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Die SPD und die GroKo

Eingereicht on 27. Dezember 2019 – 9:54

Hanns Graaf. Nach den jahrelangen Debatten über das Verhältnis der SPD zur Großen Koalition schien sich mit der Wahl der neuen Parteivorsitzenden eine Lösung anzubahnen. Doch wie so oft bei der SPD kam es wieder einmal ganz anders. Zwar hatte sich die monatelange Kandidatenkür v.a. um Verbleib oder Ausstieg aus der GroKo gedreht, doch mit der Wahl des neuen Führungsduos Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans ist nun alles genauso unklar wie zuvor.

Beide kandidierten mit der Ankündigung der Aufkündigung der GroKo und wurden v.a. deshalb (wenn auch nur mit knapper Mehrheit) gewählt. Aber schon ihre Statements während der Zeit der Kandidatenvorstellungen waren oft alles andere als klar – aber dieses Verschwurbelte sind wir von der SPD ja schon seit 100 Jahren gewöhnt.

Beim Parteitag, auf dem sie gewählt wurden, haben sie ihre Position zur GroKo noch einmal „erklärt“. Danach käme ein Ausstieg aus der GroKo nur infrage, wenn eine neute Debatte über das Regierungsprogramm anlässlich einer Halbzeitbilanz der GroKo nicht zur Zufriedenheit der SPD ausfiele. Gemeint war damit, dass die Union sich auf die SPD zubewegen müsse und der GroKo somit deutlicher ein sozialdemokratischer Stempel aufgedrückt würde.

Die Taktik ist klar: die politischen Hürden werden von der SPD höher gelegt und je nachdem, was für die SPD besser ist – oder sein könnte -, steigt man aus der GroKo aus oder auch nicht. Schon seit vielen Jahren zieht die SPD ein wahres Affentheater bezüglich der GroKo-Teilnahme ab. Den Höhepunkt an missglückter Taktik diesbezüglich lieferte die SPD ab, als sie unter ihrem damaligen Chef Martin Schulz verkündete, auf jeden Fall nicht mitzuregieren, um sich in der Opposition erneuern zu können. Nach dem Scheitern der Jamaika-Koalition trat man dann aber „aus Verantwortung für das Land“ doch wieder der GroKo bei.

Die Funktion der SPD

Dieses absurde und für die SPD desaströse Theater zeigt, dass sie schon lange weit davon entfernt ist, Interessenvertreterin der Lohnabhängigen zu sein und gegen den Kapitalismus zu kämpfen. Die sozialistische Zielstellung im Programm ist nicht das Papier wert, auf dem sie steht. Die gesamte Politik der SPD, darunter auch die permanenten Regierungsbeteiligungen auf allen Ebenen, beweist nur, dass sie die Interessen des deutschen Kapitals vertritt. Das ist der wahre Inhalt ihrer „Verantwortung für das Land“.

Der Reformismus der SPD hat allerdings – wie jede politische Strömung – auch eine gewisse Bandbreite. Sie kann damit einhergehen, bestimmte (kleinere) Verbesserungen zu erreichen, wie das auch derzeit der Fall ist (Mindestlohn, Rente); sie kann aber auch so aussehen, dass die SPD selbst zur Speerspitze von Angriffen gegen das Proletariat wird, wie das z.B. mit der Agenda-Politik der Fall war. Ihr Vorteil gegenüber anderen bürgerlichen Parteien und ihre spezifische Rolle für das Kapital liegt darin, dass sie organische Verbindungen zur Arbeiterklasse hat, v.a. über den Gewerkschaftsapparat und die Betriebsräte, und auf diese Weise die Arbeiterklasse und -bewegung ideell und strukturell beherrscht und ins System einbindet. Diesen strukturellen Zugriff haben weder CDU/CSU, noch die Grünen oder gar die FDP. Nur die LINKE kann das, aber nur im Osten, für sich reklamieren. Gerade in kritischen Situationen, wenn die Herrschaft der Bourgeoisie in Gefahr gerät, kann nur die SPD die Arbeiterklasse zurückhalten und ihre klassenkämpferische oder gar revolutionäre Dynamik bremsen. Die andere Notfall-Option – wenn die Sozialdemokratie dazu nicht mehr in der Lage ist oder scheint, die Wogen der Revolution in ruhige Gewässer zu leiten – ist der Faschismus.

Für die SPD und auch die LINKE war bisher also durchaus die Kategorie der „bürgerlichen Arbeiterpartei“ zutreffend. Damit ist gemeint, dass sie einerseits bürgerliche Politik in spezifischer Weise (Reformismus) betreibt, andererseits aber bezüglich ihrer sozialen Verankerung in der Arbeiterklasse bzw. in der Arbeiterbewegung und tw. ihrer Anhänger-, Wähler- und Mitgliedschaft aber Arbeiterparteien sind.

Die Regierungsfrage

Das Verhältnis zu einer Regierungsbeteiligung war schon immer eine zentrale Frage der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung überhaupt. Über 40 Jahre lang, von 1875 bis 1918, wurde mittels eines undemokratischen Wahlsystems jegliche Regierungsteilnahme der SPD verhindert. Erst im Zuge der Novemberrevolution 1918 konnte und sollte die SPD das wankende kapitalistische System retten, indem sie die Regierungsgeschäfte übernahm und die Arbeiterklasse vom Weg der Revolution abbrachte. Seitdem regiert die SPD, von den 12 Jahren Faschismus abgesehen, auf allen Ebenen mit.

Die Mehrheit der SPD vor 1914 und v.a. die Linken um Luxemburg vertraten die Ansicht, dass die SPD sich an Wahlen und am Parlamentarismus – allerdings in spezifischer Form! – beteiligen könne und müsse, jedoch nie Teil bürgerlicher Regierungen sein dürfe. Als bürgerliche Regierung wurden all jene Regierungen angesehen, die sich auf die Mechanismen der bürgerlichen Gesellschaft stützen und deren Grundlagen (Privateigentum, staatliches Gewaltmonopol usw.) verteidigen. Eine Regierungsbeteiligung wäre nur dann akzeptabel, wenn es sich um eine Arbeiterregierung handeln würde, d.h. um eine Regierung, die den Kapitalismus stürzen will und die sich auf die Strukturen und die Kampfkraft des Proletariats stützt.

Allerdings fehlte es der Sozialdemokratie der II. Internationale an genaueren Konzepten dafür. Insbesondere die Rolle von Massen- und Generalstreiks, des bewaffneten Aufstands, von Räten und selbstverwalteten, genossenschaftlichen Strukturen waren weitgehend unklar, tw. auch bei Luxemburg. Das erleichterte es den SPD-Rechten, 1918 ihr bürgerlich-parlamentarisches und konterrevolutionäres Modell umzusetzen.

Die rechteren Kräfte in der SPD verweisen nun darauf, dass nur mit Oppositionspolitik und ohne Regierungsmacht kaum etwas durchsetzbar ist. Zu recht! Nur ist ihre Folgerung falsch, sich deshalb an bürgerlichen Regierungen zu beteiligen. Alle Regierungsbeteiligungen haben gezeigt, dass die grundsätzlichen Probleme des Kapitalismus und deren Auswirkungen auf die Massen so nicht aufgehoben oder auch nur spürbar gemildert werden können. Im Gegenteil: die SPD als regierende Partei wird so selbst Teil des Problems und übernimmt Verantwortung für das System und dessen „Unfälle“. Die Fixierung auf Regierung und Parlamentarismus hat zudem den Nachteil, dass die Organisierung und die Ausprägung eines anti-kapitalistischen Klassenbewusstseins des Proletariats, seine Selbstorganisation und seine Fähigkeiten zum Klassenkampf unterminiert werden. Auch die kampflose Niederlage gegen den Faschismus 1933 war Ausdruck und Folge dieser Strategie.

Es gab historisch nach 1945 nur eine Phase in Deutschland – in den 1950ern und 1960ern -, wo es aufgrund des langen Nachkriegsbooms gelang, für die Arbeiterklasse etwas „herauszuholen“. Diesem „Erfolg“ des Reformismus im Sinne von etwas günstigeren Bedingungen für die Ware Arbeitskraft steht eine inzwischen lange Liste von Regierungen mit SPD-Beteiligung entgegen, die soziale Angriffe auf die Massen umgesetzt haben. Noch schwerer wiegt, dass die SPD in allen historischen Entscheidungssituationen versagt hat, d.h. die Chance zum Sturz des Kapitalismus nicht genutzt und kapituliert hat: 1914, 1918, 1933, 1945.

Die Diskussion um eine SPD-Regierungsbeteiligung abstrahiert von dieser historischen und theoretisch-programmatischen Dimension; sie findet in den Niederungen einer rein impressionistischen, v.a. tagespolitischen Überlegungen verpflichteten Sichtweise statt. Hier geht es nur um die GroKo als einer spezifischen Form einer bürgerlichen Regierung, nicht darum, ob eine Regierungsbeteiligung überhaupt sinnvoll oder erstrebenswert ist. Das steht im Gegenteil völlig außer Zweifel.

Die Agenda 2010

Die massenhafte Abwendung von proletarischen Mitgliedern und WählerInnen der SPD v.a. nach Einführung der Agenda 2010 durch Rot/Grün unter Schröder erfolgte nicht nur aus Enttäuschung darüber, dass die SPD ganz offenkundig die Interessen ihres proletarischen Klientels nicht mehr vertrat – das war man seit den 1970ern schon gewohnt, blieb der SPD aber trotzdem als dem vermeintlich „kleineren Übel“ gegenüber Union und FDP treu. Doch mit den Hartz-Gesetzen kam dann eine neue Qualität hinzu: die SPD wurde selbst zur Speerspitze neoliberaler Angriffe. Als Schröder (mit seinem „linken“ publikumswirksamen Pendant Lafontaine) 1998 gewählt wurde, versprachen sich die Massen ein Ende der Ära Kohl mit ihrem Sozialabbau und dem allgegenwärtigen Stillstand, oft als „Reformstau“ bezeichnet. Diesen aufzulösen – natürlich im Sinne neoliberaler Reformen – war auch die Intention des Kapitals. Schröders Agenda-Reformen waren dann genau das, was das deutsche Kapital wollte: eine Liberalisierung des Sozialsystems (Rente, Hartz IV usw.) auf Kosten der Lohnabhängigen, die Etablierung eines großen Niedriglohnsektors und die Senkung der Lohnkosten. Das alles sorgte mit dafür, dass Deutschland seine Wachstumskrise überwand.

Die Episode Schröder zeigt sehr anschaulich, wem die SPD verpflichtet ist: der deutschen Bourgeoisie. Nur wegen ihres politischen und strukturellen Zugriffs auf die Arbeiterklasse war sie in der Lage, einen derart massiven Angriff auf die Massen vorzutragen und den Widerstand dagegen (gewerkschaftliche Massenproteste, Montagsdemos) zu kanalisieren. Auch diese Grundfragen der Strategie der SPD-Politik bleiben in der GroKo-Debatte völlig außen vor.

Die Wahl des neuen Führungsduos wird – nicht ganz zu Unrecht – als Linksschwenk interpretiert. Doch er wird nichts daran ändern, dass die SPD weiter dahin dümpelt. Auch wenn die von der SPD enttäuschten WählerInnen aus dem Milieu der Lohnabhängigen ihre Abwendung sicher nicht bewusst theoretisch-historisch begründen, so merken sie doch „instinktiv“ und sozial oft sehr konkret, dass sie von der SPD nichts mehr zu erwarten haben. Dabei spielt auch eine Rolle, dass jedes Bewusstsein einer System-Alternative und von Klassenkampf von der SPD selbst zugunsten von Neoliberalismus, Standortdenken, Nationalismus und bürokratischer Stellvertreterpolitik zurückgedrängt worden ist. Der lange Abwärtstrend der SPD ist Ausdruck der Unmöglichkeit, relevante Verbesserungen im Kapitalismus oder gar den Übergang zum Sozialismus im Rahmen der Spielregeln des Systems erreichen zu können.

Die Schwäche der SPD – und damit allgemein des Reformismus – ist jedoch kein Schaden. Im Gegenteil: jede(r) AntikapitalistIn, jede(r) klassenbewusste ArbeiterIn kann sich darüber freuen, wenn die wichtigste bürgerliche Bastion in der Arbeiterklasse schrumpft. Doch das allein ist kein Ausweg, v.a. nicht, wenn andere bürgerliche Kräfte, v.a. die Grünen und die AfD, davon profitieren. Eine Alternative kann nur dadurch entstehen, dass eine revolutionär-antikapitalistische Arbeiterpartei aufgebaut wird, die aus den Erfahrungen von 150 Jahren proletarischem Klassenkampf und sozialistischer Bewegung lernt und eine den heutigen Verhältnissen entsprechende Konzeption erarbeitet.

Alternativen zur SPD

Ansätze eines Loslösungsprozesses von der SPD (und tw. vom Reformismus) gab es nicht nur nach 1914 mit der Entstehung von USPD und KPD. Ein solcher Ansatz war 2005 auch die „Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG). Diese Chance wurde aber von den reformistischen InitiatorInnen und FührerInnen in den Bahnen des Reformismus gehalten und in die PDS überführt, die sich seitdem Die Linke nennt. Diese Politik wurde mehr oder weniger auch vom Gros der radikalen Linken in der WASG mitgetragen, v.a. von Linksruck (heute Marx 21) und der SAV. Aktuell ist die Bewegung „Aufstehen“ – bei all ihren Problemen und der ebenfalls reformistischen Grundlage – ein Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem Reformismus und der Suche nach einer Alternative. Doch anstatt diesen Ansatz zu unterstützen und weiter zu treiben, glänzt die radikale Linke diesmal komplett durch Abwesenheit. Und nicht nur das: Gerade jene Linken, die schon in der WASG versagt haben und in der LINKEN alles andere als revolutionäre Oppositionspolitik betreiben, kolportieren nun, dass Aufstehen „rechts“ wäre, die LINKE spalten wolle u.ä. Unsinn.

Diese Haltung der gesamten „radikalen“ Linken zeigt, dass gerade jener Faktor, der als Katalysator wirken müsste, wenn es Absetzbewegungen vom Reformismus gibt, politisch unbrauchbar ist. Derzeit fehlt es sicher daran, dass sich der Berg – die Arbeiterklasse – zum Propheten bewegt, doch von einem Propheten – einer fähigen radikalen Linken – ist schon gar nichts zu sehen. Die radikale Linke erinnert eher an Justizia, die mit verbundenen Augen den grünen Klima-Obskuranten hinterher rennt und mindestens billigend in Kauf nimmt, dass die Massen immer mehr abgezockt werden für unsinnige und unwirksame Klimaschutzmaßnahmen. Diese Linken sind näher bei Greta als bei Marx. Statt den Kapitalismus bekämpfen sie Dieselautos, CO2 und Kraftwerke. Nun wohl: Jeder grabe sein eigenes Grab und glaube an die Wiederauferstehung …

Aus der Krise der SPD und der Stagnation der Linkspartei ergibt sich eigentlich fast von selbst die strategische Hauptaufgabe für Linke und AntikapitalistInnen: eine klassenkämpferische, revolutionäre Arbeiterpartei als Alternative zu SPD und Linkspartei (und die DGB-Bürokratie) aufzubauen! Schauen wir uns jedoch die Politik der gesamten radikalen linken Szene an, so werden wir in dieser Hinsicht kaum etwas finden, was dieser Aufgabe gerecht wird. Daher ist die grundsätzliche politische und organisatorische Erneuerung der radikalen Linken die zentrale Aufgabe der Stunde und eine – wenn auch nicht die einzige – Vorbedingung für die Schaffung einer neuen KPD!

Quelle: aufruhrgebiet.de… vom 27. Dezember 2019

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