Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Geschichte und Theorie, Kampagnen

Fünf Botschaften aus dem Sudan und aus Algerien

Eingereicht on 9. Mai 2019 – 17:17

Anonym auf Arabisch veröffentlichter Artikel auf der Website der Revolutionären Sozialisten in Ägypten vom 9. März 2019.

Das Anschwellen der Mobilisierungen der algerischen Volksmassen hat auch nach Wochen nicht nachgelassen, während die Massenmobilisierungen des sudanesischen Volkes in den vierten Monat gehen. Diese neuen Protestwellen zeigen, dass die Massen weiterhin Widerstand leisten werden, bis die strukturellen, politischen und wirtschaftlichen Probleme der Regime der Region gelöst sind: Despotie, Diktatur und extreme neoliberale Politik, die die Korruption fördert. Wenn es die politischen und sozialen Bedingungen erlauben, widersetzen sich die Massen, um ihre Interessen zu verteidigen. Die anhaltenden Volksaufstände im Sudan und in Algerien bringen wichtige Botschaften an die Menschen in der Region.

Erste Botschaft: Die Ära der Massenrevolution ist noch nicht vorüber.

Seit Jahren tun die diktatorischen und konterrevolutionären Regimes in der Region alles in ihrer Macht Stehende, um die Errungenschaften des «arabischen Frühlings» von 2010-2013 zu demontieren und dessen Grundlagen zu demontieren, aber auch ein ekelerregendes ideologisches Bild der Revolution überhaupt als politischen Weg aufzubauen, das den Volksmassen, die eh für die Niederlage prädestiniert seien, nur Katastrophen bringen würde.

Aber die Rückkehr dieser Volksmassen an die Spitze der Szene im Sudan und in Algerien zeigt, dass die Revolution nach wie vor eine politische Entscheidung der Völker ist und die einzige Möglichkeit darstellt, die Probleme von entschieden irreformierbaren Regimes zu überwinden. In Algerien stellt Bouteflika nur eine Projektionsfläche dar, hinter dem die korrupten Netzwerke aus Generälen und Geschäftsleuten arbeiten. Im Sudan steht al-Bashir an der Spitze eines blutigen Regimes, das eine rücksichtslose Sparpolitik gemäß dem Diktat des Internationalen Währungsfonds durchsetzt.

Während sudanesische und algerische Frauen rebellieren, entwickelt sich auch in Marokko eine Massenbewegung, wo große Gewerkschafts- und Gruppen von Lohnabhängigen Demonstrationen organisieren, in Tunesien mit Arbeiterstreiks, im Libanon mit einer Bewegung gegen die hohen Lebenshaltungskosten und davor in Jordanien, wo eine Volksbewegung im vergangenen Juli den König zwang, einige Wirtschaftsreformen rückgängig zu machen, ganz zu schweigen von den grossen Märschen für die Rückkehr nach Palästina. Auch in Ägypten und anderen Ländern der Region nimmt die Wut der Bevölkerung zu und sucht nach einem Ventil, über das sie sich äußern kann.

Trotz der erlittenen Niederlagen sind vergangene Revolutionen nach wie vor inspirierend, bieten Lektionen und Erfahrungen, und ihr Gespenst bereiten den Despoten der Region immer noch Alpträume. Wenn die sudanesischen und algerischen Aufstände in den kommenden Wochen große Siege feiern würden, würden sie Wellen der Hoffnung und des Vertrauens in der gesamten Region verbreiten.

Zweite Botschaft: von der Politik zur Wirtschaft und umgekehrt

Im Gegensatz zu dem dominanten Bild, das von den arabischen und internationalen Medien vermittelt wird, haben sudanesische und algerische Aufstände ihren Ursprung in viel tieferen Quellen als die unmittelbaren Losungen, auf die die dominanten Medien diese Volksbewegungen redduzieren wollen. Im Sudan war der Funke, der das Pulver zum Zünden brachte, die Entscheidung des Regimes, den Brotpreis zu verdreifachen, aber die Volksbewegung (die am 19. Dezember 2018 begann) einigte sich schnell auf die Losung des Sturzes des Regimes und erklärte, dass es keinen Raum für Verhandlungen oder Kompromisse mit dem blutigen Regime von Omar al-Bashir gebe, der sein Volk seit drei Jahrzehnten ausgehungert und in die Armut getrieben hat, und dass dieses einfach «nur fallen» müsse. In Algerien gingen Slogans und Forderungen schnell über die Beseitigung von Bouteflika hinaus, um soziale Probleme wie Arbeitslosigkeit (von der 29% der unter 30-Jährigen betroffen sind), ganz zu schweigen von den Lebenshaltungskosten, Armut, von der ein Viertel der Bevölkerung betroffen ist, und um die endemische Korruption anzugehen. Die Bewegung lehnt nicht nur die fünfte Amtszeit von Bouteflika ab, der seit 2013 nicht mehr in der Öffentlichkeit erscheint, sondern verwendet auch den Slogan «Sturz des Regimes».

Mit anderen Worten, die Ausbreitung der Volksbewegungen hat den Übergang vom Ökonomischen zum Politischen (vom Brotpreis zum Sturz des Regimes im Sudan) und vom Politischen zum Ökonomischen (von der Ablehnung des fünften Mandats zu den sozialen Forderungen in Algerien) ermöglicht. Die Erweiterung und Vertiefung der Volksbewegungen bedeutet einen offenen Krieg an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Front: Das ist es, was die diktatorischen Kräfte am meisten erschreckt. Eine der Hauptstossrichtungen der beiden Aufstände ist die radikale Verschmelzung dieser verschiedenen Fronten, eine unabdingbare Voraussetzung für den Sturz des gesamten Regimes.

Dritte Botschaft: Sich den Manövern der Machthaber entgegenstellen

Die Aufstände im Sudan und in Algerien wachsen angesichts der Kombination von direkter Unterdrückung, Erpressung, Verleumdung und falschen Kompromissen. Seit Beginn der Bewegung hat al-Bashir hartnäckig «fremde Kräfte» beschuldigt, den Protest anzuheizen, und die Demonstranten aufgefordert, sich nicht solche Aktionen hineinziehen zu lassen; er hat die wirtschaftliche Belagerung des sudanesischen Volkes zur Erpressung der Revolutionäre weiter verschärft. Al-Bashir bot irreführende Kompromisse an (wie seine Forderung an das Parlament, eine Verfassungsreform abzuschaffen), verhängte aber am 22. Februar den Ausnahmezustand. Aber die Antwort liess nicht lange auf sich warten: es kam zu mehr als 80 Demonstrationen in derselben Nacht in verschiedenen Städten des Landes. Täglich finden im ganzen Land Demonstrationen und Streiks statt. Der sudanesische Aufstand hat die Terrorketten zerschlagen, die das Regime in den letzten dreißig Jahren geschmiedet hat.

Das algerische Regime versucht ebenfalls, die Bewegung auszumanövrieren, wie Bouteflikas Versprechen, in einem Jahr Präsidentschaftswahlen abzuhalten, für die er nicht antreten würde, begleitet von einer Vielzahl von Verfassungsreformen, ein Schritt, der uns an Mubaraks Versuch in Ägypten erinnert, ein paar Tage bevor er 2011 endlich das Handtuch warf. (Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel wurde geschrieben, bevor der Stabschef der algerischen Armee um die Entlassung von Bouteflika bat.)

Die algerische Intifada exorzierte das Gespenst der «schwarzen Jahre» (1992-2002), in deren Namen das Regime seit Jahren die Stabilität erzwingt und die Rückkehr von Katastrophen im Falle einer Zunahme der Opposition gegen das Regime versprach. In diesem Jahrzehnt führte die Regierung einen schmutzigen Krieg gegen die loyalen Fraktionen der Islamischen Heilsfront, nachdem die Armee die Parlamentswahlen von 1991 abgesagt hatte, die zu einem unbestreitbaren Sieg der FIS führten.

Beide Aufstände haben den Punkt erreicht, an dem die Narretei durch die falschen Versprechungen des Regimes und das Einlenken in seine Erpressung die Tür zu einer Kampagne der politischen Unterdrückung und der gnadenlosen Rache des Regimes an allen seinen Gegnern öffnen wird.

Vierte Botschaft: Langfristiger Aufbau

Die großen Volksaufstände entstehen nicht in einem Vakuum, sondern sind der Höhepunkt vieler Jahre heftiger Kämpfe gegen die an der Macht befindlichen Regimes. Im Sudan hatte sich das Volk nie vor al-Bashir gebeugt. Zehntausende rebellierten im September 2013 gegen die wirtschaftlichen Maßnahmen des Regimes, in vielen Städten kam es zu starken Mobilisierungen angesichts der grauenvollen Unterdrückung, bei der fast 200 Menschen starben. Demonstrationen und Streiks haben sich in den letzten Jahren trotz zunehmender Schwierigkeiten fortgesetzt, bevor sie im aktuellen Aufstand explodierten.

Algerien kann auch auf eine Tradition von Arbeiterstreiks verweisen, die seit Jahren allmählich eskaliert waren und 2018 zu Massenaktionen von Zehntausenden von Lohnabhängigen im Gesundheits- und Bildungswesen führten.

Vielleicht hätten die Volksaufstände im Sudan und in Algerien nie ohne die Proteste begonnen, die in den vergangenen Jahren den Horizont getrübt haben. Dieser Prozess zeigt, dass Massenexplosionen nicht ohne eine Ansammlung von langfristigen Kämpfen auf verschiedenen Schlachtfeldern stattfinden können, die im Vergleich zu den immensen Aufgaben, vor denen wir stehen, minimal erscheinen mögen. Genau das brauchen wir heute in Ägypten.

Fünfte Botschaft: Die Rolle der Arbeiterklasse

Während sich die Demonstranten im Sudan und in Algerien heldenhaft behaupten, hat sich der aus acht Gewerkschaften bestehende «Verband der sudanesischen Fachleute» dem Aufstand angeschlossen, um Demonstrationen zu leiten und tägliche Streiks gegen al-Bashir zu organisieren (Berufe wie Ärzte, Anwälte, Journalisten usw. sind in den arabischen Ländern gemeinsam in «Berufsverbänden» organisiert und können eine wichtige politische Rolle spielen, wie dies in Ägypten und heute im Sudan der Fall war). In Algerien haben einige Gewerkschaftsorganisationen begonnen, das Regime herauszufordern, indem sie die fünfte Amtszeit von Bouteflika abgelehnt haben.

Es besteht kein Zweifel daran, dass große Mobilisierungen in beiden Ländern eine große Rolle spielen, aber die Regimes könnten solche Herausforderungen bewältigen und diese Mobilisierungen sogar im Blut ertränken. Die beiden Aufstände erfordern daher das Eingreifen großer Teile der Arbeiterklasse, um den Produktionsprozess (oder besser gesagt den Ausbeutungsprozess) durch unbefristete Massenstreiks zu stoppen, die erhebliche Breschen in die Festungen der Regimes schlagen würden. Der Widerstand der Demonstrationen und ihre Verstärkung mögen die harte Hand des Regimes herausfordern; er muss deshalb von einer Bewegung, die von der Arbeiterklasse an den Arbeitsplätzen organisiert wird, die entscheidende Unterstützung erhalten, um das Regime zu lähmen und in die Knie zu zwingen.

Quelle: global.revsoc…. vom 9. Mai 2019; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

 

Tags: , , , , , ,