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Kommunismus als Strategie. Eine überfällige Debatte

Eingereicht on 18. Juli 2019 – 15:18

Willi Eberle. Kommunismus als die befreiende, revolutionäre Überschreitung des Kapitalismus, der politischen und sozialen Herrschaft der Bourgeoisie, als Reich, wo « jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen»[1]: diese Perspektive verschwand im Verlaufe der vergangen vier Jahrzehnte weitgehend aus den theoretischen Debatten der sogenannten «revolutionären» Linken, und umso mehr einer breiteren, selbst einer kritischen, Öffentlichkeit. Und entsprechend die Strategie dahin. Diesem dringenden Problem widmet sich das gut 330seitige Buch Communisme et stratégie von Isabelle Garo, erschienen bei Éditions Amsterdam, Paris im April 2019.

Zitieren wir gleich die ganze Passage, wo der oben erwähnte Satz von Marx steht: «In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.» Dieses theoretische – und praktische – Programm entwickelte sich seit der Mitte der 1840er Jahre bei Karl Marx – und etwas früher bei Friederich Engels.

Und die innere Logik der Kämpfe der Arbeiterbewegung deuten in eine entsprechende Richtung. Dies wird und wurde in deren Inhalten und Methoden über die vergangenen 200 Jahre immer wieder sichtbar. Mehr Zeitautonomie, einen grösseren Anteil an ihrem Arbeitsprodukt, dem gesellschaftlichen Reichtum, mehr Kontrolle über den gesellschaftlichen Produktionsprozess, demokratische Beteiligung am (bürgerlichen) Staat – in revolutionären Perioden gar der Aufbau von Rätestrukturen parallel zum bürgerlichen Staat –, kämpferische Achsen um die Eigentumsfrage an den Produktionsmitteln und die demokratische Kontrolle über den gesellschaftlichen Reichtum, dies sind Kernstücke der Agenda der Arbeiterklasse im Klassenkonflikt. In diesem Sinne ist das Programm von Marx und Engels, und nach ihnen der Tradition des revolutionären Marxismus in einem gewissen Sinne wissenschaftlich: Denn mit den Instrumenten dieser theoretischen und praktischen Tradition müssten die Siege und Niederlagen der Arbeiterklasse erklärt und die Strategien von deren Kampfstrukturen entwickelt werden können.

Nun, soweit geht Isabelle Garo nicht. Im Gegenteil, sie distanziert sich sogar ausdrücklich (S. 330) von einer solchen Sichtweise. Aber sie ordnet ihre Argumente trotzdem in materialistisch-dialektischer Art in recht gute, verstreut angebrachte knappe Einschätzungen der jeweiligen geschichtlichen Perioden ein. Wie es sich für revolutionäre Ansätze gehört. Sie konzentriert ihr Argument hauptsächlich auf drei zeitgenössische populäre Autoren, die beispielhaft stehen für drei Achsen der «linken» antimarxistischen Theoriebildung, die auf jeweils einer zentralen Achse der Strategiediskussion eine Alternative zum marxistischen Ansatz entwickeln möchten: Alain Badiou zu Staat und Politik, Ernesto Laclau zu Klasse und Hegemonie, Antonio Negri und Michael Hardt zur Eigentumsfrage und Arbeitsteilung.

Alain Badiou, Ernesto Laclau (& Chantal Mouffe), Antonio Negri (& Michael Hardt)

Diese drei Autoren sind Repräsentanten einer breiten philosophischen Entwicklung, die den wachsenden Neuen Mittelschichten angesichts der Niederlagen der Arbeiterbewegung ab den späten 1970er Jahre als ideologische Untermauerung ihrer praktischen, lebensweltlichen Hinwendung zum neoliberalen Akkumulationsmodell dienen sollen: Postmodernismus, Linguistic turn, Positivismus, Pragmatismus und andere Strömungen des Anti-Marxismus, insbesondere auch eine Anknüpfung an traditionelle, ins 19. Jahrhundert zurückreichende, rechte intellektuelle Strömungen[2]; diese neuen Ansätze des Anti-Marxismus entwickelten sich eher im universitären Milieu, entstammten kaum je einer Massenbewegung. Dass Garo gerade diese drei Autoren näher betrachtet, hängt einerseits damit zusammen, dass sie sich beispielsweise mit dem Postmodernismus in früheren Arbeiten ausgiebig beschäftigt hat. Andererseits sind alle Drei, trotz ihres ausgesprochenen Anti-Marxismus, mit Fragen der Strategie der Emanzipation beschäftigt. In den Ausführungen der Autorin wird klar, dass sie gerade an diesem Anspruch scheitern müssen. Dies könnte – ja muss wohl – als Hinweis genommen werden, dass eine Strategie der Befreiung nur mit den Erfahrungen und Instrumenten des revolutionären Marxismus entwickelt werden kann, im Rahmen der demokratischen Aneignung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, der Stellung der Eigentumsfrage durch die vereint kämpfende Arbeiterklasse. Und gerade dies wird durch die drei Autoren vehement bestritten und durch Garo etwas zu zurückhaltend gegen diese eingebracht.

Die drei Autoren ordnen ihre sehr pauschale Einschätzung des Marxismus in den gefälligen und leichtfertigen Diskurs des Antitotalitarismus ein, wie er ab den 1970er Jahren parallel zur neoliberalen Offensive flächendeckend durch deren tragenden Kräfte verbreitet wurde. Dabei spielen ihre persönlichen Erfahrungen in den Kämpfen der 1960er und 1970er Jahren eine entscheidende Rolle. Alle drei waren in radikalen linken Gruppierungen an jenen Kämpfen beteiligt und machten die Erfahrung von deren Niederlagen und des Niedergangs der radikalen Linken und der Arbeiterbewegung. Sie taten, was viele politischen Aktivistinnen und Aktivisten jener Periode taten: sie suchten die Ursachen für die Niederlagen im Marxismus als solchem. Alain Badiou war zur Zeit der grossen Kämpfe der französischen Arbeiterklasse Ende der 1960er Jahre in einer französischen maoistischen Spontigruppe, die so schnell verschwand wie sie entstand, Antonio Negri erlebte die grossen Arbeiteraufstände Italiens. In beiden Kampfzyklen spielten die Kommunistischen Parteien, angesichts der wuchtigen Spontanität der Arbeiterkämpfe, eine mehr als problematische Rolle. Ernesto Laclau machte im argentinischen Kontext ähnliche Erfahrungen. Dass sie sich in solch pauschalisierende Urteile über die gesamte Arbeiterbewegung und den Marxismus verbeissen, ist vor diesem Hintergrund vielleicht verständlich. Als Intellektuelle hingegen ist unentschuldbar, dass sie jede Referenz auf Klassenkampf, Parteiaufbau, Verankerung in der Arbeiterklasse, politisches Programm, und andere zentrale Elemente der Tradition des revolutionären Marxismus bekämpfen. Gerade diesbezüglich reihen sie sich ein in die Front von Stalinismus und Sozialdemokratie, d.h. von allen Varianten des traditionellen Reformismus[3], die zu Recht jede revolutionäre Entwicklung als Bedrohung ihrer Existenz verstehen und deshalb mit allen Mitteln bekämpfen.  Diese drei Autoren werden so nolens volens zu retardierenden Faktoren der Emanzipation. Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass Garo mit ihnen und den entsprechenden intellektuellen Modeströmungen nicht schärfer ins Gericht geht.

Mit dem Rückgang oder besser gesagt: Verschwinden anhaltender grosser und offensiver Arbeiterkämpfe, wie sie im heissen Jahrzehnt vom Ende der 1960er bis zum Ende der 1970er Jahre weltweit aufflammten, verschärfte sich auch das strategische Problem des Aufbaus einer Einheit der emanzipatorischen Kämpfe, bei denen die Arbeiterklasse die klare Führung hat und langsam als geschichtliches Subjekt, als Arbeiterklasse für-sich, auf die Bühne tritt; dies war im heissen Jahrzehnt gerade der Fall.[4] Neue Kämpfe entwickelten sich zwar ab der Mitte der 1990er Jahre in einzigartiger Breite, allerdings waren und sind sie thematisch und vor allem politisch-organisatorisch zerstreut und oft sehr weit entfernt von den Fragen um die materielle und politische Wirklichkeit der breiten Bevölkerung, der Arbeiterklasse an-sich angesiedelt. Die Arbeiterklasse spielt bei diesen Kämpfen meistens keine sichtbar führende Rolle. An die Stelle der Perspektive der universellen Befreiung und der Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums und der demokratischen Kontrolle seiner Produktion und Verteilung traten stattdessen oftmals Fragen der lokalen Unterdrückung aufgrund spezieller Identitäten (Rasse, Geschlecht, Lebensform, Nationalität, Religion,…). Die gesellschaftlichen Grundkonflikte werden nicht mehr als Klassenkonflikte in einem geschichtlichen Zusammenhang verstanden, sondern als Kämpfe gegen Unterdrückung hier und jetzt. Dies war die Stunde des Linguistic turn (der sprachkritischen Wende), der Gender Studies, des Pragmatismus, des Postmodernismus und anderer anti-marxistischer Ansätze. Gerade auch auf diesem Punkt wäre eine Vertiefung durch die Autorin hilfreich gewesen.

Alain Badiou weist, wie die Postmodernisten, das Marx’sche Projekt der Kritik der politischen Ökonomie vehement zurück und entwirft ein entsprechend «ätherisch» wirkendes Projekt eines «spekulativen Linksradikalismus» (63), wo das Ereignis als Moment, wo der Kommunismus als «Norm des historischen Prozesses» erscheint. Er knüpft damit an Derrida an, wie auch diese Auffassung seltsame Gemeinsamkeiten mit dem «Spontaneismus des Maoismus und des Neoliberalismus» aufweist (64). Damit wird es ihm unmöglich, eine Verbindung zwischen der materiellen, konkreten Wirklichkeit mit einer Konzeption von Kommunismus und Strategie zu entwickeln – dem zentralen Pfeiler des Marx’schen Projektes. Sein Ansatz gleitet damit in einen Voluntarismus ab und trägt somit irrationalistische Züge, trotz der formalen und akademischen Ausgefeiltheit seines umfangreichen Werkes.

Ernesto Laclau hat vor seinem Tod (2014) mit seiner Ehefrau Chantal Mouffe mehrere Bücher publiziert, wo sie eine breit angelegte Hypothese über die nur elektorale Machtergreifung jenseits der marxistischen Konzepte von Klassenkonflikt, Kapitalismus, Geschichte, Politik, Organisation usw. erarbeiten. Sie stützen sich dabei auf strukturalistische und postmodernistische Konzepte (die Gesellschaft als Ensemble von diskursiven Praktiken).  Demzufolge lehnen sie eine politökonomische Analyse des Kapitalismus ab und betrachten eine solche als unmöglich und vor allem als «totalitär», wie im Postmodernismus üblich. Die vorgeschlagene Strategie knüpft an die rechten Rezeptionen des Hegemoniekonzeptes von Gramsci an; entsprechend schrecken Laclau und Mouffe auch nicht vor autoritären Konsequenzen des Ansatzes eines linken Populismus zurück. Politik ist bei ihnen nur eine Diskurstechnik (107), beschränkt sich strikt auf eine elektorale Eroberung der Macht. Die Arbeiterklasse wird für das reibungslose Funktionieren des Kapitalismus eher als Störung betrachtet (97), vor allem wenn sie als kämpfende Kraft die Bühne der Geschichte betritt.

Antonio Negri hat gemeinsam mit dem US-amerikanischen Literaturtheoretiker Michael Hardt u.a. die vier populären Bücher Empire, Multitude, Commonwealth und Assembly publiziert, wo sie den zentralen Hypothesen des Marxismus entgegentreten und die Konzepte des Empire, der Multitude, des Gemeineigentums und der Demokratie entwickeln. In manch einer Hinsicht ist Negri ein Kampfgefährte der spontaneistischen Projekte des Open Marxism von Moishe Postone, John Holloway u.a. und der Wertkritik, wie sie v.a. durch Robert Kurz repräsentiert wurde. Für Negri und Hardt leistet die «durch den kognitiven Kapitalismus mobilisierte Arbeitskraft den unterdrückerischen Tendenzen des Marktes» aus sich selbst Widerstand und entwickelt gemeinschaftliche Alternativen. Dieses Kernargument der Multitude, die das Kapital vor sich hertreibt, stammt aus dem italienischen Operaismus und ist mittlerweile durch die faktische Entwicklung vollständig widerlegt. Doch Negri & Hardt lassen sich dadurch nicht beirren und treiben ihr Argument in hysterische Höhen, vor allem mit dem von Foucault entlehnten, jedoch invertierten Argument der Biopolitik (S. 139), mit dem sie an der irrationalistischen Konzeption des Vitalismus anknüpfen. Auch hier ergeben sich Gemeinsamkeiten mit der neoliberalen Ideologie.

Diesen drei anti-marxistischen Ansätzen stellt die Autorin eine knappe und weitgehend überzeugende Darstellung des Marx’schen Projektes gegenüber. Dieses Projekt beschreibt sie recht eingehend als Kommunismus, nicht als vorgefertigtes Modell, sondern als Strategie im Rahmen eines historischen Prozesses.

Und was jetzt?

Isabelle Garo gehört innerhalb der französischen NPA zur Tendance CLAIRE[5] (pour le Communisme, la Lutte Auto-organisée, Internationaliste et RévolutionnairE). Die NPA, seit dem Frühjahr 2009 Nachfolgeorganisation der ehemaligen Ligue communiste révolutionnaire[6], ist eine der wenigen international noch lebensfähigen trotzkistischen Organisationen, die weiterhin eine einigermassen ergiebige und strukturierte politische Debattierkultur aufrechterhalten konnten. Sie ist die führende politische Organisation in dem ehemaligen Vereinigten Sekretariat der Vierten Internationale[7] (VSVI, dem sogenannten Pablismus), die sich, wie die meisten trotzkistischen Organisationen angesichts der aufkommenden Massenmobilisierungen nach dem 15jährigen dunklen Tunnel ihres Zerfalls spätestens ab der Mitte der 1990er Jahre mehr oder weniger von zentralen Hypothesen des klassischen revolutionären Marxismus distanzierten. Bei der LCR wurde dannzumal die Strategie der Breiten Parteien formuliert: dabei wurde u.a. die Hypothese des Klassencharakters des bürgerlichen Staates fallengelassen und eine letztendlich elektorale Orientierung im Hinblick auf sogenannte Linke Regierungen übernommen, als Basis für entsprechende Bündnispolitiken mit klassischen reformistischen oder neu entstandenen neo-reformistischen politischen Formationen – oft in Zusammenarbeit mit Abkömmlingen des Eurokommunismus. Diese Strategie führte ab dem Ende der 1990er Jahre zur praktischen Unterstützung von Regierungsparteien in Brasilien, Venezuela, Italien, Frankreich, Griechenland, Portugal und zu Bündnissen mit Parteien, die in die nationale Regierung eintreten wollten, wie in Grossbritannien, den USA, Spanien, Deutschland. Die Folgen dieser neo-reformistischen Strategien für den Aufbau von revolutionären politischen Organisationen waren verheerend für die Arbeiterbewegung und für den Aufbau einer revolutionären politischen Linken. In der Bilanzierung dieser Entwicklungen stiess die Debattierkultur selbst in der NPA an ihre Grenzen: diese fatale Strategie konnte bislang, trotz mehrerer Vorstösse, nicht korrigiert werden.

Und diese Grenze ist auch im Buch von Isabelle Garo zu spüren: obgleich sie zentrale Fragen der Strategie anspricht oder sogar detailliert erläutert (Staat, politische Organisation, gesellschaftliche Arbeitsteilung, Eigentumsfrage, Klassenkonflikt, Periodisierung, u.a.), und dabei eigentlich Positionen formuliert, die unverträglich mit der Strategie der Breiten Parteien sind – etwa die zentrale Bedeutung von strategischen Orientierungen auf eine Beseitigung der politischen und sozialen Herrschaft der Bourgeoisie –, so weigert sie sich, diese Debatte offen anzugehen. Sie scheint da ebenfalls Gefangene dieser Tabuzone zu sein…

Dies ist wohl kein Zufall. Die Strategie-Debatte wurde ab den späten 1970er Jahren, dem Durchbruch der neoliberalen Offensive, bis in die Linke hinein zunehmend von einem «Antitotalitarismus» und einer Hinwendung zum Linguistic turn dominiert, im Rahmen dessen alle totalisierenden, dialektischen philosophischen Ansätze ab der Ursünde Marx – gelegentlich zurück bis inklusive Hegel – bis zum Gulag, den Moskauer Prozessen und dem Grossen Sprung nach vorn unter Mao, inklusive den Roten Khmer und Nordkorea in denselben Topf der «totalitären Ansätze» geworfen wurden wie die reale Geschichte der revolutionären Durchbrüche und der entsprechenden Traditionen des revolutionären Marxismus. Garo sieht Ansätze zu dieser «totalitären» Entwicklung beim Marx der Kritik des Gothaer Programmes; Lenin, sofern überhaupt erwähnt, liegt für sie vollends in der Gefahrenzone totalitärer Ansätze. [8]

Diese antimarxistische Perspektive war bereits in den langen Debatten der 1990er Jahre um die strategische Ausrichtung einer Öffnung gegenüber den neuen sozialen Bewegungen wirksam. Damit wurde der Weg abgeschnitten, zu den radikalen und notwendigen Antworten vorzudringen, die in eine strategische Orientierung heute einfliessen müssten. Es geht im Umgang mit den neuen sozialen Bewegungen nicht nur darum, sich inhaltlich gegenüber diesen zu öffnen (was dies auch immer heissen möge), sondern das Erbe der Tradition des revolutionären Marxismus produktiv im Rahmen dieser Bewegungen umzusetzen. Es kann nur darum gehen, einen Orientierungspol aufzubauen und damit einen Beitrag zur inhaltlichen und materiellen Strukturierung dieser Bewegungen zu leisten und nicht einfach den noch ungeschiedenen Strömungswolken innerhalb dieser Mobilisierungen hinterherzulaufen und sich durch herausragenden Aktivismus zu legitimieren; nicht darum, zu zeigen, dass der Marxismus eigentlich gar nicht so gefährlich («totalitär») ist, wie allgemein angenommen wird, sondern dass er ein unverzichtbares Instrument zum Verständnis, zur Orientierung und zum praktischen Kampfe gegen die Herrschaft über die lebendige Arbeit und den gesellschaftlichen Reichtum ist. Gerade hierin liegt nämlich der antitotalitäre und demokratische Reichtum der Tradition des revolutionären Marxismus!

Garo kommt dieser Perspektive recht nahe, nur formuliert sie diese nie klar und arbeitet sie nicht konsequent für heutige Verhältnisse heraus. Ganz anders Marx! Dies zeigt sie schön auf, etwa auf Seite 246: «Dabei ist für Marx wichtig, nie die vorherbestimmten, ja vorgeschriebenen Phasen [eines Überganges zum Kommunismus] zu definieren, sondern [diesen zu verstehen als] einen dauerhaften Prozess aus politischer Mobilisierung, demokratischem Funktionieren, Umwandlung der gesellschaftlichen Produktion und der Politik und einer egalitären Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum.» Nun, war das nicht auch die innere Triebfeder der proletarischen Revolutionen und Mobilisierungen der vergangenen 150 Jahre? Selbst wenn sie beispielsweise auf Seite 293 schreibt, dass die grossen aktuellen Mobilisierungen (Frauenbewegung, Ökologiebewegung, gegen Rassismus,…) von Lohnabhängigen und der Jugend getragen werden, so geht ihre Sorge vor allem dahin, dass die revolutionäre Linke in den Bewegungen sich bezüglich ihrer programmatischen Referenzen (soweit diese überhaupt existieren) eher zurückhalten und einfach solidarisch mitlaufen solle. Etwas mehr Vertrauen auf den Maulwurf der Geschichte täte hier gut! Sie schreibt ja selbst, dass das tiefe Motiv vom Marx der Kritik der politischen Ökonomie war, die Natur dieses Maulwurfs zu verstehen, um seine vordere linke Grabschaufel – als klassenkämpferische politische Organisation – zu stärken und befreiendes Licht in die finsteren Höhlen des Ungetüms Kapitalismus zu werfen: Grab munter weiter, Maulwurf, wir sind Teil von Dir!

[1] Karl Marx: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (Kritik des Gothaer Programms), 1875. MEW 19, 21. Diese Losung wird Louis Blanc zugeschrieben.

[2] Siehe dazu beispielsweise Jan Rehmann: Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze & Foucault. Eine Dekonstruktion. Argument, 2004, oder der Sammelband: Moderne, Nietzsche, Postmoderne. Akademie-Verlag, 1990. Und die trotz den stalinistischen Nebentönen und einigen Überdehnungen des Argumentes weiterhin als Klassiker geltende Untersuchung: Georg Lukàcs: Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler. Aufbau-Verlag, 1984 (1952). Zwei hilfreiche Untersuchungen zur periodischen Einordnung des Postmodernismus aufgrund der neuen Form des Kapitalismus: David Harvey: The Condition of Postmodernity. An enquiry into the Origins of Cultural Change. Blackwell, 1990 und Frederic Jameson: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism. Verso, 1991.

[3] Ohne auf die Debatte um die reformistische Tradition einzugehen, sei festgehalten, dass hier damit alle Ansätze gemeint sind, die in ihrer politischen Perspektive in erster Linie auf Kompromisse mit der Bourgeoisie setzen. Dies ist sicher das wichtigste Ziel jeder Bürokratie, wie sie die reformistischen Ansätze durchweg dominieren; dabei sei ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Lohnabhängigen heute aus Perspektivlosigkeit mehrheitlich auf Kompromisse mit der Bourgeoisie setzen. So schwach ist das Klassenbewusstsein heute. Demgebenüber setzen revolutionäre Perspektiven auf die Stärkung der Kampfkraft der Arbeiterklasse. Dass der Reformismus ein wesentlicher Faktor für den Vormarsch der neoliberalen Offensive ist, ist offensichtlich.

[4] Philosophisch hilfreich auf dieser Frage z.B.: Kevin Anderson: Lenin, Hegel, and Western Marxism. A Critical Study. University of Illinois Press, 1995 und Paul Blackledge : Marxism and Ethics. Freedom, Desire and Revolution. Suny Press, 2012. Für die historische Perspektive etwa Colin Barker (ed.): Revolutionary Rehearsals. Haymarket Books, 1987 und Chris Harman: The fire last time. 1968 and after (second edition). Bookmarks, 1998.

[5] https://tendanceclaire.org/index.php.

[6] https://wikirouge.net/Ligue_communiste_r%C3%A9volutionnaire_(France)

[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Pablismus

[8] Für eine aktuelle, interessante und historisch informierte Aufarbeitung der Geschichte der Russischen Revolution, des Bolschewismus und der Rolle Lenins siehe z.B. Tamàsz Krausz: Reconstructing Lenin. An Intellectual Biography. Monthly Review Press, 2015. Immer noch ein Klassiker für die innere Verbindung des bolschewistischen Projektes und den kämpfenden Sektoren der Arbeiterklasse beispielsweise: Paul Le Blanc: Lenin and the Revolutionary Party. Humanties Press International, 1990. Für eine akribische Darstellung der Herausbildung der Stalinschen Diktatur und der Marginalisierung der revolutionären Sektoren in der bolschewistischen Partei und in der Arbeiterklasse in den 1920er Jahren siehe Wadim S. Rogowin: Trotzkismus. Mehring Verlag, 2010.

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