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„Wir Gastarbeiter unterstützen die Forderungen unserer deutschen Kollegen“.

Eingereicht on 22. November 2019 – 17:24

Torsten Bewernitz. Von Anfang an, seit 1949, war in der bundesdeutschen Gesetzgebung – trotz anfänglicher hoher Arbeitslosigkeit – eine Ausländerbeschäftigung vorgesehen. Mitte der 1950er Jahre sah die Beschäftigungslage schon anders aus und ab 1955 schloss die Bundesrepublik Anwerbeabkommen mit verschiedenen Staaten ab: 1955 mit Italien, 1960 mit Spanien und Griechenland, 1961 mit der Türkei und 1963 mit Marokko. Hintergrund dieser Anwerbungen und internationalen Vereinbarungen – etwa dem westeuropäischen Übereinkommen über Grenzarbeitnehmer und Gastarbeitnehmer, dem die Bundesrepublik 1961 beitrat – war jedoch zu keinem Zeitpunkt lediglich die Beschäftigungslage, sondern auch die Art der Arbeit: Die Anwerbung von „Gastarbeitern“ hängt eng mit dem Prozess der Rationalisierung zusammen: „Mit der Anwendung neuer Produktionsverfahren war die Zunahme restriktiver und unqualifizierter industrieller Arbeiten verbunden (der Anteil unqualifizierter, belastender Industriearbeiten, vor allem repititiver Teilarbeiten nahm zu). Angesichts der Verknappung der inländischen Arbeitskraft war im Interesse der Kapitalverwertung eine Öffnung des nationalen Arbeitsmarkts notwendig“ (Pätzoldt 1974: 415).

Zum Zeitpunkt des Metallarbeiterstreiks ist die Arbeitslosenquote rapide gesunken: Lag sie 1950 bei 10,7 Prozent, so lag sie 1960 nur noch bei 1,2 Prozent. Gleichzeitig wird den Unternehmen die Neueinstellung bundesdeutscher Arbeiterinnen oder Arbeiter zu teuer: Bis 1958 kostete die Neueinrichtung eines Arbeitsplatzes die Industrie durchschnittlich 20.000 DM, ab 1958 stiegen diese Kosten sprunghaft auf durchschnittlich 56.000 DM (Nikolanikos 1973: 40; 44). Marios Nikolanikos schließt, dass sich die zunehmende Beschäftigung von Gastarbeitern auf dem Wirtschaftswachstum gründet (ebd.: 54). Hauptsächlich betrifft dies neben dem verarbeitenden Gewerbe und dem Baugewerbe die Eisen- und Metallerzeugung und –verarbeitung, und hier insbesondere stark rationalisierte Großbetriebe.Das Rhein-Neckar-Gebiet gehörte entsprechend zu den Gebieten, in denen „die ausländischen Arbeiter […] am stärksten konzentriert, mit einer Fluktuationsrate von ca. 30 Prozent äußerst mobil, gleichzeitig optimal ghettoisierbar und somit je nach den Expansionsrichtungen der mechanisierten Massenproduktion leicht zu verschieben“ (Roth: 223f) waren.

Am Vorabend des Streiks, am 17. April 1963, referiert der Mannheimer Morgen die jüngste Gastarbeiterstatistik der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung: Insgesamt sind zu diesem Zeitpunkt (Stichtag: 30. September 1962) 711.459 ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter in Deutschland beschäftigt. Mit 184.000 dieser ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter hat Baden-Württemberg eine Ausländerquote von 5,9 Prozent und damit die höchste in der Bundesrepublik. In der Metallbranche liegt der Ausländeranteil bundesweit mit 4,5 Prozent am zweithöchsten nach dem Baugewerbe. Kein Wunder also, dass die „Gastarbeiterfrage“ im Streik 1963 durchaus eine Rolle spielt.

Der erste Mai 1963 in Mannheim ist ungewöhnlich: Nicht nur hat der DGB bereits Mitte April der Presse das Konzept eines „Weltfeiertags” mitgeteilt (Mannheimer Morgen, 20.04.1963), dazu befindet man sich nun im dritten Streik- und im zweiten Aussperrungstag.

Der angekündigte Charakter eines „Weltfeiertags” gelingt dem DGB über das geplante Maß hinaus. Das ist deutlich zu sehen an den Fotos, die Toni Tripp auf der Abschlusskundgebung in der Mannheimer Eishalle gemacht hat: Wir finden Transparente mit arabischer Aufschrift, aber auch deutschsprachige Schilder u.a. mit der Aufschrift „Arabische Arbeiter für internationale Solidarität!“ wie auch „Afrikanische Kollegen solidarisch mit deutschen Kollegen“. Unter dem großen Banner mit der Aufschrift „Wir Gastarbeiter unterstützen die Forderungen unserer deutschen Kollegen“ finden wir traditionell gekleidete people of color, die sich ebenso für den „Tag der Arbeit“ zurechtgemacht haben wie die deutschen Kollegen im Festtagsanzug. Wie diese tragen auch sie die schwarz-rot-goldenen DGB-Wimpel.

Die Mannheimer Industrie war schon in den frühen 1960er Jahren ein Schwerpunkt des Einsatzes ausländischer Einsatzkräfte. (Bildquelle: Anton Tripp/Fotoarchiv Ruhr Museum)

1963 sind diese Bilder ungewöhnlich, das lässt sich schon an der hohen Zahl von Negativen mit ähnlichen Motiven schließen. Ein Fotograf wählt die besonderen Motive für seine Arbeit aus und Toni Tripps Kamera sucht am 1. Mai 1963 ganz offensichtlich gezielt die farbigen Kolleginnen und Kollegen. Das Ungewöhnliche an dem Motiv sind dabei gerade in Mannheim keineswegs people of color als solche. Schwarze waren im Mannheim der Nachkriegszeit kein seltener Anblick, für gewöhnlich handelte es sich aber um amerikanische Soldaten oder deren Kinder. Diese werden aber kaum an Arbeiterdemonstrationen und Streiks teilgenommen haben, schon gar nicht in entsprechender Kluft und mit der Selbstbezeichnung als „Afrikanische Arbeiter“. Und wenn uns „Gastarbeiter“ auch nicht so ungewöhnlich vorkommen, so erwarten wir unter dieser Bezeichnung doch eigentlich eher südeuropäische Kolleginnen und Kollegen.

Der ehemalige IG-Metall-Vertrauensmann und spätere Betriebsrat „beim Benz“ Erwin Bürckmann berichtete, wie es zu dieser vergleichsweise großen Anzahl ausländischer und vor allem auch extrakontinentaler Arbeiterinnen und Arbeiter gekommen ist: Bei den Kolleginnen und Kollegen – der Spiegel berichtet über den Ersten Mai von anwesenden Ghanesen, desweiteren waren palästinensische Araber und Algerier dabei – handelt es sich um Auszubildende, die von der Carl-Duisberg-Gesellschaft zu einer Ausbildung in Deutschland eingeladen wurden. Einige von ihnen absolvieren ihre Lehre bei Daimler-Benz in Mannheim. Von Gewerkschaftsseite war der spätere DGB-Kreisvorsitzende Fritz Karg zuständig für diese Auszubildenden, er integrierte sie mit Grillabenden und ähnlichem. So ist es wohl alles andere als ein Zufall, dass eben jener Fritz Karg ab 1974 auch dem „Koordinationsausschuss für die Betreuung ausländischer Arbeitnehmer“ vorstand. Fritz Karg vermittelte auch die Kontakte zwischen diesen „Gastarbeitern“ und den aktiven Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern im Betrieb.

Die Anwesenheit von „Gastarbeitern“ auf der Maikundgebung ist nicht nur regional eine kleine Sensation. Der Mannheimer Morgen stellt die Solidarität von „Gastarbeiter-Delegationen“ in den Mittelpunkt seines Berichts vom 02. Mai 1963: „Erster Beifall klang auf, als italienische, spanische, griechische und arabische Gastarbeiter ins Stadion einmarschierten. Auch Neger in farbenprächtiger Tracht waren dabei“. Die Gewerkschaftsredner honorieren diese Teilnahme an der Mai-Feier, neben dem Kreisvorsitzenden Max Jäger betont auch der baden-württembergische Landesbezirksvorsitzende Hans Geiger die offenbar lückenlose Solidarität („an allen Stellen“). Er spricht von „unseren tapferen ausländischen Freunden“ und lobt deren „heroische Haltung“.

Und auch die linkssozialdemokratische „Sozialistische Politik” betont diesen Zusammenhang: „Interessant war, daß auf der Maikundgebung zahlreiche ausländische Arbeiter vertreten waren: Italiener, Spanier, Griechen, Afrikaner, Araber. Zum ersten Male sprachen auf der Kundgebung auch ‚Gast‘-Arbeiter: ein Italiener und ein Araber. Der Araber schloß mit den Worten: ‚Arbeiter aller Länder vereinigt euch!‘“ (SoPo 5/1963: 9) Die Teilnahme dieser ausländischen Delegationen, so Erwin Bürckmann, hat den Ersten Mai 1963 deutlicher geprägt als das offizielle Festprogramm im neuen Rahmen.

Offenbar ist diese ausländische Beteiligung am gewerkschaftlichen Engagement keineswegs selbstverständlich: Robert Wieland problematisiert die Rolle der „Gastarbeiter“ ganz allgemein in „Der Gewerkschafter“ (6/1963): „Wir laufen Gefahr, uns daran zu gewöhnen, daß der größte Teil der über 700.000 ausländischen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik ohne gewerkschaftliche Bindung bleibt. Sind wir uns bewußt, welche Aufgaben wir gegenüber diesen Beschäftigten haben? […] Die ausländischen Arbeitnehmer kommen vorwiegend aus den europäischen Entwicklungsländern, Griechenland, Spanien und Süditalien. Jahrelange Arbeitslosigkeit, Not und Armut im Gefolge, trieb sie aus ihren Heimatländern in unser ‚Wirtschaftswunderland‘. Aus bäuerlichen Provinzen, aus industriearmen Gegenden kommend, werden sie in Deutschland erstmalig mit den ‚Segnungen‘ eines hochindustrialisierten, kapitalistischen Landes konfrontiert. […] Warum ist es so schwierig, diese ausländischen Arbeitnehmer gewerkschaftlich zu organisieren? Machen wir es uns nicht so einfach und sagen: Sie wollen nur Geld verdienen? Geht man der Sache nach, warum sie schwer organisierbar sind, kann man leicht die Gründe feststellen. Es sind vor allem: Verständigungsschwierigkeiten, häufiger Arbeitsplatzwechsel, Lebensgewohnheiten und naive Vorstellungen von den Gewerkschaften“.

Eine Ausgabe später darf einer dieser Gastarbeiter, der griechische Werkstudent Dimitris Bardis, die Situation selber beschreiben: „Mehrmals monatlich rollt ein Zug mit über mit 500 Träumen von einem besseren Leben erfüllten Menschen hier ein. Deutschland gilt für diese Menschen als ein Land, in dem man schnell viel Geld verdienen kann.

Alle haben einen einjährigen Arbeitsvertrag für einen deutschen Betrieb in der Tasche, den sie schon in Griechenland abgeschlossen haben. Ein Vertreter dieses Betriebs holt sie jetzt am Bahnhof ab und bringt sie in die Gemeinschaftsunterkünfte. Hier sind sie, je nach Raumgröße, gezwungen, mit 4 bis 16 Mann in einem Raum zu wohnen! Wenn sie das Pech hatten, ihren Vertrag mit einer kleinen oder mittleren Firma abzuschließen, erwartet sie meist eine besonders schlechte Unterkunft. Auch mit dem Mietvertrag wird ein Geschäft gemacht. Die Firmen verdienen durch überhöhte Mieten an den Zimmern. Durch unsinnige Klauseln und Vorschriften wird den Gastarbeitern die Möglichkeit genommen, sich heimisch zu fühlen. Um die Schlafruhe, besonders in Fabriken mit Schichtarbeit, ist es oft schlecht bestellt. Wenn der eine, oftmals nach zwölfstündiger Arbeit, schlafen geht, muß der Kollege aufstehen, um die nächste Schicht anzufangen. Warum glaubt man, dies den ausländischen Arbeitern zumuten zu können? […] Es wäre unkorrekt zu sagen, es sei überhaupt nichts getan worden, und die Gastarbeiter hätten immer ihr Bestes getan, um die Sympathien ihrer Gastgeber zu erwerben. Würde man sich aber für kurze Zeit in ihre Lage versetzen, dann könnte man viele Fehler verstehen. Sie leben hier fern von ihren Müttern, Frauen und Kindern. Die Wärme und die Freude, die man innerhalb der Familie genießt, fehlt ihnen. Die meisten von ihnen waren keine Landarbeiter, sondern selbstständige Kleinbauern, sie haben ihre Selbstständigkeit aufgegeben. Diese Umstellung von Selbstständigkeit zu Industriearbeitern empfinden sie als soziale Degradierung. Hinzu kommt noch die negative Haltung, die ihre deutschen Arbeitskollegen zu ihnen haben. Es ist wenig vorgekommen, daß sie Kontakt aufgenommen haben.“ (Der Gewerkschafter 7/1963: 276)

Unter diesen Bedingungen ist ein Eintreten für die Interessen der deutschen Kolleginnen und Kollegen keineswegs selbstverständlich: Der Kontakt ist oft marginal, das Interesse der deutschen Kollegen ebenso. Zu allem Überfluss sind die Ratschläge von Arbeitgeberseite zur Zusammenarbeit und Kontaktpflege oftmals nicht wirklich produktiv. So lauten etwa die Ratschläge der Hauszeitung der BBC „Wir und unser Werk” – die auf jeweils einer Seite schon zu dieser Zeit auch auf spanisch und italienisch schreibt – im März 1963: „Der Südländer will als Persönlichkeit behandelt werden. Er ist von Natur aus liebenswürdig und schätzt eine liebenswürdige Umgangsart. Eine kleine Gefälligkeit, zum Beispiel eine angebotene Zigarette, gewinnt sein Herz im Nu.“

„Manche Südländer haben noch keinen rechten Sinn für Ordnung. Man sollte sie durch gute Unterkünfte zu diesen Tugenden ermuntern.“

„Bei Unruhen und vielleicht unbegründeten Klagen ist eine harte und konsequente, jedoch gerechte Klarheit der einzige Ausweg.“

Die „Gastarbeiter“ gelten also als Unsicherheitsfaktor. Die „Metall“ lässt in ihrer Ausgabe 10/1963 ausführlich den italienischen Gastarbeiter Amatore Cebati zu Wort kommen. Cebati arbeitet in Stuttgart, hier hat die IG Metall ein eigenes Streiklokal für die ausländischen Kolleginnen und Kollegen eingerichtet. Die „Metall“ thematisiert die besonderen Probleme der „Gastarbeiter“, die dieses Vorgehen nötig machten: „[D]ieser Arbeitskampf hat bei den Gastarbeitern erheblich schwerwiegendere Probleme aufgeworfen als etwa bei ihren deutschen Kollegen. Die Arbeiter aus Süd- und Südosteuropa haben hier meist keine richtige Wohnung, keine Ersparnisse, keine Verwandten, die ihnen über die schwierige Zeit hinweghelfen könnten“.

„Sorge“, so Werner Sonntag in der ZEIT vom 10. Mai 1963, „macht man sich im Stuttgarter Sozialamt vor allem um die zehntausend ausländischen Metallarbeiter. „Streik nix gut“ war die Rede eines Italieners, der, wie seine Landsleute, ein gut Teil seines ansehnlichen Verdienstes [!? – Anm. T.B.] an die Liebenden daheim geschickt hatte“.

Es wundert wenig, dass unter diesen Rahmenbedingungen die Befürchtung, „Gastarbeiter“ könnten zu Streikbrechern werden, kursiert – das ist nicht viel anders als bei heutigen Streiks in der Debatte um LeiharbeiterInnen und WerkverträglerInnen, insbesondere bzgl. der ungarischen und bulgarischen Arbeitskräfte im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Daher ist es den gewerkschaftlichen Medien eine besondere Betonung wert, dass es unter den ausländischen Kolleginnen und Kollegen Streikbrecher „genausowenig wie unter den einheimischen Arbeitern“ gebe.

Ein wenig sind die Unternehmer verantwortlich für diese Situation: Lassen sich am ersten Tag noch ausländische ArbeiterInnen von ihren Vorgesetzten zur Arbeit überzeugen, so ist nach der Aussperrung Schluss mit der Identifikation mit dem Betrieb: „[A]ls die Aussperrung kam, warf der Chef auch sie auf die Straße. Das hat dem letzten unter uns die Augen geöffnet“ berichtet an selber Stelle ein Mannheimer Gastarbeiter. Und auch der SPIEGEL (19/1963) problematisiert die Auswirkung der Aussperrung auf die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter:

„Nicht minder hart betroffen [als die unorganisierten Ausgesperrten, Anm. T. B.] sind jene 50 000 Fremdarbeiter, die bis in die vergangene Woche in Baden-Württemberg werkelten. Sie müssen sich mit den niedrigen Fürsorgesätzen bescheiden, die das Bundessozialhilfegesetz für sie vorsieht. Diese Beträge stehen ihnen aber nur dann zur Verfügung, wenn sie mit regulären Arbeitspapieren versehen und offiziell von deutschen Vermittlungsstellen für ihre württembergischen Arbeitgeber angeworben sind. Andernfalls müssen sie damit rechnen, über die Grenze abgeschoben zu werden. Trotz dieser widrigen Umstände erklärten sich die Fremdarbeiter, unter ihnen eine Anzahl Ghanesen, beim Streikbeginn mit den einheimischen Arbeitskollegen solidarisch“.

Alle Befürchtungen sind also letztlich umsonst. Die ausländischen Kolleginnen und Kollegen zeigen ich ebenso aktiv und energisch wie die gebürtigen Deutschen. Sie betrachten 1963 das Verhalten der deutschen KollegInnen und der IG Metall als solidarisch. Sie nehmen an dem Streik teil, weil sie diesen auch als den Ihren begreifen: Ihre Interessen werden thematisiert, sie sprechen auf den Kundgebungen und die Gewerkschaft gibt sich alle Mühe, sprachliche, kulturelle und auch finanzielle Barrieren zu überwinden.

Dies gilt gerade in Mannheim – und Hintergrund dieses solidarischen Miteinanders ist durchaus auch die politisierte Stimmung in den Mannheimer Betrieben. Teilweise aus Diktaturen kommend – man denke an Spanien unter Franco oder Portugal unter Salazar, aber auch an den Algerienkrieg und die insbesondere aus linkssozialistischen Kreisen in Westdeutschland geübte Solidarität – neigten die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter dazu, hier am ehesten Beziehungen einzugehen, wenn man selber oppositionell war, hatte man sozusagen einen ähnlichen „Stallgeruch“. Und so sind – von den zitierten Beispielen abgesehen – fast alle zeitgenössischen Berichte sehr positiv gehalten. Der Daimler-Benz-Betriebsrat Josef Jäger etwa betont: „Nach der der Ausrufung des Streiks gab es viel Eigeninitiative bei den Kollegen. Stündlich wurden 60 Streikposten für viele Werkstore gebraucht. Aber es waren immer mehr da, als benötigt wurden. Auch die Gastarbeiter machten mit“ (Straub: 5). Und das Autorentrio der Dokumentation „Metallarbeiter kontra Monopole“ resümiert:

„Die internationalistische Seite des Metallarbeiterstreiks zeigte sich auch in der Aktionseinheit zwischen den in Westdeutschland tätigen ausländischen Arbeitern und der westdeutschen Arbeiterklasse selbst. Es kämpften italienische, spanische, nordafrikanische, griechische und türkische Arbeiter gemeinsam mit ihren westdeutschen Kollegen. Erscheinungen von Chauvinismus und Nationalismus, wie sie in der Vergangenheit mitunter bei manchen westdeutschen Gewerkschaftern auftraten, gab es nicht. Vorbehalte und Befürchtungen, daß ausländische Kollegen Streikbrecher würden, erwiesen sich als grundlos. Im Gegenteil, die ausländischen Metallarbeiter gehörten trotz ihrer wesentlich schwierigeren persönlichen Lage zu den entschlossensten und mutigsten Teilnehmern. Das wird in allen Veröffentlichungen von der IG Metall hervorgehoben, von der Monopolpresse jedoch mit Sorge festgestellt“ (Brühl/Hoffmann/Rüger 1963: 184)

Trotz der widrigen Bedingungen, schließt die dokumentatorische Broschüre „Der große Streik“ (Straub: 15) „stehen sie geschlossen in der Arbeitnehmerfront dieses bisher härtesten Arbeitskampfs in Nachkriegsdeutschland. Streikbrecher gab es vor der Aussperrung unter den ausländischen Kollegen genausowenig wie unter den einheimischen Arbeitern.

‚Die IG Metall‘ kümmert sich wirklich großartig um uns.‘ Das sagt uns ein spanischer Arbeiter, der in einem Mannheimer Großbetrieb beschäftigt ist. ‚Für mich und meine Landsleute ist die Solidarität, die hier bekundet wird, ein großartiges Erlebnis. Auch denjenigen unter uns, die bisher noch nicht den Weg zur Gewerkschaft gefunden hatten, ist jetzt bewußt geworden, daß es da auch für die ausländischen Arbeiter kein ‚Ohnemich‘ gibt‘“ (Straub: 15).

Einen Monat nach Streikende berichtet der Mannheimer Morgen (12. Juni 1963) erneut über die aktuellen Arbeitsamtsstatistiken in Mannheim. Der Streik, so die Schlagzeile, habe den Arbeitsmarkt nicht beeinflusst. Die Zahl der Gastarbeiter steigt weiterhin, und dieser Trend soll noch lange anhalten: „Die Zahl der im Bereich des Arbeitsamts Mannheim beschäftigten Ausländer ist im Mai wieder angestiegen. Die Statistiken zählten 11994 Gastarbeiter, das sind 482 mehr als im April. Binnen Jahresfrist ist die Zahl der ausländischen Arbeiter damit um 2456 gestiegen. Die 5070 Italiener stellen in Mannheim das Hauptkontingent an ausländischen Arbeitern. Allein aus dem sonnigen Süden Italiens kamen in den letzten 12 Monaten 929 Arbeiter nach Mannheim. Direktor Weber rechnet auch in den nächsten Monaten noch mit einem Ansteigen der Zahl der ausländischen Arbeitskräfte.“

Der „sonnige Süden“ ist ein Euphemismus. Schon der marxistische Theoretiker Antonio Gramsci hatte auf die Differenzen zwischen dem industrialisierten Norden Italiens und dem verarmten Süden hingewiesen. Der Zuzug bäuerlicher und armer „Massenarbeiter“ war noch Jahrzehnte nicht nur in Deutschland Grundlage sozialer Konflikte, sondern auch im Norden Italiens.

Exakt zehn Jahre nach 1963 sollen die „Gastarbeiter“ eine besondere Rolle in der Geschichte der Mannheimer Arbeiterbewegung spielen: Die „wilden Streiks“ des September 1969 sind an Mannheim nahezu spurlos vorübergegangen, da diese weniger in der ansässigen Metallindustrie als in der Schwerindustrie und damit schwerpunktmäßig im Ruhrgebiet, Saarland und Teilen Norddeutschlands stattfanden. In der Metalltarifrunde 1971 allerdings sah dies bereits etwas anders aus: Der Metallarbeiterstreik in Baden-Württemberg 1971 hat einige Ähnlichkeiten mit 1963 vorzuweisen: Erneut in einer Phase des wirtschaftlichen Abschwungs, greift Gesamtmetall zum ersten Mal seit 1963 zum Instrument der Flächenaussperrung. Die verhandelnden Akteure sind auf beiden Seiten teilweise dieselben wie 1963: van Hüllen, Schleyer, Bleicher, Brenner. Die IG Metall fordert eine Lohnerhöhung von 11 Prozent – obwohl an der Basis sogar die Forderung von 14 oder 15 Prozent überwiegt, die Annemarie Stern auf ihrem 1973 entstandenen Bild in das Motiv von 1963 einfügt.

Die Debatte um die seit 1955 bestehenden Leichtlohngruppen, die nunmehr neben Frauen insbesondere Migranten (und vor allem Migrantinnen) betrafen, hatte durch die 1968er-Proteste bereits an Schwung gewonnen und seit dem Sommer 1971 dürfen „Gastarbeiter“ für Betriebsräte kandidieren. Der Spiegel betont am 29.11.1971: „Die ausländischen Arbeiter, die bei den Kampftaktikern der Gewerkschaft immer als zweifelhafte Streikgenossen galten, ließen sich zur allgemeinen Überraschung von den Drohungen der Unternehmen, sie würden „bei Übergriffen“ in die Heimat abgeschoben, nicht schrecken“. Streikversammlungen, so der Spiegel weiter, mussten in bis zu 25 Sprachen abgehalten werden. Und der Verfassungsschutz des Landes NRW hält für das Jahr 1971 fest: „Die Beteiligung der Gastarbeiter an den Arbeitsniederlegungen war auffallend groß. In manchen Betrieben stellten sie 80% der Streikenden“.

Diese 1971 beginnende Dynamik eskaliert 1973 in der bekannten Welle von “Ausländerstreiks”: In Mannheim sind es allein im Mai 1973 29 Betriebe, die „wild“ bestreikt werden, am längsten und mit der repressivsten Behandlung bei John Deere in Mannheim. Angesichts der hohen Fluktuation in der damaligen Metallbranche, insbesondere unter migrantischen Arbeiterinnen und Arbeitern, werden die 1973 Streikenden kaum bereits 1963 aktiv gewesen sein. Man sollte allerdings Tradierungen und Erzählungen, vor allem in sprachlich geprägten migrantischen Milieus, nicht unterschätzen: Die durchaus positiven Erfahrungen des Jahres 1963 könnten auch für die spektakuläre Streikwelle 1973 eine Rolle gespielt haben.

Von Torsten Bewernitz gibt es übrigens im Buch einen weiteren – lesenswerten – Beitrag: „Unsere Frauen kämpfen mit“. Warum überrascht das Engagement der Frauen die Gewerkschaftspresse 1963?

Quelle: labournet.de… vom 22. November 2019

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