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Schweiz: Nach dem 14. Juni: Eine erste Bilanz

Eingereicht on 21. Juni 2019 – 10:29

Dersu Heri. Der Schweizer Frauenstreik vom 14. Juni nahm in vielen Städten einen wahren Massencharakter an. Wie kam es dazu? Und welche Schlussfolgerungen

können wir aus der grössten Mobilisierung seit Jahrzehnten ziehen?

Über 500’000 Menschen
gingen am vergangenen Freitag überall im Land auf die Strasse. Diese gewaltige
Masse übersteigt somit jene der grossen Mobilisierungen gegen den Krieg im Irak
2003 und auch jene vom historischen Frauenstreik vom 14. Juni 1991. In vielen
Städten waren es die grössten Demonstrationen der letzten 50 Jahre. Der
Enthusiasmus und die Kampfbereitschaft waren überall deutlich zu spüren.

Aktuell ist eine
regelrechte Politisierungswelle im Gange, zumindest in der Jugend. Der
Klimastreik zog im Frühling mehrmals Zehntausende auf die Strasse, was für die
Schweiz eine ausserordentliche Mobilisierung darstellt. Dies bestätigt die Perspektive
der MarxistInnen der letzten Jahre. Wie zuletzt ausführlich in unserem Perspektiven-Dokument beschrieben,
dürfen wir uns nicht von der oberflächlichen Ruhe täuschen lassen. Auch in der
scheinbar stabilen Schweiz staut sich der Unmut über die bestehenden
Verhältnisse an. Dieser Unmut konnte noch keinen Ausdruck finden – bis vor
Kurzem.

In den letzten Jahren
haben wir ein weltweites Aufkeimen der Kämpfe gegen Frauenunterdrückung und
zuletzt auch fürs Klima gesehen. Die Bewegungen in der Schweiz sind also weder
zufällig noch eine Schweizer Eigenheit. Sie sind Teil einer internationalen
Entwicklung, deren Fundament die organische Krise des Kapitalismus bildet. Und
diese Krise trifft die Frauen überall besonders stark. Das kapitalistische
System entblösst immer mehr seine Unfähigkeit, den Jungen und ArbeiterInnen ein
gutes Leben ohne Unterdrückung zu ermöglichen.

Frauen in der reaktionären
Schweiz

Gründe zu streiken
gibt es für die Frauen in Schweiz unzählige. Das beginnt mit der grossen
Doppelbelastung. Mütter mit Kleinkindern leisten bis zu 46 Stunden unbezahlte
Hausarbeit pro Woche. In nur 5% der Haushalte übernimmt überwiegend der Mann
die Hausarbeit. Zusätzlich gehen 80% der Frauen einer Lohnarbeit nach.

Diese heftige
Doppelbelastung wird durch eine echte Schweizer Eigenheit möglich gemacht:
Die Teilzeitarbeit.
60% der Frauen arbeiten Teilzeit, was den weltweit zweithöchsten Anteil
bedeutet. Für diese „Möglichkeit“ sollen die Frauen aber ihrem Kapitalisten
gefälligst dankbar sein und miese Arbeitsbedingungen akzeptieren!

Die Position der Frau
in der Familie und der Gesellschaft wird durch die hohe
Lohnungleichheit
 von fast 20% zementiert. Dadurch ist es klar, dass
Familien sich tendenziell eher dazu entscheiden, der Frau die Haus- und
schliesslich auch die Teilzeitarbeit aufzuhalsen. So kommen die Teilzeit-Frauen
durchschnittlich für nur 24% der Familieneinkommen auf. Damit sind die Frauen
materiell von den Männern abhängig. Diese Abhängigkeit stellt ein wichtiges
Element der Frauenunterdrückung in allen ihren hässlichen Facetten dar.

Die
Frauenunterdrückung drängt in alle sozialen Bereiche ein. Am Arbeitsplatz sind
31% der Frauen in der Schweiz mindestens einmal belästigt worden. 63% der
Frauen geben an, in den vergangenen 12 Monaten in der Öffentlichkeit belästigt
worden zu sein. Bezüglich der häuslichen
Gewalt
 an Frauen wurde zwischen 2012 und 2016 gar eine Zunahme von 12%
verzeichnet.

Die tiefgründige
Frauenunterdrückung in der Schweiz fällt nicht vom Himmel. Sie ist das Resultat
– und gleichzeitig ein Stabilisator – des erzreaktionären Schweizer
Kapitalismus. Das Frauenstimmrecht wurde erst 1971 eingeführt. Vergewaltigung
in der Ehe galt bis 1992 juristisch gar nicht als Vergewaltigung und erst seit
2004 ist sie (wie auch Vergewaltigung ausserhalb der Ehe) ein Offizialdelikt,
das von den Behörden auch ohne Anzeige verfolgt werden muss.

Ein weiterer
entscheidender Faktor ist der schlecht ausgebaute Sozialstaat in der Schweiz.
Die Schweiz ist das zweitletzt platzierte Land in West- und Nordeuropa
betreffend finanzielle Unterstützung für Familien. Auch die Betreuung der Alten
und Menschen mit Behinderung (ebenfalls mehrheitlich von Frauen erledigt) wird
in der Schweiz speziell stark in die Verantwortung der Privathaushalte gelegt:
Während in den OECD-Ländern durchschnittlich 85% der Langzeitpflege staatlich
finanziert oder subventioniert wird, liegt dieser Anteil in der Schweiz bei
unter 40%. Das Kinderkrippen-Angebot deckt nur 11% der Kinder in der Schweiz
ab. Und schliesslich kommt noch die völlige Abwesenheit eines gesetzlichen
Vaterschaftsurlaubs dazu, wobei schon der gesetzliche Mutterschaftsurlaub von
14 Wochen unglaublich kurz ist.

Dies zeigt deutlich
auf, dass der Kapitalismus den Frauen (und Männern) immer weniger zu bieten
hat. Immer mehr Menschen werden sich dessen bewusst und sind bereit, dagegen
anzukämpfen. Dies muss für alle linken Organisationen eine der wichtigsten
Erkenntnisse aus der riesigen Mobilisierung vom 14. Juni sein.

Doch die grossen
Parteien und insbesondere die Gewerkschaften hinken diesen Entwicklungen im
Bewusstsein der Lohnabhängigen und Jungen stark hinterher. Seit jeher sind sie
bei den Frauen schlecht verankert. Dies drückt sich in den sehr tiefen Zahlen
von Gewerkschaftsmitgliedern in „typischen Frauenberufen“ aus: Unterrichtswesen
und Erziehung 6%, Gesundheitswesen 3%, Reinigung 6%. Der tiefe
Organisationsgrad bedeutet, dass die Frauen kaum organisierte Kämpfe führen
konnten. Somit tragen die Gewerkschaften eine Hauptverantwortung für die
schlechten Lebensbedingungen der Frauen in der Schweiz.

Symbolpolitik

Am Ursprung des
Frauenstreiks stehen auch nicht die grossen Organisationen, sondern vereinzelte
(teilweise führende) Gewerkschafterinnen und feministische Aktivistinnen. Die
Idee wurde nach dem gigantischen 8. März 2018 in Spanien – wo 6 Millionen
Menschen die Strassen stürmten – lanciert. Als Datum für den Schweizer
Frauenstreik wurde der 14. Juni gewählt – der Tag des historischen
Frauenstreiks von 1991.

Auch damals haben
eine halbe Million Menschen teilgenommen. Im Zentrum stand der „Gleichstellungsartikel“.
Dieser war bereits 1981 in die Verfassung aufgenommen worden, wo er jedoch ein
leeres Versprechen geblieben war. Der Frauenstreik von 1991 war – wie jener
heute – eine Massendemonstration gegen die rückständigen Verhältnisse in der Schweiz.
Doch die damalige Frauenstreik-Bewegung wurde schnell ersetzt durch eine
„Symbolpolitik“, wie wir an anderer
Stelle ausführlich analysiert haben
. Das heisst, dass Frauen in Regierung
und Parlamente gewählt werden und dort die Mobilisierungen auf der Strasse
ersetzen sollten. Die Tatsache, dass sich in den vergangenen 28 Jahren die
Situation der Frauen in der Schweiz eigentlich nicht verbessert hat, ist
ausreichend, um das Scheitern dieser Politik aufzuzeigen.

Doch diese wichtige
Lehre wurde nicht gezogen. Auch heute gehört es zur bewussten Strategie der
Gewerkschaften, ihre fehlende Verankerung durch symbolische Aktionen und
Kampagnen zu kompensieren. Dazu zählt bis zu einem gewissen Grad auch das
Projekt des Frauenstreiks. Die Gewerkschaften glaubten, mit der Ausrufung des
Streiks eine Abkürzung gefunden zu haben, welche ihnen die langfristige,
mühselige, aber schlicht notwendige Aufbauarbeit in den Frauensektoren erspart.

Der riesige
Enthusiasmus am vergangenen Freitag zeigt deutlich, welche enorme Kraft das
Thema der Frauenunterdrückung lostreten kann. Wir kritisieren aber, dass die
Vorbereitung dieses Kampftags nicht dazu genutzt wurde, eine längerfristige
gewerkschaftliche Verankerung
 aufzubauen. Schliesslich wurde der 14.
Juni als ein einziger isolierter Aktionstag organisiert.

Die Rolle der
OrganisatorInnen

Am 14. Juni 2019
haben die Massen in der Schweiz gezeigt, dass sie bereit sind, für bessere
Lebensbedingungen zu kämpfen. Dennoch war es für die allermeisten
Lohnabhängigen in der Schweiz an diesem Tag unmöglich, an ihrem Arbeitsplatz zu
kämpfen. Isoliert konnten sie ihrem Patron nicht die wirklichen
Kräfteverhältnisse im Betrieb aufzeigen. Hunderttausende kampfbereite
ArbeiterInnen konnten „nur“ an den gewaltigen Massendemonstrationen teilnehmen.
Dies ist die Schuld der Gewerkschaften.

Denn die
Gewerkschaften hatten erst gar nie versucht, aus dem 14. Juni einen Streiktag
zu machen. Von Anfang an haben sie ausschliesslich für
einen Aktionstag mobilisiert
. Das heisst für die Demo am Ende des Tages
sowie symbolischen Kleinaktionen wie eine zweite Kaffee-Pause um 11h. Dieses
passive Verhalten erklärten die Gewerkschaften mit zwei Ausreden.

Einerseits seien,
gemäss den Gewerkschaften und den OrganisatorInnen des Frauenstreiks, die Leute
in der Schweiz „nicht bereit für einen Streik“, wobei die fehlende
Streiktradition in der Schweiz eine wichtige Rolle spiele. Dabei verschliessen
sie schlicht die Augen vor der Tatsache, dass es eben genau ihre Aufgabe
wäre, eine Streiktradition aufzubauen und so die Lohnabhängigen für einen
Streik bereit zu machen.

Die Massen am 14.
Juni haben klar zu verstehen gegeben, dass sie kämpfen wollen. Wenn endlich
jemand zum Kampf aufruft, dann ist die Energie riesig. Zu sagen, die
ArbeiterInnen seien nicht bereit ist eine massive Unterschätzung. Der Mangel an
Vertrauen in die Kraft der Arbeiterklasse ist eine entscheidende Eigenschaft
der ReformistInnen.

Die zweite Ausrede
für die Abwesenheit von Streikmobilisierungen am Arbeitsplatz ist eine
verheerende Verwirrung bezüglich des Streiks als Kampfmittel. Gemäss den
feministischen OrganisatorInnen muss
der „Streikbegriff ausgedehnt“
 werden, da Frauenunterdrückung nicht
nur am Arbeitsplatz stattfinde. Der „Streik ist vielfältig“, war ihre Parole.
Das bedeutet, dass überall gestreikt und alles und jeder bestreikt werden
könne. Insbesondere sei ein Hausarbeitsstreik genauso effektiv für die
Frauenbefreiung wie jeder andere Streik. Das Ziel sei die „Sichtbarmachung“ der
prekären Verhältnisse der Frauen. Deshalb galten den Organisatorinnen auch alle
Aktionen als Streik, die ein “Zeichen setzen”.

Streik als
effektivstes Kampfmittel der Arbeiterklasse

Wir müssen diese
Politik als das bezeichnen, was sie ist: Reformismus, das heisst ein aktives
Hemmnis für die Weiterentwicklung der Kämpfe. Mit dem Fokus auf die
„Sichtbarmachung“ wird davon ausgegangen, dass wir einfach nur aufzeigen
müssen, wie prekär die Situation der Frauen ist. Wurde dies endlich einmal
getan, dann wird sich diese Situation auch ändern. Wer die aktive Kraft sein
soll, welche die Gesellschaft verändert, wird dabei ignoriert. Schlussendlich
wird die Veränderung an eine andere Instanz abgegeben, in der Realität an den
bürgerlichen Staat. Und somit an genau jene Regierungen und Parlamente, welche
seit Jahrzehnten nur Verschlechterungen und Sparmassnahmen verabschieden.
Anders gesagt: „Sichtbarmachung“ ist eine Ausrede!

Wir MarxistInnen
verteidigen den Grundsatz, dass sich die ArbeiterInnenklasse nur selbst
befreien kann. Das gilt genauso für die Frauenunterdrückung. In diesem
unmenschlichen System wird die tägliche Situation der Frauen immer quälender.
Ihre eigene Situation ist für sie nicht nur “sichtbar”, sondern sogar physisch
unerträglich. Doch an dieser Situation wird sich solange nichts ändern, bis sie
selber, gemeinsam, den Kampf gegen diese Bedingungen aufnehmen.

Schlussendlich stellt
sich gerade im Frauenstreik die Frage, welche
politische Praxis
 das Leben der arbeitenden Frauen wirklich
verbessert. Begnügen wir uns mit Symbolpolitik und der Instrumentalisierung der
Bewegung durch reformistische PolitikerInnen, welche am Schluss irgendeinen
heuchlerischen Kompromiss im Parlament als grossen Sieg der Bewegung verkaufen?
Oder schauen wir der Realität ins Auge und akzeptieren, dass in der aktuellen
Periode nur harte, reale Kämpfe echte Verbesserungen bringen werden?

Es ist eine Tatsache,
dass der Arbeitsplatz der effektivste Ort ist, an welchem sich die Frauen gegen
ihre Unterdrückung und gegen den Kapitalismus organisieren können. Fast 80% der
Frauen in der Schweiz gehen einer Lohnarbeit nach. Dies bedeutet, dass die
Frauen in den Betrieben konzentriert sind, was ihre Organisierung stark
vereinfacht. Die Organisierung der Frauen in den Haushalten – also ein
„Hausarbeitsstreik“ – ist hingegen deutlich schwieriger und ineffizienter. Denn
dort stehen wir 3.7 Millionen Haushalten gegenüber, welche vereinzelte und
isolierte Einheiten darstellen. Und vor allem greifen wir mit der Organisierung
am Arbeitsplatz direkt die Kapitalisten an, die
gleich mehrfach von der Frauenunterdrückung profitieren
.

Violet-Washing

Es bestand somit ein
glasklarer Widerspruch zwischen jener Politik, die objektiv nötig wäre, um die
Frauenunterdrückung zu bekämpfen – und der Art und Weise wie der 14. Juni
tatsächlich organisiert wurde. Daraus erklärt sich auch die teilweise
widersprüchliche Reaktion der Schweizer Bourgeoisie auf den Frauenstreik. Die
bewusstesten Schichten der herrschenden Klasse sind seit jeher stolz darauf,
dass es in der Schweiz kaum Streiks gibt und wollten diese „Errungenschaft“
auch im Frauenstreik verteidigen. Magdalena Martullo-Blocher –
SVP-Nationalrätin, Milliardärin und Tochter vom Schweizer Chef-Bourgeois
Christoph Blocher – drohte ihren tausenden Angestellten mit der Kündigung,
sollten sie am 14. Juni tatsächlich streiken. Ähnlich tönte es bei anderen
Unternehmen, beispielsweise der Fluggesellschaft Swiss.

Doch die meisten
Patrons und bürgerlichen Politiker gingen weniger auf Konfrontationskurs. Sie
waren sich bewusst, dass eigentlich keine Gefahr bestand, dass tatsächlich am
Arbeitsplatz gestreikt würde. Sie boten den vereinzelten streikwilligen Frauen
öffentlich an, Ferien zu nehmen oder die Arbeitszeiten flexibel auslegen „zu
dürfen“. Damit versuchten sie, sich als „progressive Arbeitgeber“ zu
präsentieren. Dennoch verwiesen sie eigentlich allesamt vehement auf die
Einhaltung des faktischen Streikverbots in der Schweiz. Bei den bürgerlichen
Medien war der Tenor ähnlich.

In verschiedenen
Artikeln und Präsentationen haben wir uns deutlich gegen diese und ähnliche
Formen des „bürgerlichen Feminismus“ gestellt. Doch wir müssen auch klar sagen,
dass dieses vermeintlich wohlwollende Verhalten der Bosse nur möglich war, weil
sie gar nicht wirklich herausgefordert wurden. Da keine Organisierung am
Arbeitsplatz auf einer festen Klassenbasis stattfand, waren die Schweizer
Kapitalisten nie von einem tatsächlichen Streik bedroht und mussten somit ihr
hässliches reaktionäres Gesicht kaum entblössen. So konnten die weltgrössten
Kapitalisten wie die Credit Suisse behaupten, “In Unterstützung des Spirits des
Frauenstreiks” allen Angestellten die Teilnahme ermöglichen zu wollen. Diese
verharmlosende Auslegung des Kampfes gegen die Frauenunterdrückung durch die
Bürgerlichen ist nur das Spiegelbild der harmlosen Methoden der führenden
Organisatorinnen des Frauenstreiks!

Doch der 14. Juni war
ebenfalls von grosser Perspektivlosigkeit geprägt. Dies ist eine direkte Folge
der Art und Weise, wie der Frauenstreik organisiert wurde, nämlich als
einzelner isolierter Aktionstag. Keine einzige Organisation – abgesehen von der
marxistischen Strömung der Funke – stellte am Tag selbst die
alles entscheidende Wie-Weiter-Frage. Die Massen haben ihre Ernsthaftigkeit im
Kampf gegen die Frauenunterdrückung unter Beweis gestellt. Dabei sind sich alle
völlig bewusst, dass Sexismus und prekäre Lebensverhältnisse nicht an einem
einzigen Tag überwunden werden können. Die arbeitenden Frauen und Männer in der
Schweiz suchen stürmisch nach Antworten!

Nochmals: Die massive
Teilnahme am 14. Juni hat aufgezeigt, dass die Gewerkschaften und
OrganisatorInnen deutlich dem Bewusstsein der Massen hinterherhinken. Die Forderungen
der Organisationskomitees und der Gewerkschaften waren in den Massendemos
gänzlich unsichtbar. Die Tatsache, dass sich die Massen beginnen, über die
Passivität der Organisatoren hinwegzusetzen, ist eine sehr positive
Entwicklung.

Magischer 14. Juni

Die fehlende
Verankerung der Gewerkschaften hat somit nicht verhindert, dass der 14. Juni
der grösste Kampftag in der Schweiz seit Jahrzehnten war. Zwar wurde
schweizweit eigentlich nicht gestreikt, dennoch kam es zu vereinzelten äusserst
kämpferischen Streikaktionen. Die Krippen in Genf und Zürich stehen dabei klar
an der Spitze. Die angestellten Frauen hatten sich jeweils am Arbeitsplatz
selber organisiert und gemeinsam entschieden, am 14. Juni effektiv zu streiken.
Durch den grossen Frauenanteil mussten die meisten Krippen an diesem Tag
(früher) schliessen, da die wenigen angestellten Männer den Betrieb nicht
alleine hätten stemmen können. Überall im Land, auch in Kleinstädten und
Dörfern, fanden verlängerte Pausen, Streikkaffees und Quartierpicknicks statt.

Doch die
Demonstrationen am Nachmittag übertrafen alles, was die allermeisten Anwesenden
in ihrem politischen Leben bisher erlebt hatten. Aus allen Himmelsrichtungen
strömten regelrechte Massen auf Versammlungsorte für die Demo. Ab 15.24 Uhr
legten zahlreiche Frauen (und Männer) tatsächlich die Arbeit nieder – am
symbolischen Zeitpunkt, ab welchem die Frauenlöhne diskriminiert werden.

An den Umzügen war
die Stimmung enorm solidarisch und berührend. Eine grosse Gruppe von Muslimas
in Genf, die sich in ihrer Gemeinschaft für die Demo organisiert hatten, war
besonders elektrisierend. Sie forderten: „Wir wollen gute Arbeit leisten, wir
wollen gute Löhne dafür bekommen, und haltet eure Fresse wegen unserer
Kopftücher!“ Auffällig war die grosse Anzahl an jungen SchülerInnen und
StudentInnen. Sie hassen den Sexismus, sie hassen das System, sie wollen es
jetzt bekämpfen. Die meisten hatten bereits an den Klimastreik-Demos
teilgenommen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hat eine ganze Generation an
Jugendlichen in der Schweiz echte Kampferfahrungen in verschiedenen Bewegungen!
Es wurde auch deutlich, dass in diesen Massen der kleinbürgerliche Feminismus
keinerlei Anklang findet. Männer wurden überall solidarisch aufgenommen, die
Notwendigkeit gemeinsam zu kämpfen war augenscheinlich.

Frauenstreik 2019 –
Wie weiter?

Ganz verschiedene
Schichten der Bevölkerung nahmen teil, was den Massencharakter unterstreicht.
Auf den ersten Blick bilden die riesige Liste der angeprangerten
Diskriminierungsformen und die zahlreichen Forderungen ein unscharfes Bild der
Probleme und Bedürfnisse der Frauen in der Schweiz. Zu erkennen sind jedoch
relativ klar die Konturen der Diskriminierungserfahrungen, welche
lohnabhängigen Frauen und Frauen in Ausbildung heute erfahren und wie die Frauenunterdrückung
tief in alle sozialen Bereiche eindringt. Dies zeigt klar auf: Der systemische
Charakter der Frauenunterdrückung ist keinesfalls eine rein theoretische Frage,
es ist die tägliche Lebensrealität von Millionen von Frauen in der Schweiz. Die
Lösung für alle diese unterschiedlichen Forderungen liegt in der Überwindung
des Kapitalismus. Und nur die Arbeiterklasse hat die Macht, das kapitalistische
System zu Fall zu bringen!

In der heutigen
Krisenperiode können auch kleine Reformen nur mit revolutionären Methoden
erkämpft werden. Dies bedeutet Streiks und Demos gegen die Kapitalistenklasse!
Das revolutionäre Programm ist insofern auch keine “Meinung” unter anderen,
sondern die konsequente Ausarbeitung der Forderungen der Frauenstreikbewegung.

[…] Wir verteidigten
den ganzen Tag hindurch unsere Forderung nach der Vergesellschaftung der
Hausarbeit: gratis Krippen für alle, öffentliche Wäschereien, Kantinen in den
Quartieren und Betrieben. Die Forderung spricht zahlreiche Probleme an, welche
die proletarischen Familien und insbesondere Frauen in der Schweiz täglich
erleben. Die Vergesellschaftung der Hausarbeit würde ganz offensichtlich ein
Meilenstein in der Emanzipation der Frau bedeuten. Doch sie ist im Kapitalismus
schlicht nicht möglich. Auch deshalb ist der revolutionäre Kampf eine
Notwendigkeit!

Der 14. Juni 2019
könnte ein Wendepunkt im Klassenkampf in der Schweiz darstellen.
Hunderttausende Lohnabhängige und Junge haben ihre ersten Kampferfahrungen
gemacht, was zweifellos einen grossen Einfluss auf ihr Bewusstsein haben wird.
Sie alle haben erkannt, dass die Frauenunterdrückung nicht individuell bekämpft
werden kann. Sie haben die Kraft der Massen und der Solidarität gespürt. Das
drängt sie nicht automatisch und auf einen Schlag zu revolutionären Schlussfolgerungen,
aber das wird bleibende Auswirkungen auf ihr Bewusstsein haben.

Die aktuelle
Politisierungswelle mit Klima- und Frauenstreik stellt einen Bruch mit dem
ansonsten sehr tiefen Kampfniveau in der Schweiz dar. Das bestätigt unsere
Perspektive, dass es auch in der scheinbar ruhigen Schweiz unter der Oberfläche
brodelt und sich die Jugend und die unterdrücktesten Schichten radikalisieren.
Dass dieser Unmut mit dem bestehenden System und den zahlreichen Formen der
Unterdrückung bisher noch keinen politischen Ausdruck gefunden haben, liegt nur
daran, dass die Massenorganisationen der Arbeiterklasse unfähig sind, dem
unterschwelligen Unmut einen Ausdruck zu geben.

Die
Massenmobilisierung vom 14. Juni beweist: Das Potenzial für marxistische Ideen
ist riesig. Wir müssen uns auf weitere Radikalisierungswellen vorbereiten, denn
der Kapitalismus in der Krise ist unfähig, die Lebensbedingungen der Menschen
nachhaltig zu verbessern. […].

Oder wie es eine
junge Genossin ausgedrückt hat: “Einmal kurz an den 14. Juni zurückdenken, dann
weisst du sofort, weshalb es sich lohnt, und weshalb es eine Notwendigkeit ist,
täglich für die Arbeiterklasse und die Revolution zu kämpfen!”

Quelle: derfunke.ch…
vom 21. Juni 201; zwei leichte Kürzungen durch Redaktion maulwuerfe.ch

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