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100 Jahre Novemberrevolution: Der Aufstand in Kiel

Eingereicht on 21. November 2018 – 10:22

Zum offenen Ausbruch kam die revolutionäre Bewegung in Kiel. Der Anlaß war die Weigerung der Matrosen der Hochseeflotte, in diesem Stadium des Zusammenbruchs noch einmal auszufahren und der englischen Flotte eine Seeschlacht zu liefern, die an der militärischen Lage nichts ändern konnte, aber die Vernichtung der deutschen Flotte und den sicheren Untergang der 80 000 Matrosen herbeigeführt hätte, die als letztes Riesenopfer in den unersättlichen Rachen des imperialistischen Kriegswahnsinns geworfen werden sollten. Aber das war nur der Funke ins Pulverfaß, der die Explosion herbei­führte. Seit Jahren war in der Flotte so viel revolutionärer Zündstoff angehäuft, hatte sich die innere Klassenfront zwischen Mannschaften und Offizieren so scharf heraus­gebildet, daß es nur eines solchen äußeren Anstoßes bedurfte, um die ausgehungerten, erbitterten, von ihren Offizieren geschurigelten Mannschaften der Flotte zur offenen Meuterei zu bewegen. In dem letzten Briefe eines Matrosen an seinen Vater vom 2. November 1918, der von sozialdemokratischer Seite veröffentlicht wurde, werden die kritischen Tage auf der Hochseeflotte mit der drastischen Frische des direkten Erlebnisses geschildert:

„An Bord, 2. November 1918.

Mein lieber Vater!

Am Montagnachmittag ging die gesamte Hochseeflotte aus dem Hafen, alles, was dazu ge­hört, wie Torpedoboote, kleine Kreuzer und sämtliche Linien­schiffe. Obwohl SMS .Kaiser‘, .Pillau‘ und .Königsberg‘ Ma­schinenhavarie hatten, sind die Schiffe doch mitgefahren. Das war kein gutes Zeichen . . . Bei uns stieg nachmittags der ge­samte Flottenstab über und quartierte sich für mehrere Tage ein, obwohl bei gewöhn­lichem Manöver der Stab nur einen Tag hier an Bord bleibt. Es wurde uns nun am Montag­abend bekannt, daß ein großer Vorstoß geplant war, der, falls er zur Ausführung gelangt wäre, uns allen das Leben ge­kostet hätte. Aber es kam an­ders. Wir erfuhren, daß andere Schiffe bei Helgoland die Feuer herausreißen wollten. Unsere Besatzung hat sich dem ein­mütig und solidarisch ange­schlossen. Wir zum Beispiel und noch andere Schiffe mehr wären überhaupt nicht von der Stelle gefahren. Nachts 3 Uhr sollte die gesamte Flotte aus­laufen, aber die einzelnen Schiffskommandanten meldeten ihrem Geschwaderchef und dieser dem Flottenchef, Admi­ral Hipper, daß die Besatzun­gen gemeinschaftlich den Ge­horsam verweigern wollten. Daraufhin wurde das Unter­nehmen um vier Stunden verschoben. Da sich aber die Stimmung nicht gebessert hatte, obwohl uns die Kommandanten durch allerhand schön gehaltene Reden anfeuern und irreführen wollten, wurde es nochmals verschoben und dann noch einmal.

Am Donnerstag früh (31. Oktober) sollte es aber unbedingt rausgehen. Es wurde folgendes Geheim­signal an alle abgegeben: .Vorhaben ist unbedingt zur Ausführung zu bringen‘. 8 Uhr 15 Minuten sollte die Fahrt auf Nimmerwiedersehen angetreten werden, aber es kamen ungefähr eine Stunde vorher wieder Geheimsignale zurück: .Vorhaben kann unmöglich ausgeführt werden‘. Die Offiziere hatten nämlich inzwischen einsehen müssen, daß sie mit diesen Besatzungen ihren verbrecherischen Streich nicht aus­führen konnten. Wir fuhren zurück nach Wilhelmshaven, und der Stab mußte unverrichteter Sache wieder von Bord gehen. Da konnte man süßsaure Mienen beobachten, aber wir haben nur alle uns herzlichst die Hand geschüttelt mit den Worten: .Sieg auf der ganzen Linie!‘

Nun wurden wieder große Reden von den einzelnen Schiffskommandanten gehalten, deren Sinn ich nicht erst wiederzugeben brauche. Jetzt wollten sie es so hinstellen, als sei nur ein harmloses Manöver beabsichtigt gewesen. Daß dies aber nicht der Fall war, will ich Dir im einzelnen beweisen: Zunächst: auf dem Panzerkreuzer .Derfflinger‘ haben die Offiziere ihre ganzen Privatsachen ans Land gebracht, ferner hat ein Offizier einen Abschiedsbrief an seine Eltern geschrieben, in dem u. a. stand: .Diese Schmach wollen wir nicht mitmachen, wir sterben lieber den Heldentod.‘ (Und die 80 000 un­schuldigen Menschen natürlich mit.) Der Panzerkreuzer .Moltke‘ hatte in der Nacht, in der es um 3 Uhr abgehen sollte, seinen hinteren Schornstein rot angemalt. Das ist das sicherste Zeichen, daß wir kein Manöver vorhatten. Als aber die Besatzung, besonders die Heizer, es gemerkt hatten, wurde auf den Befehl zum Auslaufen der Gehorsam verweigert. Nachträglich hat der Schornstein seinen grauen Anstrich wieder erhalte? Unsere Minensuchboote hatten Befehl erhalten, die Fahrstraße nach Skagen und weiterhinaus von Minen zu säubern. Was hatten wir oben bei Skägen verloren? Manövriert wird in der Helgoländer Bucht, aber nicht da oben. Zu dem Unternehmen waren schließlich eine große Menge U-Boote bei Helgoland konzentriert worden.

Lieber Vater! Es bedarf gar keiner Beweise weiter; wir haben es alle gefühlt, daß es unsere letzte Fahrt wäre, daher die instinktive Gehorsamverweigerung. Auf einzelnen Schiffen sind nun daraufhin noch kleinere und größere Ausschreitungen vorgekommen; bis jetzt sind 1000 Mann verhaftet und nach Bremerhaven transportiert worden. Ich will Dir noch mitteilen, daß, wenn nicht bald der Waffenstillstand kommt, hier die schönste Militärrevolte ausbricht und man gezwungen ist, den Weg nach der Heimat mit dem Gewehr zu ebnen . . .

Dein Sohn Otto.“

Der Brief schließt mit dem Satze: „Es ist schade um jeden Blutstropfen, der noch für diese Lumpen vergossen wird.“ Das war die allgemeine Stimmung nicht nur in der Marine, sondern auch bei den abgekämpften, ausgebluteten Divisionen der Armee. Die Soldaten hatten alle „den Kanal voll“. Als Zeugnis dafür fügen wir hier noch die Aus­führungen des Vorsitzenden der vierten Feldarmee, Levinsohn, an, eines Mannes, der in den Revolutionsmonaten an der Seite der Regierungssozialisten Ebert-Scheidemann unentwegt für „Ruhe und Ordnung“ gearbeitet und gehetzt hat und der im Vorwort einer von ihm 1919 herausgegebenen Broschüre „Die Revolution an der Westfront“ schreibt:

„Parole: Heimat. Komme, was kommen mag. Je weiter wir zurückgehen, desto eher ist der Friede da. — Kriegsmüdigkeit im höchsten Maße. Jeder Tag des Rückmarsches erhöhte die Kriegsunlust. Von Kampf und Schlacht wollte niemand mehr etwas hören. Die Armee zog im Gefühl einer geschlagenen Armee zurück. Kriegspsychologen kann nicht entgangen sein, wie sehr zu jener Zeit der Haß gegen die Offiziere sich in heftigen Drohworten Luft machte. Noch ruhte die geballte Faust in der Hosentasche, aber wie lange noch? Aus der Heimat kamen keine Nachrichten. Postsperre hatte die Armee abgeschlossen. Und doch brannte die Revolution in den Herzen der Soldaten. Ihr Vorbote waren Meutereien, die unter­drückt, Plünderungen, die übersehen wurden. Die Disziplin war aufs äußerste gelockert. Nur ein Blinder oder ein bewußter Fälscher kann behaupten, daß die Armee siegreichen Widerstand, daß sie überhaupt Widerstand geleistet hätte. Es war der Rückzug, der der Armee die letzte Kraft nahm. Nichts anderes. So wurde die Revolution in der Armee aus der Armee selbst erzeugt.“

Mit der Verhaftung der meuternden Matrosen der Hochseeflotte hatte die Marine­leitung versucht, der revolutionären Bewegung Herr zu werden. Diese Verhaftung jedoch wurde der Anstoß zum offenen Widerstand, zur Organisierung des bewaffneten Aufstandes gegen das herrschende Regime. Die Verhinderung des Auslaufens der Flotte war der erste Erfolg der revolutionären Bewegung. Jetzt mußte weitergegangen werden. Die Matrosen des dritten Geschwaders in Kiel verlangten die Freilassung ihrer Kameraden. Auf den Schiffen und an Land wurden Besprechungen und Versammlungen organisiert, gleichzeitig wurde die Verbindung mit den Arbeitern der Werften aufgenommen. Eine auf den 2. November ins Kieler Gewerkschaftshaus einberufene Ver­sammlung wurde von den Kommandobehörden ver­boten. Sie glaubten immer noch, mit den alten Mit­teln des wilhelminischen Staates die revolutionäre Bewegung unterdrücken zu können. An Stelle der Versammlung riefen die Matrosen nun für Sonntag, den 3. November, zur Demonstration auf dem großen Exerzierplatz auf. Tausende von Arbeitern und Ma­trosen fanden sich ein, um die Freilassung der verhaf­teten Kameraden zu fordern. Anschließend zog ein mächtiger Demonstrationszug zur Stadt. Die Soldaten wurden aus den Kasernen herausgeholt und schlössen sich an. An der Ecke der Brunswiker und Karlstraße kam es zu einem Zusammenstoß. Ein Trupp Char­gierter, von einem Offizier geführt, stellte sich dem Demonstrationszug entgegen. Als die Aufforderung an die Demonstranten, auseinanderzugehen, nicht be­folgt wurde, ließ der Offizier schießen. Tote und Ver­wundete, darunter Frauen und Kinder, waren die Opfer. Die Matrosen schössen wieder, und der Offi­zier, der das Blutbad veranlaßt hatte, wurde tödlich getroffen.

Nun gab es kein Zurück mehr. Hinter sich hatten die Matrosen die drohende Vergeltung der militäri­schen Macht: Gefängnis, Zuchthaus, den Tod. Vor sich sahen sie den Frieden, den Sturz der herrschen­den Gewalten, die Heimkehr und die Umgestaltung der Gesellschaft. Den Weg vorwärts hatte das revo­lutionäre Rußland gezeigt. Man war entschlossen, ihn zu gehen. Ein Soldatenrat wurde gebildet. Er konnte am Vormittag des 4. November schon feststellen, daß vierzigtausend bewaffnete Soldaten hinter ihm standen. Der Gouverneur suchte noch immer die stündlich wachsende Bewegung gewaltsam zu unterdrücken. Aber er fand in Kiel keine Truppen mehr, die bereit waren, auf Vater und Mutter oder auf ihre Brüder zu schießen. Bataillone, die vom IX. Armeekorps angefordert worden waren, ließen sich am Bahnhof entwaffnen und verbrüderten sich mit den Matrosen und Arbeitern. Die Wandsbeker Husaren wurden vor der Stadt mit Maschinengewehrfeuer empfangen und preschten schleunigst wieder ab. Nun unternahm die Sozialdemokratie letzte Rettungsversuche. Die Gewerkschaften suchten zu beruhigen. Die „Schleswig-Holsteinische Volkszeitung“ brachte einen Aufruf, in dem es hieß:

„Die bedauerlichen Vorgänge in Kiel haben uns veranlaßt, sofort einen Vertreter nach Berlin zu ent­senden. Genosse Kürbis hat heute früh mit der Regierung verhandelt. Er trifft abends wieder in Kiel ein und dann wird gehandelt und Wandel geschaffen werden (!). Genosse Ebert hat keinen Zweifel mehr darüber gelassen, was ja von vornherein feststeht, daß die Partei jede nutzlose Fortführung des Kampfes ablehnt. Sie bittet, angesichts der innerpolitischen Lage und des entschlossenen Willens der Regierung, einzu­greifen (!), dringend, daß die Arbeiter in den Betrieben bleiben.“

Ohnmächtige Drohungen, hinter denen die Angst zitterte, ausgestoßen von einer bankrotten Partei! Was konnten sie noch ausrichten? Am Abend des 4. November beschlossen die Vertrauensleute der großen Betriebe den Generalstreik. Am Morgen des 5. November ruhte die Arbeit, und die Matrosen besetzten die Werften. Sie trugen rote Schleifen, rote Kokarden, rote Mützenbänder. Überall sah man die Farben der Revolution, und von den Masten der Kriegsschiffe wehte die rote Flagge.

Nur das Kriegsschiff „Schlesien“ schloß sich der Bewegung nicht an und floh aus der Kieler Föhrde. Das Linienschiff „König“, das im Dock lag, trug noch die Kriegs­flagge. Die Matrosen verlangten, sie solle eingezogen werden. Offiziere ver­teidigten das Symbol des untergehenden Kaisertums. Sie schössen in die ver­sammelten Matrosen hinein. Die Schüsse der Matrosen antworteten, der Kommandant und ein anderer Offizier wurden niedergestreckt, einige verwundet. Am Mast des „König“ ging die Flagge der Revolution hoch, und sie grüßte die andere, die auf dem Schlosse des Prinzen Heinrich flatterte. Der Prinz floh aus der Stadt. Die Gewalt ging auf den Arbeiter- und Soldatenrat über, dem sich die Behörden unterstellten. In Kiel war der Sieg der Revolution errungen.

Die Matrosen stellten dem Gouverneur eine Reihe Forderungen, die dieser im Gefühl seiner Ohnmacht sofort bewilligte. Sie zeigen den Charakter, den die Be­wegung bisher hatte. Die Hauptforderungen waren: Anerkennung des Soldatenrats, bessere Behandlung der Mannschaften, Befreiung von der Grußpflicht, Gleichheit der Offiziere und Mannschaften in der Verpflegung, Aufhebung der Offizierskasinos, Be­freiung der wegen Meuterei verhafteten Matrosen und Straflösigkeit für die nicht auf die Schiffe zurückgekehrten Mannschaften. Am Abend des 4. November erließ der Soldatenrat folgenden Aufruf:

Kameraden und Genossen!

Unsere Schicksalsstunde hat geschlagen. Die Macht ist in unserer Hand.

Hört auf unsl Sammelt euch um eure erwählten Führerl Keine Unbesonnenheiten!

Ruhe und eiserne Nerven sind das Gebot der Stunde.

Zeigt, daß ihr Männer seid, folgt unseren Sicherheitsorganen!

Plündert und raubt nicht!

Es ist euer unwürdig und gereicht euch nicht zur Ehre: Zum Ziel führt das nicht!

Zur Unterdrückung unserer Bewegung nach hier entsandte Truppen haben sich unserer Bewegung angeschlossen. Alle Arbeiter aller Gewerkschaften sind auf unserer Seite. Wir sind unserem Ziele nahe!

Kiel, 4. November 1918. Der Soldatenrat.

Wie eine Bombe schlug die Nachricht vom Kieler Matrosenaufstand in der Wilhelmstraße in Berlin ein. Dort war man dabei, die alte Firma zu sanieren und das Firmenschild demokratisch aufzulackieren. Gerade war ein wichtiger Schritt aus dem „Obrigkeitsstaat“ in den neuen „Volksstaat“ vorwärts gemacht worden. Die Blätter konnten am 4. November melden:

„Die Staatssekretäre werden nicht zugleich, wie das bisher üblich war, zu Wirklichen Geheimen Räten mit dem Prädikat Exzellenz ernannt. Das Prädikat Exzellenz ist den Staatssekretären durch eine bereits vorher ergangene Kaiserliche Kabinettsordre allgemein für die Dauer ihres Amtes beigelegt worden. Es ergibt sich daraus, daß das Exzellenz-Prädikat, da eine Ernennung zum Wirklichen Geheimen Rat nicht erfolgt, nur für die Dauer des Amtes gilt. Diese Regelung entspricht dem Brauche parlamentarisch regierter Länder.“

Man muß gestehen, daß diese tiefschürfende Reform auf das „mißgeleitete Volk“ kaum einen Eindruck gemacht hat, und als am gleichen Tage ein Erlaß Wilhelms II. herauskam, er stelle sechzig kaiserliche Schlösser für Lazarette zur Verfügung, da machte der Pöbel nur unehrerbietige Bemerkungen über die hohenzollernsche Opferfreudigkeit. Auch der Versuch mißlang, durch einen gutstilisierten Frontbericht die Stimmung der Massen aufzupulvern. Der lautete an diesem 4. November:

„Durch die Rückverlegung der deutschen Front in Flandern und zwischen Aisne und Maas hat die deutsche Front eine weitere Verkürzung und Verstärkung erfahren . . . Die durch die Verlegung allein dort erzielte Verkürzung der Front beträgt 20 Kilometer. Der letzte Schlag Fochs am 1. November bedeutet, im Ganzen betrachtet, somit einen neuen Erfolg der deutschen Waffen und ihrer Führung.“

Der Schwindel war zu abgenutzt, er zog nicht mehr. Und die Regierung hatte noch ernstere Sorgen als Exzellenzentitel und kaiserliche Schlösser. Die Rückverlegung der Front war nicht geglückt. Bei Verdun, an der empfindlichsten Stelle, war die Front von amerikanischen Truppen durchstoßen worden. Dazu mußten aus der Westfront Truppen herausgezogen werden, um im Süden das Loch zu stopfen, das durch den Zusammenbruch Österreichs gerissen worden war. Aus dem Osten wagte man die Divisionen nicht abzuziehen, um der bolschewistischen Flut nicht alles Gebiet zu über­lassen. Dazu kam am 4. November die Nachricht, daß Polen sich als Volksrepublik erklärt und von der deutschen Militärmacht losgesagt habe. Nicht nur eitle Königs­träume lösten sich damit in nichts auf, eine Wand brach ein. Und im Innern! Im Innern Deutschlands gefährliche Anzeichen. Am 3. November sind in München die Arbeiter auf die Theresienwiese gezogen und von dort nach Stadelheim. Sie haben die Freilassung politischer Gefangener erzwungen. Darauf am 4. November die Demon­strationen in Stuttgart und den umliegenden Industrieorten mit dem ersten Versuch der Bildung ein s Arbeiter- und Soldatenrats. Hieß es nicht, daß es an diesem Tage in allen Großstädten losgehen solle? Zwar waren zwei „unbedingt sichere“ Elitedivisionen von der Westfront nach Berlin im Anrollen, aber würden sie recht­zeitig ankommen, würde sich das Gewitter nicht vorher entladen? Einstweilen ließ man Panzerwagen und Militärkolonnen durch die Straßen ziehen, um die Arbeiter einzuschüchtern. Aber wie lange konnte das noch wirken? Und nun kam die Schreckens­nachricht vom offenen Aufstand in Kiel. Zunächst versuchte auch die „Volksregierung“, was das Kieler Gouvernement vergeblich unternommen hatte, den aufständischen Matro­sen mit Gewalt die Anhänglichkeit an ihren lieben Obersten Kriegsherrn wieder beizu­bringen, doch zeigte eine kurze Prüfung, wie unmöglich es war, gegen 40 000 gut bewaffnete Matrosen eine genügend starke und zuverlässige Truppe aufzustellen. Da schickte die Regierung den Sozialdemokraten Noske und den Demokraten Haußmann nach Kiel, um die Matrosen zur Vernunft zu bringen. Exzellenz Scheidemann gab Noske folgende Instruktionen. Er solle den Matrosen, die sich gegen die Manneszucht vergangen haben, Amnestie zusichern unter der Voraussetzung, „daß sie bis heute Abend in ihre Stellungen und auf ihre Stationen zurückkehren und daß sie die Waffen und die Munition, deren sie sich gewaltsam be­mächtigt haben, zurückgeben“. Die Regierung werde ver­suchen, Verbindung mit dem Kaiser zu bekommen, „der ja nach den bestehenden Rechtsverhältnissen die hier gefaßten Beschlüsse sanktionieren muß“.

Als Noske in Kiel ankam, sagte er zwar noch etwas von einer möglichen Amnestie, aber er merkte bald, daß hier die „bestehenden Rechtsverhältnisse“ nicht mehr bestanden und Wilhelm II. nichts mehr zu sanktionieren hatte als seine eigene Kapitulation. Aber Noske sah auch noch etwas anderes. Die Matrosen hatten einen Auf­stand begonnen, um ein verbrecherisches Abenteuer zu verhindern, und sie sahen sich plötzlich als Träger und Bahnbrecher der erwarteten Revolution. Aber sie waren sich nicht klar über ihre Aufgaben, und sie hatten keine Führer. Wohl hatten die Matrosen Haase und Ledebour telegraphisch herbeigerufen, aber das Telegramm war unterwegs aufgehalten worden und kam zwei Tage zu spät an. Da hatte Noske den Punkt, wo er den Hebel ansetzen mußte. Er gebrauchte den alten Kniff, den schon Friedrich Wilhelm IV. am 19. März 1848 versucht hatte: da er anders die revolutionäre Bewegung nicht meistern konnte, „stellte er sich an die Spitze der Bewegung“ Er machte sich selber zum Gouverneur von Kiel. Im Namen der Matrosen führte er die Verhandlungen mit den alten Kommandostellen und schloß gegen die Matrosen einen Pakt mit den Admiralen und Offizieren. Zugleich ging er daran, ein Freikorps zu bilden, bestehend aus Deckoffizieren und Unteroffizieren, Leuten, die sich formell auf den Boden der Revolution gestellt hatten, die aber nach ihrer sozialen Stellung, klein­bürgerlichen Herkunft und Denkweise das beste Material für eine konterrevolutionäre Prätorianergarde lieferten. So bestand Noske seine erste Probe als Organisator der Gegenrevolution.

Editorischer Hinweis

Der Text wurde entnommen aus: Illustrierte  Geschichte der deutschen Revolution, Internationaler Arbeiterverlag Berlin, 1929, S.185-190. OCR-Scan TREND 2018.

Quelle: trend… vom 21. November 2018

 

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