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Die österreichischen Gewerkschaften – wozu eigentlich?

Eingereicht on 14. Dezember 2018 – 15:18

Albert F. Reiterer. Der Sozialstaat war das Gegenangebot zum sowjetischen Sozialismus seitens der Eliten an die Arbeiter der entwickelten Länder. Ich sage Angebot, obwohl dies verdächtig nach dem modischen akademischen Jargon klingt, und obwohl die konservativen Kräfte gegen jeden Ausbauschritt des Sozialstaats Widerstand leisteten. Aber es war eine konservative Regierung, welche den liberal-konservativen Lord Beveridge mitten im Zweiten Weltkrieg beauftragte, einen Entwurf für die Integration der Arbeiter ins System zu liefern.

In diesem Entwurf identifizierte Beveridge drei große Lebensrisiken für die Unterschichten: Arbeitslosigkeit, Alter und Krankheit. Und, wie gesagt, er sprach von den Arbeitern. Doch daraus hat sich nach dem Krieg schnell ein allgemeiner Politik-Entwurf für die ganze Gesellschaft entwickelt. Er wurde gerade auch für die Mittelschichten zu ihrer Lebens-Grundlage. Er baute auf den Gedanken auf, dass die ganze Gesellschaft die beste Versicherung für Alle sei, und für Alle auf rationale und effiziente Weise eine Versorgung garantieren könne („öffentliche Güter“). Diesem Grundgedanken folgten, mit der einen oder anderen Variation, alle entwickelten Länder. Politikwissenschafter wollten original sein, und haben (mit EspingAndersen) einige Typen des Sozialstaats unterschieden, einen „skandinavischen“, einen „deutschen“, einen US-„amerikanischen“, … Die Typen stimmen zwar nicht, wandern aber von Buch zu Buch. Die nationalen Unterschiede sind nicht unwichtig. Sie bilden unterschiedliche Klassen- und Politik-Verhältnisse ab; aber wichtiger sind die Gemeinsamkeiten: der Einbezug der ganzen Bevölkerung in kollektiv angebotene Versorgungs- und Absicherungsleistungen. Eine Gesellschaft wird als Ganzheit gesehen.

Der Sowjetsozialismus brach zusammen. Damit wurde, in den Augen der Eliten und ihrer politischen Helfer, auch der Sozialstaat überflüssig. Die Kosten waren ihnen sowieso schon längst zu hoch. Also wollten sie den Sozialschutt wegräumen und gründeten die EU, das supranationale Imperium. Die dort maßgeblichen Techno- und Bürokraten aber wollten verhindern, dass die Ränder allzu sehr ausfransen. Das macht keinen guten Eindruck. Also machten sie eine „Politik gegen Armut und Ausgrenzung“ verbindlich. Die Unterschichten sollten auf bescheidenem Niveau durchgefüttert werden. Der Rest, insbesondere die Mittelschichten, sollten sich gefälligst selbst darum kümmern, wo sie bleiben.

Angst sollte wieder die Peitsche werden. „Men would be idle if they are not be forced to care…” Diesen unglaublichen Satz, direkt aus 1790, habe ich selbst von einem deutschen Professor auf einem internationalen Soziologenkongress 1990 gehört. Und die politischen Eliten parierten. „Sozialdemokratie lebt immer vom Hoffnungsüberschuss und nicht vom Angstüberschuss.“ Diesen bedenkenswerten Satz sagt, na wer? Es war Sigmar Gabriel im Kurier vom 25. Nov. 2018 auf die Frage nach dem Abstieg der SPD. Was er nicht dazu sagte: Es war die Sozialdemokratie selbst, welche an erster Stelle für den „Angstüberschuss“ sorgte.

Der erste und wichtigste Angriffspunkt war die Altersversorgung. Reden wir ein anderes Mal darüber.

Nun sind die Krankenkassen, die Gesundheitsversorgung, daran. Es ist ein offen deklarierter General-Angriff auf den Sozialstaat. Dass dahinter auch alle möglichen schäbigen Motive stehen, z. B. ein persönliches Rache-Motiv der Sozialministerin, zeigt nur den Geist dieser Regierung und insbesondere auch der FPÖ. Aber auch hier müssen wir feststellen: Der Angriff ist ja längst im Gang. Auch hier finden wir wieder die schon bewährte Vorgangsweise. Es wird eine Mehrklassen-Einrichtung geschaffen. Lassen wir die Eliten beiseite – die sind eine Klasse für sich und waren es auch bisher. Aber wie gab ein Diskutant auf einer SP-Veranstaltung in der Alten Schmiede schon vor Jahren zu? „Wer von uns“ – es war ein Angestellter – „hat nicht eine Zusatz-Versicherung?“ Es war nicht ganz klar, ob er dies beklagte oder empfahl. Aber sagen wir es in aller Klarheit: Das ist eine Form institutioneller Korruption. Man erkauft sich eine etwas bessere Versorgung vor allem im Fall des Spitals-Aufenthalts, weil man weiß, dass die Grundversorgung inzwischen nicht mehr über alle Zweifel erhaben ist. Man schiebt also dem „Professor“ einige happige Trinkgelder hin, oft auch wortwörtlich, im Kuvert, damit er einem seine gesteigerte Aufmerksamkeit widmet. In manchen Bereichen ist der „Wahlarzt“, den man erst einmal selbst, und zwar deutlich über Tarif, bezahlt, inzwischen die normale Erscheinung.

Und was machen die Vertreter der Lohnabhängigen, die Gewerkschaften, die AK? Vor allem haben sie Angst. Nach 70 Jahren zielstrebiger Arbeit an der Entpolitisierung der Basis glauben sie nun, und wahrscheinlich mit Grund, dass diese Basis nicht mehr mobilisierbar ist. Verwunderlich wäre es nicht. Aber dass die Rebellion eine Möglichkeit ist, zeigen uns die Gelbwesten in Frankreich. Aber auch dort haben die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie vor allem Angst und bemänteln dies mit den Versuchen von Le Pen und Co., diese Bewegung zu vereinnahmen.

Die Argumentation selbst jener, welche einen Widerstand versuchen, könnte auch nicht kennzeichnender sein. Was hören (und lesen) wir da? Die Arbeitgeber zahlen in die Kasse nur 25 % ein, bestimmen dort aber nun maßgeblich. Aha. Die Arbeitgeber zahlen 25 % ein!! Sogar die Buchhalter der Unternehmen wissen, dass alle Zahlungen dieser Art Teil des Lohns sind; sie sprechen von Brutto-Brutto-Lohn. Aber der linke Gewerkschafter fällt sogar hinter diese Erkenntnis zurück. Man muss es ihm offenbar laut und deutlich sagen: 100 % der Beiträge kommen von den Versicherten.

Konkret: Die Argumentation ist rein formal und technokratisch. Die Kosten der Verschmelzung insgesamt werden 2,1 Mrd. € betragen? Das ist möglich. Aber es nicht der zentrale Punkt. Der zentrale Punkt sind die Leistungssenkungen, auf welche die Versicherten mit Selbst- und Höher-Versicherung reagieren sollen. Das ist nicht nur ein Geschäft für Versicherungen und Finanzhaie. Das ist vor allem auch eine Lohnsenkung. Denn bisher gewährte Leistungen werden eben nur mehr gegen Aufpreis geliefert. Das Dahin-Hudeln – „speed kills“ – hat politische Methode. Das ist kein Versehen.

Wir sehen hier das Muster, welches wir schon angesichts des 12-Stunden-Tags feststellen mussten. Den Funktionären der Gewerkschaften geht es nicht um die Sache. Mit einem gewissen Hohn und leider zu Recht haben die Konservativen und ihre Presse darauf verwiesen: Aber die flexible Arbeitszeit gibt es bereits in vielen Bereichen und in hunderten von Arbeitsstätten. Und nicht nur der SP-Kern hat selbst eine „Flexibilisierung“ angestrebt und angekündigt. Die Gewerkschaften waren bereit, über diese „Flexibilisierung“ zuvor- und entgegenkommend zu verhandeln.

Aber nun kommt der neue Geist. Die Gewerkschaften haben offenbar noch nicht wirklich begriffen: Die Eliten und ihre Politiker wollen dies nicht mehr. Sie wollen schlicht und einfach bestimmen. Das „Darüberfahren“ wird zum politischen Ziel an sich. Denn es soll in Hinkunft klar sein, wer bestimmt.

Der Abbau des Sozialstaats und der Angriff auf ihn hat also zumindest zwei große Ziele. Das eine besteht einfach darin, die Kosten für das Kapital zu senken. Aber noch viel wichtiger ist das zweite Ziel, das unmittelbar politisch und auf längere Frist ökonomisch ist: Die Kräfte-Verhältnisse sollen verschoben werden, und zwar unwiderruflich, wie es immer wieder ausdrücklich in EU-Dokumenten steht. Für das Arbeits-Verhältnis muss gelten, wie auch offen deklariert wird: Alles ist zumutbar. Und dies ist auch das Motto, das wir über die Gesundheitspolitik i. a. und i. B. über Kassen-Fusion schreiben können.

Quelle: labournet.de… vom 14. Dezember 2014

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