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Schweiz: Das Gesundheitssystem in der Sackgasse

Eingereicht on 2. April 2015 – 8:28

Benoit Blanc. Im Herbst 2014 wurde die Initiative der SP für eine Einheitskrankenkasse abgelehnt. Trotz des ständig wachsenden Drucks auf die Versichterten und die Pflegenden, trotz der fortschreitenden Privatisierung des Gesundheitswesen und trotz der zunehmenden Abwälzung der Kosten auf die Lohnabhängigen, konnten sich die privaten Profiteure des gegenwärtigen Systems in der Abstimmung durchsetzen. Der vorliegende Artikel versucht sechs Achsen aufzuzeigen, die einen Weg aus der Sackgasse, in der das (schweizerische) Gesundheitssystem derzeit steckt, darstellen können.

Die Initiative für eine öffentliche Krankenkasse wurde am 28. September 2014 von 61,8% der Stimmberechtigten verworfen. In vier Kantonen wurde sie angenommen: Genf, Waadt, Neuenburg und Jura. In drei weiteren Kantonen sprachen sich über 40 Prozent für die Vorlage aus: Freiburg, Basel-Stadt und Tessin. In den anderen Kantonen liegt die Zustimmung tiefer, beispielsweise beträgt sie in Zürich und Aargau weniger als ein Drittel. Im Vergleich zur Abstimmung von 20o7 über eine soziale Einheitskrankenkasse steigerte sich der Anteil der Ja-Stimmen schweizweit jedoch um 9,4 Prozentpunkte. Gegenüber der Abstimmung von 2003 über die Initiative «Gesundheit muss bezahlbar bleiben» beträgt die Zunahme der Ja-Stimmen 11,1 Prozentpunkte, und im Vergleich zur Initiative von 1994 «Für eine gesunde Krankenversicherung», die gleichzeitig mit dem Krankenversicherungsgesetz KVG zur Abstimmung kann, war die Zustimmung diesmal 14,8 Prozentpunkte höher. Wie sind das Abstimmungsresultat und die im Vorfeld geführte Kampagne zu beurteilen?

Grenzen einer Niederlage

Die Leitung der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS) als Trägerin der Initiative hatte nach der Niederlage von 2007 ihre Roadmap verkündet: Man wolle mit einer schlankeren Vorlage nochmals antreten, um eine Mehrheit dafür zu gewinnen (hierfür wurde die Frage der einkommensabhängigen Prämien fallen gelassen, die seit den 1970er Jahren in allen linken Projekten zur Krankenversicherung ein zentraler Punkt war). Angesichts der starken Prämienerhöhung im Anschluss an die Abstimmung von 2007 und der Enthüllungen über zu hohe Prämienzahlungen in verschiedenen Kantonen wurde der Unmut der Bevölkerung als Hinweis darauf präsentiert, dass sich bürgerliche Kreise für einen Systemwechsel erwärmen könnten, sofern die soziale Dimension eines solchen Wechsels zurückgedrängt würde. Dieses Vorgehen ist gescheitert, wie sich schon während der Abstimmungskampagne zeigte. Kein wesentlicher Teil des bürgerlichen Spektrums unterstützte die Initiative und die Mehrheit der Stimmberechtigen wurde klar verfehlt.

Dennoch ist eine Steigerung des Anteils der Ja-Stimmen um fast zehn Prozentpunkte gegenüber 2007 (und noch mehr gegenüber früheren Abstimmungen) ansehnlich. Wie viel davon auf die Taktik einer Light-Vorlage seitens der Initianten zurückgeht, und wie viel auf eine allgemeine Unzufriedenheit gegenüber dem aktuellen System der Krankenversicherung, ist nicht zu ermitteln. Gleichwohl ist das Abstimmungsresultat ein Rückschlag für die Krankenversicherer. Deren finanzstarke Kampagne, die mit Ängsten operierte, konnte nicht jene erdrückende Mehrheit erreichen, die das Thema ad acta gelegt hätte.

Die Kulisse steht bereit

Während der Kampagne zur Abstimmung vom 28. September 2014 hat Bundesrat Alain Berset seine Kollegen von der SP als Träger der Initiative mit Bedacht ins Leere laufen lassen. Statt die Vorlage zur öffentlichen Krankenkasse frontal anzugreifen, verlagerte er die Diskussion auf das Terrain der Kernfrage der Kostenentwicklung, woran die Initiative nichts ändern würde und die mit dem medizinischen Fortschritt zusammen hänge (notabene sind jetzt nicht mehr die Alterung der Bevölkerung oder der masslose Konsum von Gesundheitsleistungen durch die Versicherten Schuld an der Kostensteigerung, wie endlos wiederholt wurde seit der Zeit von Ruth Dreifuss, der früheren Gewerkschafterin und Bundesrätin vom 1. April 1993 bis Dezember 2002). Eine jährliche Erhöhung der Krankenkassenprämien um 3 bis 4 Prozent wäre daher unausweichlich, erklärte Bundesrat Berset mit Unterstützung der Bürgerlichen und der Krankenversicherer, denen damit der Rücken freigehalten wurde.

Die Logik dieser Stellungnahme ist nicht ganz unerwartet. Eine jährliche Steigerung von 3 Prozent bedeutet eine Zunahme um ein gutes Drittel über zehn Jahre, während die Löhne höchstwahrscheinlich im besten Fall stagnieren. Die Belastung durch die Krankenversicherungskosten wird für breite Teile der Bevölkerung noch massiver, womit Vorschläge für Kosteneinsparungen Aufwind bekommen könnten. Denn der gleichzeitige Druck auf die öffentlichen Finanzen aufgrund von Steuerentlastungen führt unweigerlich zu neuen Sparmassnahmen im Gesundheitswesen: Senkung der Prämienverbilligung bei der Krankenversicherung, Schliessung von Spitälern (oder Spitalabteilungen), Mehrbelastung des Gesundheitspersonals, Zugangsbeschränkung zu Gesundheitsleistungen, beispielsweise durch eine Neuauflage von Managed Care oder durch Streichung bestimmter Leistungen aus dem Katalog der Grundversicherung sind Optionen, die mit Sicherheit wieder auftauchen werden. Sicherlich werden auch die Krankenversicherer wieder mit Änderungsvorschlägen zur Kostenverteilung aufwarten, unter dem Vorwand der Entlastung jener, «die es wirklich nötig haben», indem beispielsweise junge Erwachsene gegen ältere Menschen ausgespielt werden.

Noch eine Stufe tiefer?

Trotz dem Druck auf die Gesundheitsversorgung von allen Seiten haben die Verantwortlichen der Initiative für eine öffentliche Krankenkasse nach der Abstimmung vom 28. September vor allem eines im Sinn, nämlich die Schaffung solcher öffentlicher Krankenkassen auf kantonaler Ebene. Damit führen sie die nach dem Misserfolg von 2007 gewählte Strategie fort, einfach ein paar Stufen tiefer. Sie geben sich als kluge Taktierer und sagen: Nehmen wir jene Kreise beim Wort, die von «freier Wahl» reden, und fordern wir für die Kantone die Freiheit, eine Einheitskrankenkasse einzurichten. Jedoch sind die wirtschaftlichen und sozialen Interessengegensätze hinter den politischen Positionsbezügen keine reinen Gedankenspiele. Die Chance, dass ein solch «vernünftiger» Vorschlag von den Profiteuren des aktuellen Systems und ihren treuen Dienern in der Politik wohlwollend behandelt wird, ist gleich null. Es wird also eine neue Volksinitiative brauchen. Die Erfolgsaussichten sind alles andere als rosig (warum sollten sich auch erheblich besser sein als bei der jetzigen Abstimmung?), zudem hätten solche beschränkten kantonalen Einrichtungen eine sehr geringe Reichweite angesichts der verhängnisvollen Gesamtdynamik im Gesundheitswesen.

Ein ganzheitliche Sicht: Sechs Schwerpunkte zur öffentlichen Diskussion

Angesichts dieser Sackgasse braucht es eine andere, ganzheitliche Perspektive. Dabei sind sechs Schwerpunkte wichtig.

1. Die Zunahme der Gesundheitskosten ist an und für sich kein Problem und ist auch keine «Last», die die wirtschaftliche oder soziale Entwicklung hemmt oder die Gesellschaft ärmer macht. Die Kostensteigerung spiegelt im Gegenteil den Wohlstand der Gesellschaft wider und hängt mit veränderten Modalitäten und Techniken in der Gesundheitsversorgung zusammen. Zudem werden Investitionen im Bereich Gesundheit durch die Bevölkerung grossmehrheitlich gutgeheissen und mitgetragen. Auch der universelle Zugang zu Gesundheitsleistungen wird allgemein anerkannt. Daher gilt es, das Phantom der «Kostenexplosion» im Gesundheitswesen in der öffentlichen Diskussion zu bekämpfen (damit ist nicht gesagt, dass sämtliche medizinischen Entwicklungen unterstützt werden sollen oder dass die Preise akzeptiert werden müssen, die der medizinisch-industrielle Komplex insbesondere im Bereich Medikamente diktiert, siehe hierzu Punkt 6).

2. Hingegen bedeuten die Gesundheitskosten für weite Teile der Bevölkerung heute eine erhebliche finanzielle Belastung. Dies ist die Folge der aktuellen Kostenverteilung bei der Finanzierung des Gesundheitswesens, und nicht die Folge der Höhe der Kosten an sich.

Diese Kostenaufteilung ist aus zwei strukturellen Gründen sozial ungerecht. Erstens fallen die Kopfprämien für die Krankenversicherung proportional viel stärker ins Gewicht für Menschen mit geringem Einkommen als für jene mit (sehr) hohen Einkünften. Zweitens wird ein guter Teil der Gesundheitsausgaben durch die Krankenversicherung oder andere Versicherungen gar nicht gedeckt. Heute wird bekanntlich jeder vierte Franken für die Gesundheit direkt von den Haushalten getragen. Darin inbegriffen sind insbesondere die Kostenbeteiligungen bei der Krankenversicherung (Franchise, Selbstbehalt), Behandlungen, die von der Krankenkasse nicht übernommen werden (Zahnbehandlungen und Weiteres) sowie die Beteiligung an Spitexkosten oder für den Aufenthalt in Alters- und Pflegeheimen, die sehr hoch ausfallen können und noch weiter ansteigen werden aufgrund der Sparpolitik der Kantone. All dies führt dazu, dass ein Teil der Bevölkerung aus finanziellen Gründen auf Behandlungen verzichtet: Gemäss einer Umfrage in Westschweizer Arztpraxen trifft diese Situation auf 11 Prozent der Bevölkerung zu.[1]

Um diese Probleme zu lösen, braucht es eine bessere Abdeckung durch die Krankenkassen sowie Prämien, die nach Einkommen abgestuft sind und zu mindestens 50 Prozent durch die Arbeitgeberschaft finanziert werden. Das System der AHV zeigt, wie gut eine solche solidarische Finanzierung funktioniert. Dadurch erklärt sich auch, dass die Bürgerlichen und die Arbeitgeber sich seit jeher gegen ein solches System sträuben.

3. Die öffentliche Hand finanziert derzeit fast ein Drittel aller Gesundheitsausgaben. Die wichtigsten Finanzierungskanäle sind: die kantonale Finanzierung der Spitalaufenthalte und die kantonale (oder kommunale) Subventionierung der Spitexpflege und der Alters- und Pflegeheime, die Prämienbeihilfen für niedrige Einkommen sowie die Ergänzungsleistungen zur AHV, insbesondere zur Finanzierung des Aufenthalts in Alters- und Pflegeheimen.

Währenddessen kündigen sich mit der dritten Unternehmenssteuerreform – ein Urknall, glaubt man dem befürwortenden Steuerexperten Xavier Oberson [2] – ein massive Schwächung der öffentlichen Finanzen und damit ein dauerhafter Rückgang der Mittel der öffentlichen Hand an (3 Milliarden Mindereinnahmen pro Jahr, gemäss offiziellen Angaben). Die Gesundheit wird unweigerlich von Sparmassnahmen betroffen sein. Über die Zukunft des Gesundheitswesens diskutieren zu wollen, ohne diese gefährliche Dimension miteinzubeziehen, ist im besten Fall sinnlos. Die erneuten Steuergeschenke zugunsten des Kapitals werden die Ressourcen der Öffentlichkeit regelrecht austrocknen. Die Vorlage kann weder verbessert noch abgeschwächt werden, sie muss verworfen werden. Die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst, aber auch darüber hinaus, sollten eigentlich merken, um was es geht und dieser Auseinandersetzung höchste Priorität einräumen.

4. Ein wesentlicher Bereich der Tätigkeit eines privaten Versicherers ist die Aufteilung «seines» Marktes, um rentable Versicherungsofferten zu machen, die sich für die Versicherung rechnen. Es geht dabei sicherlich nicht um «Produktivitätssteigerung» aufseiten der Leistungserbringer im Gesundheitswesen. Die «Jagd auf gute Risiken» ist im Rahmen des KVG (mit Versicherungsobligatorium und Einheitsprämie unabhängig vom Risiko) eine ganz logische Art und Weise, sich als Versicherer zu betätigen. Dadurch erklärt sich auch, dass diese Jagd auf gute Risiken allgegenwärtig ist und sich weiter fortsetzt. Daher sind auch alle Systeme für einen (verfeinerten) «Risikoausgleich» zum Scheitern verurteilt.

Angesichts der kommenden Prämienerhöhungen werden die Versicherungen mit Sicherheit wieder ihre Vorschläge einreichen. Damit wollen sie sich neue Segmente auf dem Versicherungsmarkt schaffen und die Lasten umverteilen zugunsten der finanziell interessanten (d.h. mobilen und billigen) Segmente, um deren Sympathie – und Zustimmung – zu gewinnen, zulasten der gefangenen Versicherten wie beispielsweise ältere Menschen. Dies könnte über neue Formen von Managed Care oder über die Erhöhung der zulässigen Franchisen geschehen. Versicherungen wie Groupe Mutuel verlangen seit Jahren eine Prämiendifferenzierung nach Alter. Konstantin Beck, Gesundheitsökonom bei der (christlich-sozialen) CSS-Krankenversicherung, hat für Kosten bis 10’000 Franken eine freiwillige Versicherung vorgeschlagen, deren Prämien je nach Risiko ausgestaltet wären, zusätzlich zur obligatorischen Versicherung mit Einheitsprämien für höhere Gesundheitsausgaben.[3] Weiter könnten auch Abstriche bei den Leistungen der Grundversicherung gefordert werden, die wiederum für die privaten Versicherer den Markt vergrössern würden.

All diese Vorstösse hätten zur Folge, dass die ungleiche finanzielle Last durch die Krankenversicherung und die ungleiche Abdeckung je nach Bevölkerungsgruppe noch verschärft würden. Damit würden weitere Schichten der Gefahr ausgesetzt, nicht mehr die nötigen Gesundheitsleistungen zu erhalten, die sie benötigen.

In einem solidarischen System müssten im Gegenteil alle die gleiche Abdeckung durch die Krankenversicherung geniessen, und die Finanzierung sollte solidarisch zwischen Generationen, Geschlechtern und Einkommensklassen geregelt sein, so dass jede und jeder Zugang zu Gesundheitsleistungen hat, unabhängig von finanziellen Überlegungen. Ein solches System ist unvereinbar mit der Tätigkeit der privaten Krankenversicherungen. Damit ist bereits hinreichend begründet, warum es eine öffentlichen Krankenkasse braucht.

5. Bundesrat Alain Berset hat ein Rezept, um das Gesundheitswesen «effizienter» zu machen: Er will bessere «Anreize» schaffen. Mit der Umsetzung ist der neue Vize-Direktor am Bundesamt für Gesundheit, Oliver Peters, betraut, der sogar daran glaubt.

Das Duo Effizienz-Anreize bezieht sich einen ganz bestimmten Rahmen, nämlich auf einen Markt, auf dem der Wettbewerb zwischen privaten Interessen gilt (so viel zur Effizienz), während die Anreize die «Mängel» des Marktes korrigieren sollen. Dies bedingt Dutzende von Indikatoren zur Qualität, Wirtschaftlichkeit usw. usf., gepaart mit finanziellen Anreizen, damit die Akteure auf dem Markt zu einem anständigen Verhalten motiviert werden, sozusagen gegen ihren freien Willen.

International hat sich bereits gezeigt, wie ein solches System funktioniert, sei es in der Gesundheit, in der Bildung oder in anderen Bereichen: Anreizsysteme sind ein Schwindel, der einzig dazu dient, dem Markt und den damit bedienten Interessen etwas Legitimität zu verleihen, ohne dass die grundsätzlichen Bedingungen geändert werden müssen.

Die ewige Leier, nach der nur die Marktmechanismen, mit Korrektur einiger Qualitätsindikatoren, in der Lage seien, eine effiziente Entwicklung des Gesundheitswesen zu gewährleisten, muss offen bekämpft werden. Was heisst überhaupt Effizienz? Was sind die Kriterien dafür? Für wen? Und zu welchem Preis?

Die Spitalfinanzierung durch Fallpauschalen (Diagnosis related groups oder DRG), die Verkörperung dieses Modells im Gesundheitswesen, zeigt in welche Richtung Antworten gesucht werden müssen. Das Effizienzkriterium wird hier rein finanziell gedacht. Die wichtigsten Begünstigten sind Konzerne der Privatwirtschaft, die ihre Marktanteile in rentablen Segmenten erhöhen wollen. Standardisierung und Industrialisierung der Prozesse machen aus Patientinnen und Patienten abstrakte Gebilde, ohne medizinische, gesellschaftliche und psychosoziale Realität, obwohl diese Dimensionen gerade entscheidend für den Pflege- und Genesungsprozess sind. Das Personal wird doppelt unter Druck gesetzt: erstens durch Intensivierung der Arbeit aufgrund der Industrialisierung der «Spitalproduktion» und zweitens durch den so entstehenden Widerspruch mit den Qualitätsanforderungen bei der Pflege, die zum Kern des Berufsbildes gehören, aber immer weniger erreichbar sind. Die Zugabe von Qualitätsindikatoren ändert daran nichts, wie die Erfahrung aus Ländern zeigt, die die Finanzierung über DRG schon länger eingeführt haben.

In der Entwicklung im Bereich Alters- und Pflegeheime oder Spitex zeigen sich ebenfalls die Auswirkungen des Diktats der Effizienz und des Kostendrucks auf kantonaler Ebene. Privates Kapital drängt auf diese Tätigkeitsfelder und verschlechtert sowohl die Qualität der Betreuung (bis an die Grenze zur Misshandlung) als auch die Arbeitsbedingungen. [4] Somit beweist das Kapital seine eigene «Effizienz» und konsolidiert seine Profitmarge.

Die Alternative liegt in einem öffentlichen Gesundheitssystem ohne Privatkapital, mit Zielen, die in einem kooperativ und demokratischen Prozess definiert werden, unter Einbezug von Vertretungen des Pflegepersonals, der Patientinnen und Patienten, der öffentlichen Hand und der Sozialversicherungen. Ein solcher Rahmen räumt Interessengegensätze nicht aus und benötigt wie alle demokratischen Prozesse Zeit und Ressourcen. Auch ist damit noch nicht garantiert, dass sinnvolle Optionen gewählt werden. Jedoch wird so die Möglichkeit geschaffen, das Diktat der finanziellen Rationalität und der privaten Kapitalinteressen zu überwinden, indem die verschiedene Bedürfnisse und Erwartungen in Sachen Gesundheit (öffentliche Gesundheit, soziale Prioritäten, Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten sowie der Pflegenden) ausgehandelt werden können.

6. Das Gesundheitswesen wird heute durch einen medizinisch-industriellen Komplex überschattet, in dem Pharma-, Geräte- und Instrumentenhersteller, Consulting-Firmen, Spitalketten und Versicherungen dominieren. Die Einflussnahme von Pharma und Industrie auf Forschung und Lehre hat ungeheuerliche Ausmasse angenommen. Die klinische Praxis wird ganz direkt beeinflusst.

Am anderen Ende der Kette werden auch die Ängste der Patientinnen und Patienten subtil geformt, insbesondere durch die Zurichtung der Patientenverbände, um Produkte zu legitimieren, die durch die Pharma und die Hersteller medizinischer Geräte auf den Markt geworfen werden. Dadurch entstand ein perverser Mechanismus, bei dem das Bedürfnis nach Gesundheit fehlgeleitet und umgeformt wird, um die Interessen der Firmen des medizinisch-industriellen Komplexes zu bedienen. Die Verwertungsdynamik des privaten Kapitals verformt das Gesundheitswesen und bläht bestimmte Teile davon weit über den Bedarf hinaus auf, während andere, nicht rentable Bereiche vernachlässigt werden.

Diese Dynamik muss durchbrochen werden, wenn man die Bedingungen schaffen will für ein Gesundheitswesen auf der Grundlage einer kooperativen und öffentlichen Definition des Gesundheitsbedarfs und der dafür nötigen Mittel. Die Achse Industrie-Forschung-Lehre-Klinik unter Vorherrschaft des medizinisch-industriellen Komplexes muss durch eine öffentliche Achse Forschung-Lehre-Klinik abgelöst werden, die nicht mehr von der Industrie abhängig ist.

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[1] Bodenmann P. et al (2014), Screening Primary-Care Patients Forgoing Health Care for Economic Reasons, PLOSone, April 2014, vol 9, Issue 4

[2] Le Temps, 30.9.2014

[3] K. Beck, V. von Wyl (2012), Quo Vadis ? – Konzept einer liberalen Reform der Schweizer Krankenversicherung, J UROL UROGYNÄKOL 2012; 19 (1)

[4] Betreffend Alters- und Pflegeheime, siehe Sonntags-Zeitung vom 28.09.2014, «Millionengewinne auf Kosten der Betagten»

Quelle: sozialismus.ch; Original auf Französisch erschienen auf À l’encontre am 10. Oktober 2014. Übersetzung K.V.

 

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