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Die französischen Gelben Westen und die (deutsche) Linke

Eingereicht on 13. Februar 2019 – 17:20

Wolf Wetzel. Die Gilets Jaunes in Frankreich stören nicht nur den Macronismus, sie stören auch linke Selbstbilder. Ein deutsch-französischer Grenzgang.

Seit November 2018 prägen sie die Schlagzeilen und die Bilder aus dem Nachbarland. Zehntausende gehen in Frankreich auf die Straße, blockieren sie und damit auch den gewohnten Lauf der Dinge. Auslöser waren angekündigte Kraftstoffpreiserhöhungen. Sie tragen gelbe Westen wie nach einem Verkehrsunfall, um auf eine Gefahr aufmerksam zu machen.

Kaum hat man den Protest wahrgenommen, versuchte man ihn zu vermessen. Nichts ist wichtiger, gerade in Deutschland. Das ist sehr bitter und verärgert gemeint, denn die Linke steht hier gerade nicht auf einem Berg von Siegen, die es ihr leicht machen würde, einen gekonnten Blick auf andere Kämpfe zu werfen. [1]

In der Tat, für viele Linke kamen die Gelbwesten mehr oder weniger aus dem Nichts. Das liegt vor allem daran, dass sie weder aus befreundeten politischen Milieus kommen, noch sich selbst in (vorangegangene) Protestbewegungen einweisen.

Das war bei der Bewegung „nuit debout“ zwei Jahre zuvor noch ganz anders. Sie war stark studentisch, akademisch geprägt, war „diskursmächtig“, uns also vertraut. Die Codes waren bekannt und die Protestformen (Platzbesetzung/Vollversammlungen) auch. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass man so misstrauisch, so abfällig mit dieser Bewegung umgegangen ist. Hat man diese gefragt, wie widersprüchlich sie sein darf? Und weiß jemand heute, wie schnell nuit debout aus den Augen und aus dem Sinn verschwand?

Zeit der Linienrichter

Vielleicht kann man sagen, dass sich die Gelbwesten dadurch auszeichnen, dass sie keine „politische Identität“ darstellen und befriedigen, sondern als „soziale Subjekte“ agieren, also einen sozialen Antagonismus wiederspiegeln, anstatt Interessenspolitik zu betreiben.

Ganz schnell, gerade in Deutschland, waren statt Fragen und Neugierde Linienrichter zur Stelle: Der Protest sei suspekt, potenziell rechts, vielleicht sogar ein gefundenes Fressen für die neofaschistische Partei Front National, die sich 2018 in Rassemblement National (RN) umbenannt hat.

So hatte der Parteichef der LINKEN, Bernd Riexinger, bereits zu Beginn der Bewegung sein Urteil gefällt: „Das Potenzial Ultrarechter in den Reihen der Bewegung ist besorgniserregend“, sagte er den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland. „In Deutschland wäre eine solche Verbrüderung linker und rechter Gesinnung nicht denkbar.“ (ND vom 5.12.2018)

Man wisse überhaupt nicht, was die wollen und überhaupt: Man hat die, die im politischen Geschäft zuhause sind, nicht gefragt, nicht eingeweiht, nicht auf die Bühne gebeten. Man ist also gekränkt.

Wohlwollende taxierten ihre Ausdauer auf ein paar Wochen, ein Feuerwerk also, das schnell erlischt. Nun hat sich auch dieses Argument erledigt, denn die Gilets Jaunes gehen nun in die 14. Woche (Acte XIV). Das erwartete und erwünschte Abflauen will sich nicht einstellen. Am 20. Januar 2019 gingen zehntausende Frauen auf die Straße, um zu demonstrieren, dass es um mehr als steigende Spritpreise geht. Am 9. Februar 2019 waren es über Hunderttausend.

Anfangs rümpfte man die Nase: Wer würde hier wegen der Erhöhung der Spritpreise auf die Straße gehen? Sofort mutmaßte man eigennützige und kleinbürgerliche Beweggründe. Als die Gilets Jaunes schließlich einen Forderungskatalog aufstellten, der nun alles andere als schmalbrüstig ist, stürzten sich – wahrscheinlich dieselben – auf die widersprüchlichen Forderungen. So steht zum Beispiel die Forderung nach „Rückführung abgelehnter Asylbewerber in ihr Ursprungsland“, neben den Forderungen nach „Abstellung der Ursachen für erzwungene Migration“ und „korrekte Behandlung von Asylbewerbern. Wir schulden ihnen Wohnraum, Sicherheit, Ernährung sowie Bildung für die Minderjährigen.“

Als auch klar wurde, dass sich die Gilets Jaunes weder von neofaschistischen Parteien (FN/RN), noch von der parlamentarischen Linke einfangen lassen, ließ man die Karte „Rechtspopulismus“ oder gar „Anschlussfähigkeit“ zu nationalistischen/faschistischen Ideologien einfach stecken. Nachdem sich die meisten Anwürfe und Verdächtigungen nicht bewahrheitet haben, wären Entschuldigungen und eigenes Nachdenken durchaus am Platz gewesen. Stattdessen überwiegt das Schweigen.

Es gibt also einige Gründe, nicht so sehr über die Gelbwesten, sondern über die Linke in Deutschland nachzudenken.

Klassenkampf von oben

Die Macronisten machten daraufhin das, was sie machen, seitdem sie an der Regierung sind. Sie zogen ihren Stiefel durch, erklärten die „Reform“ für unantastbar. Für den Rest haben sie ja die Polizei und das ganze Arsenal an Repressionen.

Die Gilets Jaunes haben die Plattform „desarmons les“ („Entwaffnet sie“) eingerichtet, die die Repression der französischen Polizei zwischen November und Dezember 2018 zu dokumentieren versucht. Dort kann man anschauen, was Blendgranaten, Gummigeschosse und Knüppeleinsätze bewirkt haben. Alleine durch den Einsatz von Gummischossen haben nach deren Recherchen über siebzehn Menschen ein Auge verloren.

Während also die Polizei auf der Straße schlägt, prügelt und schießt, beraumen die Macronisten eine „nationale Debatte“ an, die wesentliche Forderungen der Gilets Jaunes aus der Diskussion ausschließt (wie zum Beispiel eine gerechte Steuerreform), womit das Ganze zu einer aufwendigen Farce verkommt.

Und die Regierung lädt nach: So kündigte Ministerpräsident Philippe im Januar 2019 im französischen Fernsehen an, dass die Beteiligung an nicht genehmigten Demonstrationen in Zukunft strafrechtlich verfolgt werden soll. Außerdem soll ein Vermummungsverbot erlassen, sowie eine Kartei für ‚potentielle Gewalttäter‘ geschaffen werden.

Trotz der massiven staatlichen Gewalt und noch gewaltigerer politischer Geringschätzung wuchs der Protest, bekam Woche für Woche mehr Zulauf. Als Hunderttausende überall in Frankreich demonstrierten und die Gewalt, die das Regime als Antwort hatte, auf sie zurückschlug, verstanden die Macronisten auf einmal das Anliegen, obwohl es tatsächlich sehr laut war. Was wochenlang mit Worten, Argumenten und Bitten nicht gelang, geht nun dank der Gegen-Gewalt. Man wolle sich das einmal anhören. Wie generös, mon général!

Normalerweise hat man dankbar zu sein, wenn man endlich zu den großen Herren an den Tisch gebeten wird, wenn man mal kurz vorsprechen darf. Und wieder passierte etwas, worüber geübte Politprofis nächtelang gestritten hätten. Die Gelbwesten lehnten die Gnade ab, gehört zu werden. Also luden die Macronisten die Oppositionsparteien und die Gewerkschaften ein, die man normalerweise vor der Tür stehen lässt. Mit irgendjemandem muss man ja reden – fürs Fernsehen, für die Gala des guten Willens.

Aber die geladene „Opposition“ kann nicht einmal dem Anschein nach für die Gelbwesten sprechen. Sie haben selbst keine Ahnung, was sich jenseits ihrer Spielfelder und Absperrungen zusammengefunden hat. Sie suchen selbst nach Erklärungen. Reflexartig und recht zusammengestottert haben alle irgendwie Sympathie für die Gelbwesten. Aber vor allem tragen sie das vor, was sie schon immer vortragen, schon immer einmal sagen wollten – ob es passt oder nicht.

Arroganz der Musterung

Nachdem Ignoranz und Polizei nicht fruchteten, lässt die politische Klasse ihre Soziologen, Politologen und Sozialwissenschaftler los, um sich das Phänomen erklären zu lassen. Nicht einmal die Geheimdienste haben etwas kommen sehen, haben davor warnen können. Kamen die Gelbwesten aus dem Nichts, aus dem Untergrund? Wie kommen sie alle zusammen? Warum gerade jetzt? Wegen steigender Spritpreise? Wer repräsentiert sie, wer leitet sie, wohin wollen sie?

Das Besondere an dieser Situation ist: Nicht nur die Herrschenden suchen nach Erklärungen und bieten dunstige Analysen an. Auch die (außer-)parlamentarische Linke tut sich schwer. Die einen solidarisieren sich, mischen sich einfach drunter, die anderen wollen mit eigenen Farben, mit einem eigenen Trikot dabei sein: Die Rotwesten. Aber ganz viele wissen, wo’s langgeht, was fehlt, was so nicht geht …

Und wenn man die Suchbewegungen der Linken halbwegs zusammenfassen kann, dann ist ihre Art und Weise selbst das Problem: Man fragt sich, ob man diese Bewegung nach links wenden kann, gegen die Gefahr einer rechten Vereinnahmung. Man fragt sich, ob man intervenieren soll, was offensichtlich gut gemeint ist. Nach dem Motto: Euer Anliegen ist ganz nett, aber euch fehlt der große Wurf. Wir zeigen euch das einmal. Lass uns durch und selbstverständlich ganz nach vorne. Die nächsten finden die Gelbwesten ganz okay, aber fragen sich, ob man sie radikalisieren könne, ob sie das Potenzial dazu haben, also der Mühe wert sind. Vieles davon hat die Arroganz einer Musterung, bevor man eingezogen wird, bevor man für kriegstauglich erklärt wird.

Die Suche nach Spuren im „Netz“, das Auswerten von Facebook-Profilen zeigt auf, wie weit weg man von den Ereignissen ist, wie weit weg die Menschen sind, die man nun auf diesem Wege ein- und zuordnen will.

Wenn man diese, also auch unsere eigenen Erfahrungen zum Ausgangspunkt nimmt, dann kann man auch würdigen, was die Gelbwesten in Bewegung gebracht haben. Und es gibt vieles, was man die „Gelbwesten“ fragen kann, was einem unklar ist, was im wahrsten Sinne des Wortes in Bewegung ist.

All das ist dann nicht besserwisserisch und arrogant, wenn man sich selbst, die eigene Praxis mitbefragt. Doch die allermeisten Fragen, die man an die Gelbwesten richten kann, werden gar nicht ans eigene Tun gestellt. Würde man genau dies machen, käme man zu dem Schluss, dass die Fragen, die man an die Gelbwesten richtet, nicht neu sind, sondern seit Langem auf Eis liegen.

Symbolpolitik oder Durchsetzen von Forderungen?

Sicherlich gibt es auch in Frankreich diese nervtötenden Diskussionen. Aus Deutschland kennt man sie zur Genüge. Wenn der Eine das Fenster schließen will, sagt die Andere: Das Fenster bleibt auf! Der Eine begründet es damit, dass es draußen kalt ist. Die Andere erwidert, Du bist so kaltherzig.

Kaum irrsinniger ist die in Deutschland geführte Debatte innerhalb der (parlamentarischen) Linken: Die einen fordern im Kontext der Migrationspolitik „Fluchtursachen bekämpfen“, die anderen „Grenzen auf“. Wenn man nicht einer Fraktion, einer der beiden „Boygroups“ angehört, versteht man den denunziatorisch und gehässig geführten Streit nicht, denn beide Forderungen geben nur zusammen einen Sinn.

Dabei geht völlig der Blick verloren, wie man – welche Forderung auch immer – durchsetzen kann. Denn jede Forderung bleibt hochgradige Symbolpolitik, wenn sie nicht im Handeln sichtbar wird.

Wenn man sich dagegen das Wirken der Gelbwesten anschaut, müsste doch auffallen, dass sie mit ihren widersprüchlichen Forderungen etwas geschafft haben, was der Linken in den letzten 20 Jahren nicht gelungen ist: Anstatt Rückschritte mit Verve zu beklagen und dabei ganz korrekt zu sein, haben die Gelbwesten der französischen Regierung über 10 Milliarden Euro abgerungen, in der Hoffnung, dass sich damit das Feuer löschen ließe. Das lag am allerwenigsten daran, dass die französische Regierung davon überzeugt werden konnte, dass diese Forderungen gerecht, mehr als notwendig sind. Viel entscheidender war, dass sie zu diesem Entgegenkommen genötigt wurde, zum einen durch die Masse auf der Straße, die trotz und mit der Repression zunimmt. Aber auch dadurch, dass die Gewalt der französischen Polizei auf Gegengewalt stieß.

In Deutschland wäre sofort von einer Heerschar an Linienrichtern die „Gewaltfrage“ aufgeworfen worden, also die Frage nach dem Sinn von Gewalt, aus moralischer, politischer und ideologischer Sicht. In Frankreich, und nicht erst seit den Protesten der Gelbwesten, geht es schlicht und verständlich darum, inwieweit man sich am besten (vor Polizeigewalt) schützen und mit welchen Mitteln man ein Ziel durchsetzen kann. Am 1. Dezember 2018 in Paris war offensichtlich der Punkt erreicht: Wenn die Polizei unser Augenlicht zerstört, dann zerstören wir den „ultimativen Ort für Shopping“, die heile und glitzernde Welt der Luxusmeile Champs-Elysées.

Dass Gewalt nichts bringt, ist also in vielerlei Hinsicht widerlegt. Zu einem beweisen die Regierungen in Europa zuhauf, dass Gewalt etwas bringt. Zum anderen zeigt dieses Beispiel auf, dass auch Gegengewalt zum Erfolg führen kann.

Wahrscheinlich dürfte auch Folgendes in Deutschland zu Naserümpfen und (stiller und lauter) Distanzierung führen. Die Gelbwesten beklagen nicht nur, sie fordern nicht nur: Sie sorgen auch selbst dafür, dass ein Ärgernis beseitigt wird. Und das sind die Radarfallen in Frankreich allemal. Sie stehen bevorzugt dort, wo man ganz sicher viel Geld machen kann. Über eine Milliarde Euro nimmt der französische Staat auf diese Weise ein. Im Zuge der Gelbwesten-Proteste wurden zwei Drittel der Radarfallen unbrauchbar gemacht. Auf ähnlich praktische Weise ging man gegen Maut-Stellen vor.

Institutionalisierung ohne Parlamentarismus?

Kann man als Bewegung „auf der Straße“ bleiben und sich zugleich institutionell absichern, ohne sich selbst zu parlamentarisieren? Lange vor den „Gelbwesten“ war dies schon eine Kernfrage, aber eben auch der Knackpunkt, an dem Bewegungen zerfallen, auseinanderlaufen und sich zerstreiten.

Bewegungen haben ihre Faszination zuerst in ihrem Ausnahmezustand. Ob das bei der „occupy-Bewegung“ war, die öffentliche Plätze besetzt, oder bei der Bewegung „nuit debout“, die sich die Nacht erobert hatte. Sie durchbrechen den Alltag, ziehen sehr viele in den Bann, bis der Alltag zurückkehrt, der eigene, den man neben dem Ausnahmezustand mitversorgt, mit aufrechterhält – für eine schlaflose Weile. Verbunden mit der meist einsetzenden Repression erschöpft sich im wahrsten Sinne des Wortes eine Bewegung auf diese berechenbare Weise. Der Widerstand und die Wut müssen also organisiert werden. Man muss sich die Wut einteilen, man muss im Widerstand wachsen, und man wird sich dabei auf Prioritäten und Intensitäten einigen müssen.

Von occupy und blockupy bis hin zu nuit debout wissen wir, dass sie recht kurz Geschichte geschrieben haben. Dieses Schicksal hat man auch den Gelbwesten vorhergesagt. Doch sie haben sich –bisher – dieser naheliegenden Logik widersetzt. Sie gibt es nun seit zweieinhalb Monaten, der 12. Akt steht bevor. Ist das Zufall oder hat das etwas mit der Besonderheit dieser Bewegung zu tun? Zweifellos unterscheiden sich die Gelbwesten in einem Punkt ganz wesentlich von den vorangegangenen Bewegungen. Sie haben quasi über Nacht ihren eigentlichen „kleinen“ Anlass, die Erhöhung der Spritpreise, hinter sich gelassen. Fast von alleine haben sie einen gesellschaftlichen Unmut zusammengebracht, der für gewöhnlich ziemlich fragmentiert und vereinzelt vertreten wird. Die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Anliegen sichtbar zu machen, ist das Besondere. Aber genauso wichtig ist es, die verschiedenen Menschen, die unterschiedlichen Milieus zusammenzubringen, also nicht nach den Unterschieden zu suchen, sondern um Gemeinsamkeiten, um Verbundenheiten zu kämpfen.

Nun kommen die Gelbwesten an den Punkt, an den alle Bewegungen zuvor gestoßen sind. Man hat sich „auf der Straße“ gefunden, um sich dem herrschenden Politikbetrieb entgegenzustellen. Man hat die Parteien abgelehnt, die vorgegeben hatten, die Interessen der Bevölkerung zu vertreten. Man hat den Ort, das Parlament abgelehnt, wo angeblich Demokratie praktiziert wird. Doch irgendwann kommt der Punkt, wo man sich fragt, ob die „Straße“ der einzige, alleinige Ort sein kann.

In der Hochphase einer Bewegung ist man sich sicher, dass man nur genug Druck auf der Straße machen muss, damit sich die Parteien, die Regierung ihrer Sache annehmen. Wenn aber die Zeit der kleinen Zugeständnisse vorbei ist (in Frankreich machen diese Zugeständnisse immerhin über zehn Milliarden Euro aus), drängt sich die Frage auf, ob man nicht selbst Partei werden will, um das Anliegen eigenhändig zu vertreten. Im besten Fall kommt dann die berühmte Denkfigur vom parlamentarischen Spielbein und außerparlamentarischen Standbein zum Zuge. So sind die „Grünen“ in vielen europäischen Ländern entstanden und sicherlich spielen die Wahlplattform LFI „La France insoumise“ (das unbeugsame Frankreich) oder die Partei „Die Linke“ eine ähnliche Rolle.

Die Antwort auf die Frage nach Schaffung gesellschaftlicher/politischer Repräsentanz mittels einer „guten/besseren“ Partei steht auf dem Prüfstand. Also auch die Frage, ob das Parlament ein Ort der Demokratie ist oder vielmehr ein Ort, um von denen abzulenken, die nicht wählbar sind und die Macht haben? Es haben sich in den letzten Jahrzehnten viele Erfahrungen angesammelt. Wurden sie ausgewertet? Von diesen „guten/besseren“ Parteien gab es in Frankreich viele, von der einst so starken kommunistischen Partei bis hin zur Plattform der „La France insoumise“.

Dass die Existenz und das Auftreten der „Gelbwesten“ auch eine große Unzufriedenheit mit den „linken (parlamentarischen) Alternativen“ zum Ausdruck bringen, spricht der Theaterregisseur Thomas Ostermeier herzerfrischend klar aus: „Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, ich habe mich in den Jahren immer gewundert und ich wundere mich in Deutschland auch noch, warum die Leute, die seit zum Beispiel 20 Jahren keine reale Lohnsteigerungsentwicklung haben, wie das in Deutschland der Fall ist, warum die Leute das mit sich machen lassen und warum es noch so wenig ungeleiteten Hass oder ungeleitete Gewalt gibt. Das Problem, was viele westliche Gesellschaften haben, ist natürlich, dass wir erst mal von einer sozialdemokratischen Linken und einer gewerkschaftsnahen Linken oder einer sozialistischen Linken wenig zu erwarten hatten, die letzten 20, 30 Jahre, und deswegen diese Bewegungen, weil es die Ungerechtigkeit gibt, weil es den Unmut gibt, weil es soziale Gewalt und Benachteiligung gibt, dass diese Bewegungen jetzt auf einmal ausbrechen und nachvollziehbarerweise ausbrechen. Ich glaube, wir haben uns das selber zuzuschreiben, und unsere Betroffenheit ist dann auch etwas heuchlerisch. (…) wenn man einen Punkt erreicht hat, wo man sich über Jahrzehnte verarscht gefühlt hat und auch von seinen Gewerkschaftsführern verraten gefühlt hat und auch von seiner parlamentarischen Linken verraten gefühlt hat, kann man jetzt nicht einfordern, Leute, wo sind denn eure Rädelsführer, wo sind denn eure Theorien, wo sind denn eure Anführer, mit denen wir ins Gespräch kommen können. Das hat man oft erlebt, wie diese Anführer dann die Bewegung verraten haben und deswegen sind sie so misstrauisch.“ (Schriftsteller und die „Gilets Jaunes“, Deutschlandfunk, Kultur heute, 05.12.2018)

Wahlbeteiligung und Räte

Nun liegen zwei Vorschläge auf dem Tisch der Gilets Jaunes. Es wurde die Absicht formuliert, als „Gilets Jaunes“ an den Europawahlen teilzunehmen. Dazu muss man nicht unbedingt Partei werden, aber selbstverständlich wird ein Erfolg eine parteiförmige Repräsentanz stärken. Ob dies dem Anliegen tatsächlich hilft, ob die Gelbwesten als Bewegung diese parlamentarische Option annehmen, ist noch offen.

Es gibt einen zweiten Vorschlag, der aus einem Treffen der Basiskomitees in Commercy am 26./27. Januar 2019 hervorgegangen ist. Zum einen „aktualisiert“ und priorisiert er die Forderungen:

„Zu den am häufigsten diskutierten strategischen Forderungen und Vorschlägen gehören: die Beseitigung der Armut in all ihren Formen, die Transformation der Institutionen (RIC, Verfassung, Ende der Privilegien der Abgeordneten …), der ökologische Wandel (Energiesicherheit, industrielle Umweltverschmutzung …), die Gleichstellung und Gleichberechtigung aller Menschen unabhängig von ihrer Nationalität (Menschen mit Behinderungen, Geschlechtergleichstellung, Ende der Benachteiligung von Arbeitervierteln, ländlichen Gebieten und Überseegebieten …).“

Zum anderen macht er auch einen Vorschlag, wie man mehr als eine Bewegung und doch keine Partei sein kann. Denn natürlich geht es darum, wie man sich als Bewegung organisiert. Tut man dies nicht, werden die informellen Hierarchien das Sagen haben: „Wir fordern die Bildung von Arbeiterausschüssen in den Betrieben, an den Schulen und überall sonst, wo es notwendig ist, damit unser Streik an der Basis von den Streikenden selbst geführt werden kann. Lasst uns unsere Geschäfte selber in die Hand nehmen! Bleibt nicht allein, schließt euch uns an!“

Was jenseits der Parlamente, also auf der „Straße“ passieren soll, sagt dieses Manifest auch: „Wir rufen zur Fortsetzung der Aktionen auf (Akt 12 gegen polizeiliche Gewalt vor den Polizeistationen, Akt 13, 14 …), zur Fortsetzung der Besetzung von Kreisverkehren und der Blockade der Wirtschaft. Wir rufen ab dem 5. Februar zu einem massiven und verlängerbaren Streik auf.“

„Acte 12“ fand am 2. Februar 2019 statt. Im Mittelpunkt stand die Polizeigewalt, insbesondere der Einsatz von Gummigeschossen (Flashball LBD-40) und Offensivgranaten. Die Gummigeschosse werden auch gezielt auf Kopf und Genitalien gerichtet. Die Gilets Jaunes fordeten bei diesem Acte 12 ein Verbot paramilitärischer Waffen. Die Polizei antwortete mit Gummigeschossen.

An diesem Acte 12 nahmen über 60.000 Menschen teil.

Quelle: lowerclassmag.com… vom 13. Februar 2019


[1] Ich verwende im Folgenden den Begriff „Linke“ sehr bewusst und gewollt, denn ich bin fest davon überzeugt, dass „links“ und „rechts“, „oben“ und „unten“ als grobe Orientierungsmarker nicht überholt sind. Sie sind mehr denn je wichtige Koordinaten, die auch unterscheiden lernen, was eine radikale, was eine vorgetäuschte Revolte ist.

Wenn ich hier also an „die Linke“ adressiere, dann verstehe ich das als eine inhaltliche Bestimmung, unabhängig davon, ob man sich als Partei organisiert oder als Bewegung versteht.

Unter „links“ ist eine Kritik zu verstehen, die für die herrschenden Verhältnisse die Kapital-Eigentümer und die politische Klasse verantwortlich macht, die Macht und Herrschaft also dort in Frage stellt und angreift, wo sie ist.

Ganz im Gegensatz zur „rechten Kritik“, die nicht die Gesetzmäßigkeiten dieser Herrschaft meint, sondern ihre Halbherzigkeit. Diese stellt sich der Herrschaft nicht in den Weg, sondern agitiert und „rebelliert“ für ihre Barbarisierung.

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