Zum Wandel des Klassenkonfliktes in der Schweizer Chemieindustrie
Willi Eberle. Die international agierenden Konzerne sind nicht nur mobiler in ihren Strukturen. Es verändern sich auch die Belegschaften. Eine Standortbestimmung der gewerkschaftlichen Mobilisierung am Beispiel der Basler Chemie, einem herausragenden Beispiel des Regimes der flexiblen Akkumulation.
Die Gewerkschaften tun sich schwer mit internationaler Zusammenarbeit. Derweil kämpft man zu Hause mit einem sich rasch verändernden Umfeld. Die Gewerkschaften der Chemie- und Pharmaindustrie sind unter anderem mit einem markanten Wandel der ursprünglichen Arbeiterklasse konfrontiert. Diesem Wandel liegen veränderte ökonomische Strukturen zugrunde, welche die Arbeitsbedingungen nachhaltig verändern und die gewerkschaftliche Mobilisierung vor neue Herausforderungen stellen.
Nach dem langen Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit, einer andauernden Phase der Vollbeschäftigung und des Wachstums der Einkommen, kam es in den siebziger Jahren mit dem Absinken der Profitrate und der Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft zu einem Umbruch. Tiefgreifende Umstrukturierungen sind Merkmale dafür, dass sich seither ein neues Regime der Kapitalakkumulation herausbildet, umschrieben als «flexible Akkumulation», die die vom Fordismus geprägte Periode ablöst.
In den grossen Schweizer Chemie- und Pharmaunternehmen, insbesondere in der Basler Chemie, von der im Folgenden hauptsächlich die Rede sein wird, ist das Regime der flexiblen Akkumulation weit fortgeschritten. Dass sie auch zuvor, während des Wachstumspaktes des Fordismus, zu den Pionieren der Industrie zählten, machen einige Aspekte ihrer Entwicklung deutlich.
Im Gegensatz zu ihren europäischen Hauptkonkurrenten, namentlich in Deutschland, hatte sich die schweizerische chemische Industrie bereits in ihren Anfängen zu hoher Spezialisierung weg von der Basischemie und dem Erdöl entwickelt. Sie war seit ihrer Gründung stark exportorientiert und hat sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten und später auch in Japan, den beiden aussereuropäischen Polen kapitalistischer Entwicklung, produktiv verankert. Mit anderen Worten: Sie richtete ihre Strategie des Profit- und Unternehmenswachstums früh auf Internationalisierung sowie technologische und betriebswirtschaftliche Innovation aus.
So war es kein Zufall, dass die Basler Chemieunternehmen im ersten Gesamtarbeitsvertrag (GAV), der Ende des Zweiten Weltkrieges vom Schweizerischen Textil- und Fabrikarbeiterverband (STFV) für das Produktionspersonal erkämpft wurde, der Gewerkschaft nicht nur das Zugeständnis für einen korporatistischen Pakt machten. Im ersten GAV, der am 1. Januar 1945 in Kraft trat, gestand man im Sinne eines Wachstumspaktes auch den Belegschaften Verbesserungen zu (unter anderem mit einer Erhöhung der Löhne, Teuerungszulagen und Minimallohnbestimmungen). Anders als im Friedensabkommen der Schweizerischen Metall- und Maschinenindustrie vom Jahre 1937 setzte die Chemie nicht nur auf eine disziplinierende Rolle der Gewerkschaften. Der Schweizerische Textil- und Fabrikarbeiterverband, die spätere Gewerkschaft Textil Chemie Papier (GTCP), wurde als ernst zu nehmender Vertreter der Lohnabhängigen akzeptiert. Bemerkenswert ist, dass seine tragenden Kräfte damals vor allem in der kommunistischen PdA organisiert waren.
In den fünfziger Jahren war der grösste Teil der Beschäftigten der Basler Chemie in Berufen tätig, die dem Geltungsbereich des Gesamtarbeitsvertrages unterstanden. Zeichnet man ein Bild von den damaligen Verhältnissen, so war der Produktionsprozess noch nicht so weit automatisiert wie heute, die Unterhaltswerkstätten mit ihren handwerklichen Berufsleuten wurden noch innerbetrieblich geführt, der Bereich der betrieblichen Organisation war noch nicht so komplex. Für Vertrieb und Marketing wurde ein kleinerer Aufwand betrieben, auch waren die Forschung und die Entwicklung neuer Wirksubstanzen aus verschiedenen Gründen bei weitem nicht so aufwendig und kostspielig wie heute. Der Anteil der so genannten Angestellten in der Chemie- und Pharmaindustrie war somit noch viel kleiner als derjenige der eigentlichen Arbeiten und Arbeiterinnen in der Produktion.
Der Wandel der Belegschaften
Aufgrund des massgebenden Gewichts der Beschäftigten in Produktion und handwerklichem Bereich waren die betrieblichen Arbeiterkommissionen und die Gewerkschaften ernst zu nehmende Faktoren in den Konflikten zwischen Kapital und Arbeit. Die Gewerkschaften (der STFV sowie vier kleinere) hatten ihre klare Rolle in der Durchsetzung materieller Fortschritte im Gesamtarbeitsvertrag, der mehr oder weniger öffentlich verhandelt wurde. Solche Fortschritte wurden aufgrund des anhaltenden Wachstums von Umsätzen und Gewinnen lange Zeit von den Basler Unternehmen mehr oder weniger problemlos zugestanden. Fest stand, dass Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen letztlich eine Frage des Kräfteverhältnisses waren. Kaum je spielten Argumente über den Geschäftsverlauf eine ernst zu nehmende Rolle, wie dies mittlerweile seit längerem der Fall ist.
Mit dem raschen Wachstum der Basler Chemieunternehmen wuchs auch die Beschäftigung, vor allem in der betrieblichen Organisation und im Laborbereich. Es entstanden in den Betrieben interne Standesvereine der Angestellten, etwa der Akademikerverein, und die sogenannten Hausverbände.
Ihre Funktion war mehr oder weniger beschränkt auf die Wahrnehmung berufsständischer Interessen und auf die Pflege der Kultur der Firmenzugehörigkeit; ausserdem traten sie als «Rabattvereine» für allerlei Vergünstigungen auf. In ihrem Verständnis sahen sie sich näher bei den Interessen der Firmenleitungen als die Gewerkschaften, und sie waren (und sind es weiterhin) vor allem in den bürgerlichen Parteien verankert. Als selbständige Verhandlungspartner gegenüber den Firmen traten sie kaum auf, zumindest nicht in wichtigen Fragen wie Lohn und Arbeitszeit. Bis in die neunziger Jahre übernahmen die Angestellten ganz einfach die Errungenschaften, welche die Gewerkschaften im GAV durchgesetzt hatten. Und deren waren nicht wenige! Der GAV in der Basler Chemieindustrie entwickelte sich bis in die achtziger Jahre hinein zu dem Gesamtarbeitsvertrag mit den besten Bedingungen in der Schweizer Industrie.
Tiefgehende Umstrukturierungen der Konzerne beschleunigten den Wandel in der Zusammensetzung der Belegschaften. Der Überbau – die betriebliche Organisation, Dienste, Forschung und Entwicklung – wuchs stetig, während der Anteil der in der Produktion Beschäftigten an den Belegschaften ab den neunziger Jahren massiv sank. So arbeiten beispielsweise heute in der Syngenta in Basel mehr AkademikerInnen als ArbeiterInnen. [Ende 2015 gibt es dort nur noch wenige Dutzend Arbeiter und Arbeiterinnen und um die zwei Tausend Angestellte; Anm. Redaktion maulwuerfe.ch]
Der Umbau der Betriebe mit dem Ziel, die Arbeitskosten konsequent zu senken, brachte eine wachsende Arbeitsintensität, eine forcierte Flexibilisierung vorab der Löhne (in einem in der Schweiz einzigartigen Ausmass), eine auf Leistung getrimmte Individualisierung und zunehmend unsichere Arbeitsplätze. Der Überbau geriet mehr und mehr ins Zentrum der von den Firmen angestrebten Restrukturierungen und wurde andauernd umgebaut.
Der enorme Druck und die wachsende Unsicherheit unter den Angestellten zwang die Hausverbände zu mehr Profil in wichtigen Fragen der Arbeits- und Anstellungsbedingungen, wollten sie ihre Legitimität nicht verlieren. Auf der anderen Seite lag es im Interesse der Unternehmen, die Hausverbände als «glaubwürdige Partner» einzubinden, um den Umbau besser abstützen zu können. Zu diesem Zwecke wurden zu Beginn der neunziger Jahre in den meisten Firmen betriebsinterne Personalvertretungen eingerichtet, in welchen die VertreterInnen der Angestelltenorganisationen wie auch jene des GAV-Personals anstelle der vormaligen Arbeiterkommissionen Einsitz haben. Diese Personalvertretungen haben ein umso grösseres Gewicht, als im Zuge eines ersten Versuches, die Gewerkschaften zurückzudrängen, die Lohnfrage nunmehr nicht mehr Bestandteil des Gesamtarbeitsvertrages ist. Es sind die Personalvertretungen, welche über die Weiterentwicklung des Lohnsystems und die allfälligen Lohnerhöhungen verhandeln.
Damit wachsen die Angestelltenorganisationen mit einer Verantwortung gegenüber der Basis in eine neue Rolle hinein. Entsprechend treten sie im betrieblichen Alltag kaum mehr als offene Gegner der Gewerkschaften auf. Und sie mussten sich auch von wichtigen Positionen distanzieren, die sie einst vehement verfochten hatten: die Individualisierung und Flexibilisierung der Lohnsysteme, die Unterstützung für Rationalisierungsmassnahmen und das Outsourcing von Betrieben und Betriebsteilen.
Gewerkschaften herausgefordert
Der neoliberale Umbau der Basler Konzerne mit seinen tief greifenden Veränderungen auch beim Personal bietet ein anschauliches Beispiel für die Strategie flexibler Akkumulation in einem Industriebetrieb. In der Basler Chemie sind die Gewerkschaften insbesondere mit drei Problemkreisen konfrontiert:
- Erstens: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad und die Breitenwirkung des GAV haben einen historischen Tiefstand seit 1945 erreicht. Es sind grosse Anstrengungen in der Werbung neuer Mitglieder notwendig, und dies in erster Linie bei den Angestellten. Seit mindestens zehn Jahren steht für nahezu alle Gewerkschaften das Ziel, die Angestellten zu organisieren, zuoberst auf der Prioritätenliste – mit mässigem Erfolg. Die Angestellten machen eigentlich das aus, was man heute als «professionelle Mittelschichten» bezeichnet: gut ausgebildete, individualistisch geprägte, aufstiegsorientierte Angestellte, welche gemeinhin wenig Zugang zu gewerkschaftlichem Denken haben. In der Basler Chemie begannen Organisationsbestrebungen vor allem von VertreterInnen der neuen Linken innerhalb der GTCP bereits Ende der siebziger Jahre. Diese hatten einen gewissen Erfolg, wurden aber von den damaligen Arbeiterkommissionen mit unzimperlichen Methoden abgewürgt. Das war in einer Zeit, in der die GTCP in den Betrieben wie in der Öffentlichkeit eine unbestrittene Stellung hatte: Sie war die Gewerkschaft für die Chemie; die Hausverbände spielten kaum eine Rolle. Heute sind diese Voraussetzungen nicht mehr gegeben. Die Angestelltenverbände entwickeln ein, wenn auch schwaches, politisches Profil. Und es scheint, dass sie sich auf eine engere Zusammenarbeit (oder gar Fusion) mit der christlichen Syna einlassen, um sich rechts von der GBI zu entwickeln. Ob ein solches Projekt gelingen kann, ist mehr als unsicher. Die Syna ist weit weniger als die GBI in den Betrieben verankert, die Angestelltenorganisationen sind ebenfalls mit einer rückläufigen Mitgliederentwicklung konfrontiert und, vor allem: Die Firmenleitungen dürften wenig Interesse an einer solchen Entwicklung haben und angesichts ihrer bis anhin wenig bestrittenen Machtposition bei den Angestellten solche Bestrebungen möglichst zu verhindern suchen.
- Zweitens ist es den Chemie- und Pharmakonzernen gelungen, Firmenteile abzustossen, die eher die Verlierersegmente der Lohnabhängigen repräsentieren: Personalrestaurants, Werkstätten, Infrastruktur-Bereiche, auch Teile der chemischen Industrie, die – technologisch weniger spezialisiert – noch stark mit fordistischer Massenproduktion verknüpft sind (wie Farben und Kunststoffe). Damit sind die verbliebenen Beschäftigten, die so genannten Kernbelegschaften, in mancherlei Hinsicht gegenüber solchen Verliererschichten privilegiert; wenn auch zum Preis einer hohen Identifikation mit ihren Firmen und einem ungeheuren Arbeitsdruck, dem Abbau vieler Vergünstigungen und der Angst um den Verlust des einst in Basel privilegierten «sicheren Arbeitsplatzes in der Chemie». Zudem sind die Belegschaften mittlerweile stark internationalisiert, und sie werden im Zuge der Restrukturierungen laufend neu zusammengesetzt. All dies macht den Aufbau neuer gewerkschaftlicher Strukturen schwierig. Allerdings scheint die Zitrone gegenwärtig ausgepresst. Sollte die gesamtgesellschaftliche Situation kippen und es zu einem Aufbruch mit sozialen Konflikten in grösserem Ausmass kommen, könnte die wachsende Verstimmung unter diesen neuen Mittelschichten einen Wandel ihrer Haltung gegenüber Macht und Willkür des Managements herbeiführen.
- Drittens gibt es bis anhin – sieht man von den Ansätzen in der GBI einmal ab – kaum eine wirksame koordinierte Interessenvertretung der Beschäftigten über mehrere Firmen hinweg, insbesondere nicht innerhalb der international operierenden Chemiekonzerne. Dafür notwendige gewerkschaftliche Strukturen sind entweder kaum nutzbar oder aber sie fehlen schlichtweg. Zwar können die Europäischen Betriebsräte nützliche Kontakte unter AktivistInnen bringen und gelegentlich sogar für eine europaweite Koordination von Aktivitäten genutzt werden. So koordinierte die GBI im November 2000 eine europaweite Protestaktion, als mit der Fusion der Agrobereiche der Konzerne Novartis und Zeneca zum grössten Agrokonzern Syngenta die Streichung von 3000 Stellen angekündigt wurde.
Meines Erachtens sind die Interventionsmöglichkeiten zur Mobilisierung der Belegschaften über die europäischen Betriebsräte aber sehr beschränkt. Zum einen sind diese Gremien immer wieder starker Instrumentalisierung durch die Firmen ausgesetzt. Hinzu kommt, dass einige Chemiegewerkschaften – allen voran Deutschlands IG BCE – einen ausgeprägt sozialliberalen Kurs verfolgen. In Konzernen, wo auf Gewerkschaftsseite dieser Kurs überwiegt, sind die Euro-Betriebsräte kaum eine Plattform, die sinnvoll genutzt werden kann.
Der Europäische Chemiekreis
Es entstehen daher andere Netze, welche firmenübergreifende Zusammenarbeit entwickeln und oft nicht auf Europa beschränkt sind. Solche Netze suchen auch den Anschluss an Themen, die gerade im Umfeld der modernen Chemie- und Pharmaindustrie eine wesentliche Rolle spielen und die in der Antiglobalisierungsbewegung immer wieder auftauchen: die Problematik der Biotechnologie, die Privatisierung im Gesundheitsbereich, der Zusammenhang zwischen den Interessen der Erdölindustrie und den modernen imperialistischen Kriegen, die zunehmende Gewalt gegenüber GewerkschafterInnen etwa in Lateinamerika und einigen asiatischen Ländern. Es sind dies Bereiche, aus der sich die politische Linke und die Gewerkschaften in Europa oft genug heraushalten oder gar problematische Positionen einnehmen.
Ein Beispiel für ein solches Netz, in welchem ich selbst mitarbeite, ist der «Europäische Chemiekreis». Dieser wurde Ende der siebziger Jahre im Ruhrgebiet von GewerkschafterInnen gegründet, welche als Linke in einer internen Auseinandersetzung mit den wachsenden sozialliberalen Kräften teilweise sogar aus der Chemiegewerkschaft ausgeschlossen worden waren. Der sozialliberale Kurs war sozusagen der gewerkschaftliche «Beitrag» der damaligen IG Chemie (heute: IG BCE) zum Deutschen Herbst und zur grossen Wende.
Der Europäische Chemiekreis trifft sich etwa einmal im Jahr an drei oder vier Tagen zu einem Schwerpunktthema und zum Erfahrungsaustausch und beteiligt sich auch an den Foren der Antiglobalisierungsbewegung. So wichtig die Anstrengungen und gelegentlichen Erfolge des Chemiekreises auch sind, er ist eine äusserst zarte Pflanze, die ausschliesslich vom Zusatzengagement einiger Kolleginnen und Kollegen lebt, die weiter gehen wollen, als die offiziellen Strukturen es zulassen.
Anmerkung Redaktion maulwuerfe.ch 18. Dezember 2015: Dieser Europäische Chemiekreis funktioniert seit mehreren Jahren nicht mehr. Währenddessen ist Syngenta in der deutschen Schweiz zu einer Gewerkschaftswüste geworden.
Quelle: WoZ-economique 17.Oktober 2002
Tags: Arbeiterbewegung, Gewerkschaften, Imperialismus, Widerstand
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