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Gründe und Ziele der imperialistischen Offensive in Venezuela

Eingereicht on 11. Februar 2019 – 11:31

Christian Castillo. Welche Gründe und Ziele stecken hinter der imperialistischen Offensive in Venezuela? Wir veröffentlichen eine Analyse von Cristian Castillo, Anführer der Partei Sozialistischer Arbeiter*innen (PTS), über die Interessen der venezolanischen Rechten und des Imperialismus, und über die Notwendigkeit einer unabhängigen Alternative der Arbeiter*innenbewegung zur Überwindung der Krise.

Anmerkung: Dieser Artikel erschien am 3. Februar bei Ideas de Izquierda. Obwohl sich die Ereignisse seitdem in begrenztem Maße weiterentwickelt haben, liegt hier eine umfassende Analyse der Situation und der Interessenlagen in Venezuela vor.

In einem Video vom 23. Januar fordert US-Vizepräsident Mike Pence die Streitkräfte und die Bevölkerung Venezuelas auf, sich gegen Maduro zu erheben und den selbsternannten Übergangspräsidenten Juan Guaidó zu unterstützen. Das war einer der obzönsten Ausdrücke der wiederkehrenden Interventionslust der USA in der Region. Wenige Tage später kündigte die Trump-Regierung ein Ölembargo gegen Venezuela sowie die Einfrierung der Konten von Citgo, der Tochtergesellschaft der staatlichen Erdölgesellschaft Venezuelas PDVSA (Petróleos de Venezuela S.A.) in den USA, an. Guaidó, bis zu seiner Selbsternennung praktisch unbekannt, unterstützte diese Aktion imperialistischer Arroganz. Sie richtet sich nicht nur gegen Venezuela, sondern gegen Lateinamerika als Ganzes. Auch andere Regierungen der Region stellen sich an die Seite Trumps. Das einzige Ziel einer solchen Maßnahme ist der Zusammenbruch der venezolanischen Wirtschaft. Damit wird jede Demagogie über „humanitäre Hilfe“ gegen die soziale Krise, in der sich das Land befindet, widerlegt: Die unmittelbare Wirkung des Embargos besteht allein in der Verschärfung des Elends der Massen.

Niemand kann bezweifeln, dass Venezuela eine schwere soziale und wirtschaftliche Krise durchlebt: Die Wirtschaft befindet sich seit fünf Jahren in einer Rezession. Für 2018 wird die Inflation auf knapp eine Million Prozent (oder sogar mehr) geschätzt [1]. Die Löhne liegen bei knapp sechs Dollar pro Monat und der Anteil der Bevölkerung, der unter der Armutsgrenze lebt, liegt bei 87%. Nach Angaben der OPEC ging die Ölförderung von fast drei Millionen Barrel [2] pro Tag im Jahr 2014 auf nur noch 1,15 Millionen Tonnen im dritten Quartal 2018 zurück, was einem Rückgang auf den Stand von 1947 entspricht. Stromausfälle sind in weiten Teilen des Landes weit verbreitet. Im August 2018 gaben die Vereinten Nationen bekannt, dass die Zahl der venezolanischen Geflüchteten und Migrant*innen drei Millionen erreicht hatte. Aufgrund der Schwierigkeiten beim Zugang zu Nahrungsmitteln nimmt ein großer Teil der Bevölkerung nur einmal am Tag Essen zu sich und 65 % der Venezolaner*innen haben einen Rückgang ihres Körpergewichts von mehr als acht Kilogramm erlitten. In den Krankenhäusern mangelt es an allerlei Materialien. Währenddessen haben die Reichen Venezuelas – sowohl diejenigen, die zur Rechten gehören, als auch die, die vom Chavismus profitieren – etwa 600 Milliarden US-Dollar ins Ausland abgesetzt.

Daher kann sich niemand über den schwindenden Rückhalt Maduros in der Bevölkerung wundern. Die optimistischsten Studien sprechen von einer Unterstützung von nur 15 bis 20% der Bevölkerung. Ein großer Teil der Bevölkerung hat inzwischen genug von der Regierung, was der US-Imperialismus und die venezolanische Rechte heute zu nutzen versuchen, um einen Putsch oder eine andere reaktionäre Lösung für die aktuelle Krise zu erzwingen. Die rechte Opposition, die zuvor politisch angeschlagen und gespalten war, benutzt nun unter Trumps Führung sowohl diese Unzufriedenheit als auch die mit den USA verbündeten, rechtsgerichteten Regierungen anderer südamerikanischer Länder, um einen „Fahrplan“ für den Putsch durchzusetzen, der von Washington aus organisiert wurde.

Während die USA sich aus direkten militärischen Interventionen in anderen Regionen der Welt immer mehr zurückzieht, hat die derzeitige Regierung der Republikanischen Partei ihre Einflussnahme in Lateinamerika sogar noch verstärkt – ein neuer Schub der sogenannten „Monroe-Doktrin“, die immer als Vorwand für die Politik der ständigen Intervention in einer Region diente, die die Vereinigten Staaten als ihren „Hinterhof“ erachten.

Bekanntlich basiert Trumps Außenpolitik auf der Einschätzung, China und Russland seien die Hauptbedrohungen für die US-Interessen. Die diffuse Bedrohung des „internationalen Terrorismus“, die seit dem 11. September 2001 offizielle Reden erfüllte, ist demgegenüber in den Hintergrund gerückt. Gleichzeitig sind diese beiden Länder die wichtigsten Verbündeten Maduros. Venezuela ist von ihnen maßgeblich wirtschaftlich abhängig. China hat Venezuela etwa 60 Milliarden Dollar zukommen lassen und Russland, aufgeteilt zwischen der Regierung und dem Ölriesen Rosneft, etwa 20 Milliarden Dollar. Doch die Abhängigkeit drückt sich nicht nur in der Höhe der Schulden aus, die zum Großteil von den schwindenden Öleinnahmen bezahlt werden, sondern auch in wichtigen Zugeständnissen an chinesische und russische Unternehmen bei der Ausbeutung anderer natürlicher Ressourcen, die das Land besitzt. Rosneft zum Beispiel kontrolliert 49% von Citgo, der US-Tochtergesellschaft der PDVSA. Dieses Unternehmen und das chinesische Unternehmen CNPC kontrollieren mindestens 15% der insgesamt nachgewiesenen Ölreserven Venezuelas. Im August 2018 wurden mit den beiden Unternehmen 14 Dienstleistungsverträge unterzeichnet, die einer Art teilweiser Re-Privatisierung der PDVSA gleichkommen. Hinzu kommen die Zugeständnisse an private und halbprivate Unternehmen dieser oder anderer Länder für die Nutzung des Minengebiets „Arco Minero del Orinoco“. Dort gibt es schätzungsweise 7.000 Tonnen Reserven an Gold, Kupfer, Diamanten, Coltan, Eisen, Bauxit und andere Mineralien. Russland wiederum ist ein wichtiger Waffenlieferant für Venezuela, der Hauptkunde in dieser Region.

Es ist klar, dass es nicht die Sorge um das Leid der venezolanischen Bevölkerung oder die Repression des Regimes sind, die Trump dazu veranlassen, den Sturz von Maduro zu initiieren. Es ist vielmehr der Streit um die Kontrolle der Bodenschätze eines Landes, das über die weltweit größten Erdölreserven verfügt und gleichzeitig 20% seiner Exporte in die Vereinigten Staaten schickt. Die Öffnung für das US-Kapital ist einer der Schwerpunkte des Programms der venezolanischen Rechten. Dies geht einher damit, eine allgemeinen Unterordnung der lateinamerikanischen Länder unter die Interessen der Vereinigten Staaten zu erreichen. Bereits ein in „Foreign Affairs“ veröffentlichter Artikel von Oliver Stuenkel weist darauf hin, dass die venezolanische Krise den Verlust des politischen Einflusses der lateinamerikanischen Länder, vor allem Brasiliens, zum Ausdruck bringt, indem sie sich dem „Regime Change“-Plan der Vereinigten Staaten anschließen.

Der Zynismus derer, die die „Verteidigung der Demokratie“ zur Unterstützung des Putschversuchs beteuern, kennt keine Grenzen. Die Vereinigten Staaten unterstützten jeden reaktionären Putsch in Lateinamerika und Trump unterstützt aktiv jede autokratische und repressive Regierung der Welt, wie er es anlässlich des brutalen Mords am regierungskritischen saudi-arabischen Journalisten Jamal Khashoggi deutlich machte. Die venezolanische Rechte war schon immer putschistisch, von den Bolsonaros, Duques, Macris und Piñeras ganz zu schweigen.

Der „Fahrplan“ des Putschversuchs

Die Offensive, die wir schon seit der Vereidigung von Maduro erleben, die mit der Selbsternennung Guaidós zum Übergangspräsidenten einen Höhepunkt erreicht hat, findet nicht in einem luftleeren Raum statt. Die Karte Lateinamerikas wird durch den Amtsantritt mehrerer rechtsgerichteter Präsidenten, die für die US-Außenpolitik vorteilhaft sind, neu gezeichnet. Tatsächlich war der Sieg von Bolsonaro in Brasilien – der das Ergebnis eines irregulären Wahlprozesses war, wie das Verbot von Lulas Kandidatur und seine Inhaftierung zeigen – ausschlaggebend für die Entscheidung der USA, die aktuelle Offensive in Venezuela zu starten. Chávez und Maduro hatten mit der PT-Regierung einen Verbündeten oder zumindest eine wichtige Rückendeckung. Heute hingegen agiert Brasilien zusammen mit Macris Argentinien und Iván Duques Kolumbien als Rammbock gegen Venezuela.

Sowohl das strategische Interesse der USA am venezolanischen Öl als auch ihre Beziehung zur rechten Opposition des Landes sind nicht neu, wie die schnelle Anerkennung der flüchtigen Putschregierung von Carmona durch die USA im Jahr 2002 zeigt. Dies wird auch in den Dokumenten des US-Außenministeriums deutlich, die 2017 von Wikileaks veröffentlicht worden sind. In ihnen wird der Oppositionsführer Leopoldo López mindestens 77 Mal genannt. In den Dokumenten wird eine Herangehensweise vorgeschlagen, die derjenigen ähnelt, die heute in die Tat umgesetzt wird. In den letzten Monaten hat Trump viele der Außenpolitiker*innen seiner Regierung ausgetauscht. Mike Pompeo, ein ehemaliger CIA-Direktor, übernahm das Außenministerium von Rex Tillerson, wobei der Nationale Sicherheitsberater John Bolton und der Senator Marco Rubio, ein hartnäckiger Anti-Castroist, an Einfluss gewannen. Bolton – daran sei erinnert – stand hinter dem gescheiterten Versuch eines „Regimewechsels“ im Iran unter der Bush-Regierung und war einer der Architekten des zweiten Golfkriegs im Jahr 2003. Bolton und Rubio werden von mehreren Expert*innen als verantwortlich für die Planung der aktuellen Offensive in Venezuela eingestuft. Darüber hinaus wird Elliot Abrams, der von Trump zum Beauftragten für die „vollständige Wiederherstellung der Demokratie“ in Venezuela ernannt wurde, beschuldigt, die Massaker in Mittelamerika unterstützt zu haben, als er noch Regierungsbeamter unter Reagan war. Abrams wurde wegen der „Iran-Contra-Affäre“ – der illegalen Finanzierung der anti-sandinistischen Guerilla in Nicaragua – verurteilt, doch von George Bush Jr. begnadigt. Als ob das nicht schon genug wäre, wird er als Vollstrecker des gescheiterten Staatsstreichs gegen Chávez im Jahr 2002 angesehen. Die US-Nachrichtenagentur „Associated Press“ erläuterte, wie Guaidó im Dezember eine Reise durch die Vereinigten Staaten, Kolumbien und Brasilien unternahm, bei der der aktuelle Putschplan inszeniert wurde. An den Treffen nahm auch Mike Pence, der US-Vizepräsident, teil. Dieser verpflichtete sich, Guaidó anzuerkennen, sobald dieser sich zum Präsidenten ernannt hätte.

Die Staaten der Lima-Gruppe – mit Ausnahme von Andrés Manuel Lopéz Obradors Mexiko – schlossen sich dieser Strategie an, auch wenn sie keine Unterstützungserklärung von Seiten der „Organisation Amerikanischer Staaten“ (Organización de los Estados Americanos, OEA) erreichen konnten. Guaidó wurde später vom Europäischen Parlament anerkannt.

Maduro hat derzeit unter anderem die Unterstützung von China, Russland, Kuba, der Türkei, dem Iran, Südafrika und Nicaragua. Es gibt eine Reihe von Staaten, die eine „Verhandlungslösung“ vorschlagen, mit Mexiko und Uruguay an der Spitze. Der Ausgang der Putschoffensive ist vorerst noch ungewiss. Selbst mehr als eine Woche nach der Selbsternennung Guaidós war es ihm nicht gelungen, wie es einige vorhergesagt hatten, eine schnelle Unterstützung durch das Militärkommando oder einen bedeutenden Umbruch bei den „Nationalen Bolivarianischen Streitkräften“ (Fuerza Armada Nacional Bolivariana, FANB) zu erreichen. Darauf aber hatten die rechte Opposition und die USA hauptsächlich gesetzt (was sie immer noch tun).

Inmitten dieser großen Spannungen kann keine Hypothese ausgeschlossen werden: von einem Sturz Maduros, der mehr oder weniger mit den Streitkräften verhandelt wird, bis hin zum Verbleib Maduros an der Macht als Folge des Scheiterns der Putschoperation, die viele abenteuerliche Elemente enthält; von einer Rebellion der Massen, die nicht von den Rechten kontrolliert wird und die politischen Kräfteverhältnisse wesentlich verändert, bis hin zu irgendeinem Zwischenfall, der eine „Spirale ins Extreme“ vorantreibt und zum Ausbruch eines Bürger*innenkriegs oder irgendeiner militärischen Intervention führt. Allerdings schränken vorerst die Befürchtungen vor den absehbar katastrophalen Auswirkungen auf die Migrationsfrage, die einige dieser letztgenannten Szenarien für Nachbarländer wie Kolumbien oder Brasilien haben würden, sowie die Schwäche von Trump die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ausgangs ein. Bolton schloss am Freitag, den 1. Februar, aus, dass die USA unmittelbar eine militärische Intervention in Venezuela planen, obwohl er mahnend darauf hinwies, dass „alle Optionen auf dem Tisch“ lägen.

Aufstieg und Fall des Chavismus

Die Wirtschaft Venezuelas basiert im Wesentlichen auf dem Export von Öl: Von 100 Dollar, die in das Land gelangen, stammen 93 aus den Exporten dieses Produkts. Um zu funktionieren, ist die venezolanische Wirtschaft extrem vom Export abhängig. Zu Chávez‘ Hochzeiten, im Jahr 2008, erreichte ein Barrel Erdöl einen Preis von ca. 150 Dollar, was Venezuela erlaubte, die Produkte zu importieren, die es selbst nicht produzierte. Seit dem Jahr 2014 brach der Preis des Erdöls jedoch stark auf nur noch 25 Dollar pro Barrel ein. Ein drastischer Fall, welcher eine zerstörerische Wirkung auf die venezolanische Wirtschaft hatte und gleichzeitig aufzeigte, was der Chavismus in seinen „fetten Jahren“ alles nicht unternommen hatte. Die Ressourcen, die in den Jahren der hohen Erdölrenditen (2004-2013) eingenommen worden waren, wurden nicht für die Diversifizierung der Wirtschaft gesteckt, besonders nicht zur Stärkung der schwachen Knotenpunkte der Produktion von einheimischen Lebens- und Arzneimitteln.

Die ausbleibenden strukturellen Veränderungen durch die „bolivarianische Revolution“ wurden durch eine Mystifizierung des chavistischen Diskurses verdeckt: Der Charakter Venezuelas als Rentenökonomie blieb bestehen, und seine verheerenden Effekte schlugen erneut auf die Massen durch, als die Preise sanken. Die venezolanische Bourgeoisie besaß und besitzt immer noch die ökonomische Macht. Es entwickelten sich sogar neue kapitalistische Sektoren durch den Chavismus, die sogenannte „ Bolibourgeoisie“. Maduro selbst wies in einer kürzlichen Reportage der russischen Nachrichtenagentur darauf hin, dass in Venezuela weiterhin mehr als 3.000 US-Unternehmen tätig sind. Die von Chávez durchgeführten Enteignungen wurden von hohen Entschädigungen begleitet, was im Vergleich zu beispielsweise Lázaro Cárdenas, der 1938 in Mexiko das Erdöl nationalisierte, einen riesigen Unterschied darstellt.

Dadurch, dass die Verstaatlichungen im Chavismus kein Teil eines gesamtwirtschaftlichen Planes waren, der demokratisch von den Arbeiter*innen aufgestellt wurde, konnten sie keine Voraussetzung sein, um die Abhängigkeit der Rentenökonomie zu überwinden. Ganz im Gegenteil: In der Hand einer völlig unwirksamen und oft korrupten staatlichen Bürokratie haben sie bei einem breiten Teil der Bevölkerung selbst die Idee einer verstaatlichten Wirtschaft diskreditiert. Sogar Sidor, von der argentinischen Techint-Gruppe mit einer großzügigen Entschädigung enteignet, steht heute praktisch still. Trotz der starken Position als wichtigstes Stahlwerk Venezuelas führte die staatliche und bürokratische Unfähigkeit zu einer Senkung der Produktion auf ein Minimum. Weit entfernt von einer Entwicklung des Landes hin zu einer tatsächlichen Vergesellschaftung der Produktionsmittel, stieg in den letzten Jahren die Präsenz von ausländischem Kapital, das in die Ausbeutung des Erdöls und aller natürlichen Ressourcen investiert. Venezuela steckt nicht in der Krise, weil seine Wirtschaft sozialistisch ist – wie die Rechten es behaupten –, sondern weil sie es nicht ist.

Man darf nicht vergessen, dass der Chavismus eine Folge der sozialen Unruhen von 1989 ist. Während des sogenannten „Caracazo“ stiegen die Armen von Caracas den Berg herunter, um ihren Hunger zu lindern, für den die Regierung von Carlos Andrés Pérez verantwortlich war. Es ist diese Massenaktion, die das „Regime des Puntofijo-Abkommens“ zu Fall brachte. In diesem Regime hatten sich die sozialdemokratische „Demokratische Aktion“ (Acción Democrática) und das christdemokratische „politisch unabhängige Wahlorganisationskomitee“ (Comité de Organización Politica Electoral Independiente, COPEI) seit 1958 abwechselnd die Macht geteilt. Die Parteien verteilten die Regierungsposten untereinander so, dass die Macht der venezolanischen Oligarchie instandgehalten werden konnte. Es sei daran erinnert, dass Chávez selbst 1992 einen fehlgeschlagenen Putschversuch anführte. Nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis gewann er überraschenderweise 1999 mit einer neuen politischen Partei die Wahlen. Als er schon an der Regierung war, radikalisierte er seine Rhetorik gegenüber den USA. Zudem spielte er eine Rolle bei der Ablehnung der „Amerikanischen Freihandelszone“ (Área de Libre Comercio de las Américas, ALCA), half, Kuba wirtschaftlich zu unterstützen und gründete die „Bolivarianische Allianz für Amerika „(Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América, ALBA). Die Konsolidierung des Chavismus muss in den Kontext des Anstiegs der Rohstoffpreise gestellt werden, der den sogenannten „progressiven“ oder Mitte-Links-Regierungen in der Region seit 2001 die erforderlichen Mittel in die Hand gab, um ohne wesentliche Änderungen an den ökonomischen Rahmenbedingungen ihrer Länder eine Umverteilung in Richtung der armen Bevölkerung vorzunehmen. Venezuela hatte dabei den radikalsten Diskurs, besonders nach der Niederlage des Putsches von 2002 und der Niederlage der Aussperrung von Seiten der Bosse der Ölindustrie. Er sprach sogar vom „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ und einer “Fünften Internationale“. Er zitierte in seinen Reden sogar Trotzki, Marx, Lenin und Che Guevara, wie auch Bolivar, Martí, Jesus Christus und Perón.

Das von Chávez implementierte bolivarianische Regime hatte Elemente dessen, was Trotzki einen linken „Bonapartismus sui generis“ nannte, d.h. ein Regime, in dem die Streitkräfte versuchen, sich zum „Schiedsrichter“ aufzuschwingen, um den Handlungsspielraum der nationalen Bourgeoisie gegenüber dem Imperialismus zu erweitern, indem sie sich auf Sektoren der Massenbewegung stützen. Im Falle des Chavismus war seine wichtigste soziale Basis nicht die in den Gewerkschaften organisierte Arbeiter*innenklasse, sondern die am stärksten verarmten Sektoren, die in den Armenvierteln lebten und von den “Missionen“ und anderen staatlichen Maßnahmen profitierten. Hier baute Chávez seinen zuverlässigsten Kern auf, der ihn dann gegen den Putsch von 2002 unterstützte. In Bezug auf die Arbeiter*innenbewegung verfolgte der Chavismus eine Politik der Verstaatlichung und starken Reglementierung der Organisationen, die sich als Opposition zur bürokratischen und proimperialistischen Führung der „Konföderation der Arbeiter*innen von Venezuela“ (Confederación de Trabajadores de Venezuela, CTV) herausbildeten. Eine signifikante Steigerung der Beteiligung der Arbeiter*innen am Volkseinkommen bewirkte er jedoch nicht, wie es mit dem ersten Peronismus in Argentinien – ebenfalls in günstigen wirtschaftlichen Zeiten – geschehen war. Maduro ging sogar so weit, die Gültigkeit der Tarifverträge zunichte zu machen und verschiedene Gewerkschaftsführer*innen zu verfolgen (und zu verhaften). Das Regime verwandelte sich immer mehr in einen reaktionären und repressiven Bonapartismus, der zunehmend ohne Unterstützung der Bevölkerung auskam.

Was sich also mit Chávez etablierte, war in keiner Hinsicht eine Variante des Sozialismus, sondern ein neuer Ausdruck des bürgerlichen Nationalismus mit gewissen Besonderheiten. Dazu gehören Konfrontationen mit dem US-Imperialismus, aber auch der Fakt, dass die gestiegenen Einnahmen aus dem Ölgeschäft in den Jahren des Wirtschaftsbooms teilweise auf die am stärksten verarmten Sektoren verteilt wurden. Was sich jedoch nicht änderte, war die Struktur der Rentenökonomie des Landes, die von Ölexporten abhängig ist, und noch allgemeiner gefasst der Charakter venezolanischen Kapitalismus als abhängiges Land mit semikolonialen Wurzeln.

Mit dem Fall des Ölpreises ab 2014 begann der Niedergang des Chavismus, der im vergangenen Jahr durch die ausufernde Hyperinflation noch verschärft wurde. Wie wir bereits erwähnt haben, beträgt das Gehalt heute kaum noch 6 Dollar pro Monat. Obwohl der Staat in den Nachbarschaften, die den Chavismus besonders unterstützen, Lebensmittel verteilt, ist die Situation kritisch. Das Land steht vor dem völligen Zusammenbruch.

Angesichts dessen ergriff Maduro verschiedene Kürzungsmaßnahmen gegen die Arbeiter*innen, darunter die Aufhebung von Tarifverträgen im öffentlichen Dienst und eine massive Entwertung der Landeswährung Bolivar. Das führte 2018 zu erheblichen Streiks im Gesundheits-, Bildungs-, Zement-, Öl- und öffentlichen Sektor. Es wurden Lohnerhöhungen und die Verteilung von Lebensmitteln gefordert. Gleichzeitig wurde die Lieferung natürlicher Ressourcen an das ausländische Kapital erhöht, was entgegen der offiziellen Rechtfertigung keine Erhöhung der Ölproduktion ermöglichte und das Land daran hinderte, von dem im vergangenen Jahr eingetretenen Anstieg der Ölpreise zu profitieren. Inmitten der Krise zahlte Maduro weiterhin die Auslandsschulden ab – er prahlt damit, 72 Milliarden Dollar bezahlt zu haben –, und die Kapitalflucht setzte sich fort, während gleichzeitig immer mehr Sparpläne gegen die Arbeiter*innenklasse durchgesetzt wurden.

Es ist diese Situation, in der die aktuelle rechte Putschoffensive stattfindet. Die rechte Opposition war zuvor infragegestellt worden, da sie von breiten Sektoren als Ausdruck der Interessen der Reichen identifiziert wurde. Mit Guaidó soll dieses Bild reingewaschen werden, sowohl wegen seines jungen Alters, als auch weil er nicht aus einer reichen Familie stammt. Gleichwohl gehört er „Voluntad Popular“ (Volkswille, VP) an – der Partei von Leopoldo López, die zu den rechtesten und am meisten pro-amerikanischen Oppositionsparteien mit der größten Putschtradition gehört.

Obwohl der von Guaidó vorgelegte „Plan País“ („Plan für das Land“) viele der härtesten Maßnahmen kaschiert, die seit Jahren von rechten Ökonom*innen gefordert werden (wie das Einfrieren der Gehälter oder das Ende der Unkündbarkeit von Beschäftigungsverhältnissen im öffentlichen Dienst), erwähnt er ausdrücklich die Beendigung der Preiskontrollen und die Verabschiedung eines neuen Kohlenwasserstoffgesetzes, das es dem privaten Kapital und insbesondere dem Auslandskapital erlaubt, die Mehrheit der Anteile an den Ölvorkommen zu besitzen. Das bedeutet nichts weniger als die offene Privatisierung der Ölindustrie. Es wird auch gefordert, auf eine starke Auslandsverschuldung sowohl bei „multilateralen Organisationen“ (wie dem IWF und der Weltbank) als auch direkt bei den Staaten zurückzugreifen, während die Möglichkeit offen gelassen wird, den Weg eines „Umtauschregime“ der Währung, wie in Argentinien in den neunziger Jahren, oder einer Dollarisierung der Wirtschaft zu gehen. All diese Maßnahmen würden, wenn sie ergriffen würden, nur zu einer Verschlechterung der Situation der Arbeiter*innen führen. Streichung der Preiskontrollen, mehr Auslandsverschuldung, Privatisierungen und Öllieferungen an die US-amerikanischen multinationalen Konzerne sind die grundlegenden Elemente dessen, was kommt, wenn die Putschoffensive erfolgreich ist.

Was tun?

In Argentinien steht die „Front der Linken und Arbeiter*innen“ (Frente de Izquierda y de los Trabajadores, FIT) an der Spitze der Opposition gegen die imperialistischen Einmischung und den Putschversuchs der Rechten in Venezuela. Zugleich leistet sie keinerlei politische Unterstützung für die Regierung Maduros und prangert den repressiven Charakter seines Regimes und seine Verantwortung für die aktuelle Situation offen an. Die von den drei Parteien der FIT geschriebene Erklärung hebt hervor:

Venezuela muss von den Arbeiter*innen regiert werden und eine tiefgreifende antikapitalistischen Reorganisation durchführen, die die Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigt. Mit diesem Ziel, ausgehend von unserer Ablehnung des Putschversuchs und jeder Art von imperialistischer Einmischung, schlagen wir ein Notprogramm der Arbeiter*innen vor….

Im Gegensatz dazu erkennen die meisten bürgerlichen Parteien Guaidó an. Wieder einmal zeigt sich, dass nur diejenigen, die sich als sozialistische Linke und Arbeiter*innen verstehen, sich der imperialistischen Offensive entgegenstellen. Es sind die Arbeiter*innen und nicht die feige “nationale Bourgeoisie“, die uns von der imperialistischen Herrschaft befreien und einen unabhängigen Weg der wirklichen Einheit für die Länder der Region aufzeigen kann – mit Regierungen der Arbeiter*innen und in Richtung der Sozialistischen Vereinigten Staaten von Lateinamerika.

Mit der gleichen Perspektive, die in der FIT-Erklärung vorgeschlagen wurde, machen unsere Genoss*innen der „Liga de Trabajadores por el Socialismo“ (Liga der Arbeiter*innen für den Sozialismus, LTS) in Venezuela auf die Notwendigkeit einer wirklich freien und unabhängigen verfassungsgebenden Versammlung aufmerksam, ohne Verbote von Parteien oder Kandidat*innen, mit verpflichtendem und kostenfreien Zugang zu den Medien im Wahlkampf. Das ist Teil eines Programms, damit der Überdruss der Arbeiter*innen gegenüber dem Regime nicht von der pro-imperialistischen Rechten kanalisiert wird, die – wenn sie sie durchsetzt – die Not der Massen nur verschlimmern würde, wie wir in Argentinien mit der Umsetzung des Kürzungsprogramms von Macri und dem IWF sehen können. Es gibt keinen progressiven Ausweg aus dieser Krise, wenn die Arbeiter*innenklasse nicht selbstständig in sie eingreift, sich entschlossen dem derzeit laufenden imperialistischen Plan entgegenstellt, ihre Kampforgane weiterentwickelt und sich die Errichtung einer echten Regierung der Arbeiter*innen vornimmt.

Quelle: klassegegenklasse.org… vom 11. Februar 2019

 

[1] Wir möchten klarstellen, dass es diesbezüglich keine offiziellen Zahlen gibt, da die Zentralbank Venezuelas in den letzten drei Jahren keine Zahlen über die Wirtschaftsleistung, die Inflation und die Zahlungsbilanz vorgelegt hat.

[2] Barrel (engl. „Fass“) ist eine Maßeinheit für Erdöl, äquivalent zu 158,987294928 Liter.

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