Zum revolutionären Erbe Rosa Luxemburgs
Christoph Morich. „Die Ordnung herrscht in Berlin“ – so lautet die Überschrift des letzten Artikels von Rosa Luxemburg in der Roten Fahne, der, einen Tag vor ihrer Ermordung durch rechte Militärs, veröffentlicht wurde. Unter dieser Losung jubelte zuvor die bürgerliche Presse über die Rückeroberung der Druckereien der SPD-Zeitung ‚Vorwärts‘, die am 5. Januar 1919 als Reaktion auf deren Stimmungsmache gegen die Arbeiter*innen- und Soldatenräte besetzt wurde. Mit einer spontanen Großdemonstration von etwa einer halben Million Menschen gegen die Entlassung des Polizeipräsidenten Eichhorn, aus der die Besetzungen verschiedener Druckereien bürgerlicher Presseorgane hervorgingen, hatte an diesem Tag der sogenannte Spartakusaufstand begonnen. Große Teile der Arbeiter*innenschaft versuchten die Fortsetzung der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft, die am 9. November begonnen hatte, gegen die sozialdemokratische Regierung zu erkämpfen. Diese hatte in der Zwischenzeit den Schulterschluss mit der alten Elite vollzogen, um genau das zu verhindern und “Ruhe und Ordnung“ wiederherzustellen.
Anlässlich des 100. Jahrestages des Spartakusaufstandes erinnerte die SPD in diesem Jahr via Twitter an ihre heroische Rolle zur „Verteidigung der Demokratie“. Wie diese im Fall der Räumung ihrer Druckereien aussah, beschreibt Luxemburg in ihrem Artikel: „Niedergemetzelte Parlamentäre, die über die Übergabe des »Vorwärts« verhandeln wollten und von der Regierungs-Soldateska mit Kolben bis zur Unkenntlichkeit zugerichtet wurden, so daß die Rekognoszierung ihrer Leichen unmöglich ist, Gefangene, die an die Wand gestellt und in einer Weise hingemordet werden, daß Schädel und Hirn herumspritzen.“
Die ‚Verteidigung der Demokratie‘ gegen die Arbeiter*innen- und Soldatenräte, der sich die SPD auch angesichts der Gräuel durch die Militärs, denen in den folgenden zwei Monaten noch über 1000 Menschen zum Opfer fielen, noch heute rühmt, ist eigentlich ihr Gegenteil. So war es das erklärte Ziel der Räte, eine demokratische Partizipation nicht darauf zu beschränken, alle paar Jahre darüber zu bestimmen, wer den kapitalistischen Normalbetrieb verwaltet, sondern wirklich demokratisch, in vernünftiger Absprache über den Fortgang der Geschichte zu bestimmen. In den Fabriken, wo bisher das Regiment der Kapitalisten vorherrschte, wollten jene, die bisher für einen Hungerlohn schuften mussten, das Ruder selbst in die Hand nehmen und sich über Sinn und Zweck der Produktion verständigen. Im Militär, wo in den vergangenen vier Jahren Millionen von Menschen von ihren nationalistischen Regierungen in den Schützengräben des Weltkriegs verheizt wurden, forderten Soldaten eine Abkehr vom Militarismus und die Schaffung eines dauerhaften Friedens. An die Stelle der brutalen Logik des Kapitals, die ganze Welt nach den Interessen der Profitmaximierung zu gestalten, die nach Luxemburg in den imperialistischen Kriegen ihren militärischen Ausdruck findet, sollte die Abschaffung der Klassen und die Errichtung einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft treten. Dieser Versuch wurde unter dem Ruf nach „Ruhe und Ordnung“ niedergeschlagen.
Und er wird es bis heute immer wieder. „Ruhe und Ordnung“, welche die Herrschenden propagieren, ist dabei stets die des Kapitals. Sie bezeichnet keine Erhaltung eines friedlichen Zustands, sondern immer nur die untertänige Hinnahme der Gewalt, der Menschen in der bestehenden Gesellschaftsordnung ausgesetzt sind. „Die Ordnung herrscht in Berlin“ ließe sich auch heute angesichts der Dutzenden Räumungen von Hausbesetzungen – natürlich unter Federführung der SPD – im Zuge der #besetzen-Kampagne im letzten Jahr titeln. Dank ihnen stehen nun wieder Häuser so lange leer bis diverse Briefkastenfirmen genug Profit aus deren Neuvermietung schlagen können, während Obdachlose die U-Bahnhöfe säumen und Strafanzeigen gegenüber 150 Aktivist*innen laufen.
Ebenfalls laufen Strafanzeigen gegen Menschen, die eine Bundespressekonferenz gestört haben sollen, um auf die Waffenlieferungen der deutschen Rüstungsindustrie an die türkische Regierung aufmerksam zu machen, die gemeinsam mit islamistischen Milizen einen Krieg gegen die demokratische Selbstverwaltung in den befreiten Gebieten Nord – und Ostsyriens führt, um ihr islamistisches Regime auszuweiten. Die „Ruhe und Ordnung“, die hierzulande den Profit der Rüstungsindustrie gewährleistet, half in Afrin die Ordnung der Scharia zu etablieren. Nach dem Abzug der amerikanischen Truppen drohen nun weitere Teile im Norden Syriens zum Ziel der türkischen Aggression werden. Auch diese wird von Erdogan damit begründet, die Ordnung wiederherstellen zu wollen. Ihr stehen die Tausenden Kämpfer*innen der kurdischen Freiheitsbewegung entgegen, die bereit sind die Revolution mit ihrem Leben zu verteidigen.
Die Gewalt der bestehenden Ordnung äußert sich aber nicht nur in Form von Kriegen, sondern eben auch in der „friedlichen“ Normalität der kapitalistischen Ordnung, die durch den Repressionsapparat gesichert wird. Der Diebstahl, nicht der Hungertod, bedroht diese Ordnung. So leben heute knapp 800 Millionen Menschen in Hunger, während sich Fußballstars in Deutschland ihr Steak vergolden lassen und Millionärssöhnchen ihre Autos wie Schuhe wechseln. Und während 42 Milliardäre genau so viel besitzen wie die 3,7 Milliarden der ärmeren Hälfte der Menschheit zusammen, echauffiert sich die bürgerliche Presse über Asylbetrüger, Sozialschmarotzer oder ein paar linke Demonstrant*innen – schließlich verstoßen die gegen die gesellschaftliche Ordnung. Tausende Menschen, die im Sudan seit einem Monat trotz tödlicher Repression weiterhin gegen steigende Lebensmittelpreise protestieren, finden dagegen keine Erwähnung, solange sie nicht statt zu demonstrieren auf die Idee kommen, sich auf den Weg nach Europa zu machen.
Das Bild der heilen Welt, die es durch „Ruhe und Ordnung“ zu bewahren gilt, ist jedoch – trotz aller Bemühungen von Presse und Politik dies aufrechtzuerhalten – zu jeder Zeit mehr als brüchig. Das Bewusstsein über das unendliche Leid auf diesem Planeten kann niemals vollständig verdrängt oder rationalisiert werden. Niemand, der auch nur eine Sekunde ehrlich zu sich selbst ist, kann ernsthaft glauben, dass Millionen von Hungernden durch Faulheit selbst die Schuld an ihrem Schicksal tragen oder Schlepper*innen für den Tod tausender Menschen im Mittelmeer verantwortlich sind. Dementsprechend harsch fallen die Reaktionen oft aus, wenn dieses Bild ins Wanken gerät. Doch genau diesen Schein der im Großen und Ganzen gerechten Welt, der die barbarische Realität der kapitalistischen Ordnung verschleiern soll, gilt es unentwegt zu zerschlagen. Das vergoldete Steak und das verhungernde Kind stehen in einem gesellschaftlichen Zusammenhang. „Zu sagen was ist, bleibt die revolutionäre Tat.“ (Luxemburg)
In Europa wird die bestehende Ordnung jüngst durch die seit über zwei Monaten andauernde Aufstände der gilets jaunes in Frage gestellt. Die richten sich in erster Linie gegen die neoliberalen Reformen Macrons . In ihnen kommen jedoch auch eine viel tieferliegende Unzufriedenheit über den kapitalistischen Alltag und der Wille, sich gegen diesen zu organisieren, zum Ausdruck. Menschen, die davon berichten, ihren Kindern keine Weihnachtsgeschenke mehr kaufen oder sich medizinische Behandlung nicht mehr leisten zu können, tragen ihre unmittelbare Erfahrung von Armut in die Öffentlichkeit und offenbaren das Bild der kapitalistischen Ordnung, das hinter den Statistiken der Nachrichtenbeiträge verschwindet. Dadurch wird Armut zu einer geteilten Erfahrung, deren Ursache in den gesellschaftlichen Verhältnissen und nicht im individuellen Versagen ausgemacht wird. Die bestehenden Verhältnisse verlieren dadurch den Schein der Unumstößlichkeit. Die Regierung Macrons versucht seit Wochen vergeblich „Ruhe und Ordnung“ wiederherzustellen. Weder einige Zugeständnisse in der Sozialpolitik, noch die Repression durch den sich zunehmend militarisierenden Polizeiapparat konnten dem Protest bis jetzt ein Ende bereiten. Allein am 8. Dezember wurde in Paris die Menge an Tränengas verschossen, die sonst für ein ganzes Jahr „benötigt“ wird. Mehrere Menschen haben in den Auseinandersetzungen ein Auge durch Gummigeschosse oder eine Hand durch Tränengasgranaten verloren. Doch so oft die Bewegung der gilets jaunes für tot erklärt wurde, so oft kamen am nächsten Wochenende erneut riesige Demonstrationen in ganz Frankreich zusammen. Auch wenn die Proteste, die sich momentan größtenteils auf Frankreich beschränken, keine existenzielle Gefahr für die kapitalistische Ordnung als solche darstellen, zeugen sie von der Wut großer Teile der Bevölkerung und von deren Fähigkeit zu spontaner Organisation. Wohl niemand hätte vor wenigen Monaten einen derart heftigen Protest gegen den Poster Boy deutscher Leitmedien und seinen technokratischen Neoliberalismus vorhergesagt.
So muss sich die angeblich alternativlose kapitalistische Ordnung immer wieder, mit Hilfe brutalster Gewaltanwendung, gegen Proteste und Aufstände zur Wehr setzen, um diese möglichst schnell im Keim zu ersticken. Doch niemals ist sie in der Lage, diese vollends zu befrieden.
An den Tod von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sowie all die Gefallenen der Novemberrevolution zu erinnern, ist kein Selbstzweck aus Gründen der Nostalgie. Es bedeutet, sich der Tradition der Kämpfe gegen Ausbeutung, Krieg und Unterdrückung bewusst zu werden und diese im Hier und Jetzt fortzuführen. Denn damals wie heute verfügen die Menschen nicht über ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Anstatt ihr Zusammenleben wahrhaft demokratisch zu organisieren, wie es in den Arbeiter*innen- und Soldatenräten versucht wurde, sind die Menschen weiterhin dem Zwang des Kapitals, aus einem Euro zwei zu machen, unterworfen. Die Unmöglichkeit sich diesem Zwang in einer parlamentarischen Demokratie zu entziehen, wurde zuletzt durch Syriza – die „Koalition der radikalen Linken“, die mittlerweile Wahlkampfunterstützung von Angela Merkel erhält – mehr als deutlich. Der Ruf nach „Ruhe und Ordnung“ ist daher unter den bestehenden Verhältnissen nichts als das verschleierte Interesse der herrschenden Klasse, diesen elendigen Zustand der Welt aufrechtzuerhalten. An die noch ausstehende Aufgabe der Abschaffung der Klassengesellschaft mahnen die letzten Worte, die Rosa Luxemburg vor ihrer Ermordung zu Papier brachte: „»Ordnung herrscht in Berlin!« Ihr stumpfen Schergen! Eure »Ordnung« ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon »rasselnd wieder in die Höh‘ richten« und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!“
Quelle: lowerclassmag.com… vom 16. Januar 2019
Tags: Deutsche Revolution, Deutschland, Faschismus, Repression, Rosa Luxemburg, Sozialdemokratie
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