränken. Kurzum: Man konnte nicht das machen, wofür man eigentlich als Pflegekraft ausgebildet wurde. Dementsprechend fühlte man sich ständig schlecht, weil man eigentlich mehr machen müsste. Damals fiel mir auf dem Nachhauseweg regelmässig ein, was ich eigentlich noch hätte tun müssen. Es war sehr schwierig abzuschalten.

Nachdem ich diese Abteilung verlassen habe, haben auch alle meine früheren Kolleg*innen gekündigt oder auf eine anderen Station gewechselt. Die Spitalleitung nimmt die Bedürfnisse des Pflegepersonals überhaupt nicht ernst. Während man fürs Management schöne neue Gebäude baut, wird das Pflegepersonal überhaupt nicht in die Entscheidungen eingebunden.

S: Wir würdest du deine aktuelle Arbeitssituation beschreiben?

R: Auf dem Notfall ist die Situation sehr unterschiedlich. Es gibt Schichten, in denen wir ständig zu tun haben. Wir sind dann 8,5 Stunden auf den Beinen, kommen fast nicht dazu, auf die Toilette zu gehen oder etwas zu trinken. An ganz schlimmen Tagen machen wir auch nur 15 Minuten Pause, damit die Kolleg*innen nicht allzu stark ins Rotieren kommen. Gleichzeitig gibt es auch in ruhigeren Zeiten fast nie Momente, in denen wir nichts zu tun haben.

Im vorletzten Winter gab es eine sehr grosse und anstrengende Influenzawelle. Danach hat man in unserer Abteilung kurzerhand einige Stellen gestrichen. In der Folge haben dann nochmals mehrere Leute gekündigt, weil sie das nicht vertretbar fanden. Das waren alles Pfleger*innen mit langjähriger Erfahrung. Daraufhin hat die Spitalleitung verstanden, dass es keine gute Idee war und die Entscheidung rückgängig gemacht. Das Personal musste sich aber zuerst wehren, indem viele Pfleger*innen die Stelle verlassen haben.

Der Grund für diese Stellenkürzungen sind die Fallpauschalen, die das Spital zu ständigen Sparmassnahmen zwingen. Vor allem die Notfallstation hat ein ständiges Defizit. Hinzu kam, dass auch der Kanton die Ausgaben gekürzt hatte und das Spital für die Notfallstation deshalb eine doppelte Sparrunde vornehmen musste.

S: Welche Forderungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen werden aktuell gestellt?

R: Momentan gibt es Forderungen zur aktuellen Situation: genügend Schutzausrüstung, keine 12,5 Stunden Schichten, keine Ferienstopps, Gefahrenzulagen usw.

Langfristige Forderungen wären ein Stopp der Sparmassnahmen, Stopp von Privatisierungen, keine Fallpauschalen, keine Ausgliederungen von Spitälern, mehr Pflegepersonal sowie mehr Lohn für Pflegende – also ganz grundsätzlich ein Stopp der Ökonomisierungstendenzen.

*Name von der Redaktion geändert.

Quelle: sozialismus.ch… vom 19. April 2020

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