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Die Entdeckung des Kommunismus

Eingereicht on 23. Januar 2019 – 9:51

Andreas Meinzer. Jan Gerber beginnt seine 2018 erschienene Studie über Karl Marx‘ rund 15-monatigen Exil-Aufenthalt in Paris auf ungewöhnliche Weise: Er setzt ein mit der Befreiung des KZ Auschwitz, mit der millionenfachen Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden – als Tief- und Endpunkt, als letzten, katastrophalen Ausdruck der Niederlage der ArbeiterInnenbewegung und ihres auch selbstverschuldeten Scheiterns im Kampf gegen den Nationalsozialismus.

Angesichts dessen hegte Brecht im kalifornischen Exil den Plan, das Kommunistische Manifest von Marx und Engels umzuschreiben, in dramatisierte Fassung zu bringen und dem tragischen Verlauf der Geschichte anzupassen, der alle geschichtsteleologischen Hoffnungen, ja, gar Gewissheiten auf den Sieg der Arbeiterklasse und den Aufbau einer befreiten, kommunistischen Gesellschaft hatte zuschanden werden lassen und, wie Friedrich Pollock bemerkte, auch die Marxschen Begriffe, wie den des Proletariats als revolutionärem Subjekt, im Nachhinein infrage stellte.

Ausgehend von diesen Überlegungen unternimmt Gerber die Rekonstruktion  des Begriffes »Kommunismus«, seine Genese seit dem 18. Jahrhundert und, wie der Untertitel seines Buches schon andeutet, seine »Entdeckung« durch den gerade einmal 25-jährigen Marx. »Kommunist« war der später wie kein zweiter mit diesem Begriff identifizierte Karl Marx nämlich noch keineswegs, als er vor der deutschen Zensur, den provinziellen Verhältnissen im preußisch-besetzten Rheinland in die Millionen-Metropole an der Seine floh, die, nach London, damals zweitgrößte Stadt der Welt. Vielmehr war er radikaler Demokrat und Unterstützer des progressiven Teils der Liberalen, die auch die von ihm zu Berühmtheit gelangte Rheinische Zeitung, deren Redakteur er in Köln gewesen war, finanziell unterstützten. Die Idee des Kommunismus war zu jener Zeit noch wenig ausgereift, geprägt durch utopische Vorstellungen der Frühsozialisten wie zum Beispiel Marx‘ späteren Intimfeind Pierre Joseph Proudhon, der sich einen Sozialismus als Assoziation von Siedlungs- und Produktionsgemeinschaften neben den bestehenden staatlichen Institutionen und privatwirtschaftlichen Betrieben vorstellte.

Der einstige Junghegelianer Marx verbannte in der Zeit seiner Redakteurstätigkeit für das radikaldemokratische Blatt Beiträge einstiger philosophischer Weggefährten, die nun Partei für den Kommunismus ergriffen, aus dieser Zeitung und polemisierte in einer Auseinandersetzung mit der Augsburger Allgemeinen mit der Aussage, gegen praktische Versuche, die theoretischen Reflexionen der Kommunisten in die Tat umzusetzen, sei es geboten, mit Kanonen zu antworten. Doch auch diese keineswegs taktischen Überlegungen geschuldete Abgrenzung vom Kommunismus konnte das Verbot der Zeitung durch den reaktionären Friedrich Wilhelm IV. im März 1843 nicht verhindern. Marx sah sich gezwungen, Deutschland gen Frankreich zu verlassen, wo die reaktionäre Bourbonen-Monarchie endgültig durch den »Bürgerkönig« Louis-Phillipe von Orleans abgelöst worden war, der zeitweise für einige Liberalisierungen sorgte.

Paris im 19. Jahrhundert – das war nicht nur die Hauptstadt Frankreichs, sondern auch die Hauptstadt der Randale, wie Gerber süffisant zu erzählen weiß. Aufstände, sei der Anlass auch noch so gering, waren an der Tagesordnung. In den 1830er Jahren behauptete gar ein der Verschwörung Angeklagter, er sei von Beruf Randalierer. Während Marx‘ Aufenthalt hatte sich die gesellschaftliche Lage zwar wieder beruhigt – dies war allerdings, wie Gerber schreibt, »die Ruhe vor dem Sturm«, die angespannte Phase vor der großen Welle der Revolutionen in Europa des Jahres 1848. Zeit, um nach- und vorzudenken, vergangene Revolutionen zu reflektieren und Utopien einer neuen, sozialistischen Gesellschaft zu entwerfen – wie dies die einflussreichen Frühsozialisten Saint-Simon, Blanqui, Fourier oder Proudhon getan hatten –, für Marx und Friedrich Engels, den ersterer erst in Paris persönlich kennenlernte, aber auch Anlass, die bisherigen, gescheiterten Revolutions- und Aufstandsversuche kritisch zu reflektieren, aus an Hegel geschultem philosophischem Denken und empirischer Beobachtung der Bewegungen und Widersprüche in der Gesellschaft eine neuartige Theorie derselben zu entwerfen. Jan Gerber arbeitet heraus, wie stark Marx bei seiner Revolutionstheorie von der Französischen Revolution 1789 geprägt war, er aus ihrer Geschichte seine Kategorien entwickelte – und diese ihm, wie Gerber anmerkt, leider allzu oft, wider alle Empirie, zur Schablone wurden und ihn zu Fehlurteilen führten. So sei vor allem die Rede vom Proletariat nicht haltbar, das im Zuge der industriellen Entwicklung immer weiter anwachsen müsse, zur revolutionären und letztlich stärksten und mächtigsten aller Klassen werde, bis es im Klassenkampf den Sieg davon trage und die sozialistische Gesellschaft aufbaue. Von einer solchen Entwicklung könne zur Zeit, als Marx und Engels das Kommunistische Manifest verfassten, keineswegs die Rede sein. Vielmehr seien die bei Marx und Engels als »Arbeiter« firmierenden Revoltierenden noch dem Handwerk zuzuordnen, teils auch dem Bauerntum, teils in Personalunion, oder sie seien Heimarbeiter gewesen und damit nicht aller Produktionsmittel beraubt. Eine starke Industriearbeiterschaft habe es hingegen im damaligen Paris noch gar nicht gegeben, die Betriebe seien bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts eher Manufakturen als Fabriken gewesen. Marx habe bei der Rede vom Proletariat als ›revolutionärem Subjekt‹ zwei, gar drei disparate Komponenten zu einem Konglomerat vermischt, das damals dergestalt nie zur gleichen Zeit am gleichen Ort Realität geworden sei: Die Aufstände und Revolten der französischen Handwerker und Bauern; die Industrialisierung, das Fabrikwesen und die Verelendung der (laut Gerber nicht an der Revolution interessierten) englischen Arbeiter, wie sie Friedrich Engels in seiner Schrift Die Lage der arbeitenden Klasse in England beschrieben hatte – und, als alles verbindender philosophischer Kitt, die idealistische Philosophie Hegels mit ihrer Figur des Weltgeistes, dessen Rolle in Marx‘ System nun das Proletariat eingenommen habe.

Gerbers Untersuchungen der philosophischen und politischen Genese des Marxschen Denkens sind quellenbasiert, detail- und erkenntnisreich, zudem elegant geschrieben und kurzweilig zu lesen. Sie enttäuschen jedoch im Schlussteil, wenn die Thesen des Prologs nach der werkbiographischen Analyse in das Resultat münden, mit den gescheiterten Klassenkämpfen sei auch die Kategorie der Klasse per se erledigt. Schlechterdings Karl Marx in toto, der in der bürgerlichen Wissenschaft und Publizistik allzu oft auf die Arbeiterklasse, ihren Kampf und das Manifest verkürzt wird. Zwar hat Gerbers Buch seinen Fokus klar auf dem noch ›frühen‹ Marx und nicht auf jenen ökonomietheoretisch gereiften der Zeit in London, in der er sein Hauptwerk Das Kapital zu schreiben beginnt. Jedoch hätte der oder die LeserIn, wenn im Prolog von Friedrich Pollock, einem Vertreter der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule die Rede ist, Reflexionen erwartet, die sich aus dieser speisen oder ihr in der Nachfolge verpflichtet sind. Wie zum Beispiel jene Moishe Postones, der Marx‘ Kategorien aus dem Kapital, seine Wertform- und Fetischanalysen dazu benutzte, den Nationalsozialismus und insbesondere den ihm wesenseigenen Antisemitismus zu erklären, zu kritisieren – und seine Abschaffung qua Überwindung der warenproduzierenden Gesellschaft zu antizipieren. Diese Perspektive der Befreiung, auch nur eine Spur davon, lässt Jan Gerber leider vermissen.

Jan Gerber: Karl Marx in Paris. Die Entdeckung des Kommunismus. München: Piper, ISBN 978-3-492-05891-9, 240 Seiten, 22 Euro

Quelle: express 12/2018… vom 23. Januar 2019

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