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Frankreich: Die einzig mögliche Antwort erst am 31. März?

Eingereicht on 2. März 2020 – 15:47

Bernard Schmid. Die Regierung unter Präsident Macron bricht die Parlamentsdebatte unter Rückgriff auf einen dafür bereit stehenden Verfassungsartikel ab, um den Oppositionsfraktionen auf der Linken das Wort abzudrehen – Unmut nimmt zu, doch kristallisiert sich bislang in geringem Umfang in Aktivitäten – Am Protest teilnehmende Gewerkschaften sprechen sich für einen Streiktag am… 31. März aus (Gute Nacht!) – Eine überzeugende Kampfdynamik ist nur schwer zu erkennen, die Energie scheint tatsächlich weggebrochen zu sein. In der Hoffnung, dass sich das irgendwie ändert…

Am 14. Februar 20 zeigten wir an dieser Stelle (vgl.: labournet.de…) Möglichkeiten zum Wiederaufflammen des sozialen Protests gegen die geplante Konterreform im Bereich des Rentensystems in Frankreich auf. Zum heutigen Tage erfüllten sich die dort zum Ausdruck gebrachten Hoffnungen jedoch leider nicht wirklich, es kam nicht zu einem Neubeginn dynamischer Proteste, die ein Kräfteverhältnis hätten aufbauen können. Nachdem die Regierung unter Präsident Emmanuel Macron und Premierminister Edouard Philippe nun jedoch am Wochenende des 29. Februar/1. März die Arbeit an der Konterreform in ein neues Stadium trieb, ist die Frage nochmals neu aufgeworfen.

In den Tagen ab dem Montag, den 17. Februar 20, dem Beginn der Debatte in der französischen Nationalversammlung, verlagerte sich die Auseinandersetzung zunächst weitestgehend in den parlamentarischen Bereich: Die Linksfraktionen der Wahlplattform LFI („Das unbeugesame Frankreich“) unter Jean-Luc Mélenchon und der französischen KP übten sich in einer Blockadepolitik und stellten insgesamt rund 41.000 Änderungsanträge. Anträge von denen ein Teil darauf abzielte, hier ein Wort auszutauschen und dort einen Begriff durch sein Synonym zu ersetzen – es handelte sich um klassische Hinhalte-, zeitlich befristete Blockade und „parlamentarische Guerilla“taktik.

Die Regierung kündigte daraufhin zunächst leise und dann immer lautstärker an, man werde auf den Verfassungsartikel 49-3 zurückgreifen, welcher es ihr gestattet, die Aussprache im Parlament abzubrechen, indem sie die Vertrauensfrage aufwirft, und (sofern das Parlament ihr nicht das Misstrauen ausspricht) einen Gesetzentwurf ohne Abstimmung zu Sachfragen für „verabschiedet“ zu erklären. Auch in der Öffentlichkeit, wo die Leitmedien die „parlamentarische Blockadesituation“ über Tage hinweg ständig in Szene setzten, wurde der Boden dafür bereitet.

Dieses autoritäre Mittel ist in der Verfassung der Fünften Republik ausdrücklich vorgesehen, wobei der in manchen deutschen Medien auftauchende Begriff „Notverordnung“ (welcher an Paul von Hindenburg und die Weimarer Reichsverfassung erinnern soll) in der Sache unsinnig ist; ebenso wie kraftmeierisch klingende Begriff vom Stil „Notstandsparagraph“. (Vgl. labournet.de…) Letzter ist bereits deswegen inhaltlich unangebracht, weil ein Notstand erhebliche Eingriffe ins gesellschaftliche Alltagsleben der Bürger/innen und Lohnabhängigen bedeutet; im vorliegenden Falle betrifft der Eingriff, um den es geht, jedoch auf unmittelbare Weise zunächst nur die Rechte des Parlaments. Auch handelt es sich nicht um eine „Notverordnung“ (das hieße: eine am Parlament vorbei oder gegen den ausdrücklichen Willen des Parlaments angenommene Exekutiv-Verordnung), da im vorliegenden Falle die Parlamentsmehrheit – bestehend aus der Macron-Partei LREM sowie der kleineren, mit ihr verbündeten Mitte-Rechts-Partei MoDem – ja durchaus mitspielt, anders als bspw. die Mehrheit im Reichstag 1930, nach dem Koalitionsbruch und dem Auszug der SPD aus der Brüning-Regierung.

Allerdings ist der Verf.artikel 49-3 in der Absicht seiner Erfinder – die Verfassung der Fünften Republik stammt von 1958, aus dem Jahr der Rückkehr v. Charles de Gaulle an die politische Macht – dafür bestimmt worden, eine zerfasernde, in sich uneinige Parlamentsmehrheit zur Fahne („ihrer“ Regierung“) zu zwingen; und nicht dazu, Oppositionsfraktionen vorübergehend mundtot zu machen. Insofern wirft der jetzige Rückgriff auf Artikel 49-3 durchaus ein erhebliches demokratisches Legitimitätsproblem auf, auch wenn Teile der öffentlichen Meinung ausführlich darauf vorbereitet worden waren.

Nichtsdestotrotz zögerte das Regierungslager zunächst noch, diese Methode einzusetzen, da ein solches Abwürgen der Parlamentsdebatte –– in der Öffentlichkeit nicht sonderlich gut ankommt. Die Regierungspartei LREM rechnet sich insbesondere negative Auswirkungen bei den Kommunalwahlen vom 15. und 22. März d.J. aus, welche sie allerdings mutmaßlich ohnehin abschreiben kann, auch aufgrund mangelnder lokaler Verankerung der erst 2016 gegründeten Retortenpartei LREM.

„Tag X“ tritt ein

Am Nachmittag des Samstages, 29. Februar 2020 gegen 17 Uhr wurde bekannt, dass die Regierung nunmehr den oben zitierten Artikel 49-3 tatsächlich zückte. Die parlamentarische Aussprache zur Renten„reform“ ist damit, jedenfalls in erster Lesung, abgeschlossen (auch wenn noch ein Zusatzgesetz zur Gründung neuer Institutionen zur Rentenpolitik verabschiedet werden muss, für welches die Regierung den Artikel 49-3 nicht mehr einsetzen darf, da seine Benutzung nur einmal pro Sitzungsjahr rechtlich zulässig ist). Sofort ging die Meldung über diverse Telefone, per SMS und Whatsapp-Nachricht, nachdem oppositionelle Gruppen seit Tagen zu „Tag X-Protesten“ für den Zeitpunkt des (in der Öffentlichkeit allgemein erwarteten) Einsatzes von Verfassungsartikel 49-3 aufriefen und sich dafür warmliefen.

Am Abend dieses 29. Februar d.J. versammelten sich – das findet buchstäblich nur alle Schaltjahre statt, allerdings rein datumsmäßig –, je nach Uhrzeit, rund 400 bis 600 Menschen vor dem Parlamentsgebäude bzw. auf der Brücke, die die Pariser place de la Concorde mit der Nationalversammlung verbindet, und standen sich zwischen massiven Polizeikontingenten in der Kälte die Beine in den Bauch. Der Verf. dieser Zeilen war, jedenfalls zeitweilig, vor Ort mit dabei.

Das Ergebnis darf nicht als Mobilisierungserfolg gelten (wenn auch unter widrigen Bedingungen: Die Ankündigung erfolgte am Spätnachmittag an einem Wochenende, zu einem weitgehend unerwarteten Zeitpunkt, da die am Nachmittag anberaumte Kabinettssitzung offiziell die Bekämpfung des Coronavirus zum Gegenstand hatte). Aus dem Sozialprotest scheint derzeit real die Luft ‘raus, von einer unwiderstehlichen Dynamik kann derzeit jedenfalls keine Rede sein.

Nunmehr machen Aufrufe die Runde, nachdem die Regierung relativ überraschend den Vorwand der Bekämpfung der Corona-Viruskrankheit für das Durchdrücken der Renten„reform“ nutzte, solle man sich ab dem heutigen Montag  (in der Konsequenz) eben massiv krank melden. Dies wirkt jedoch eher hilflos – wird eine solche Kampagne nicht konsequent kollektiv längerfristig organisiert, sondern hängt Alles nur von individuellen Initiativen ab, wird sie kaum massiven Druck entfalten – und kann nicht verbergen, dass bei dem Thema derzeit eine Niederlage zu verzeichnen ist. Dadurch wird die Renten„reform“ nicht populärer (eine stabile Umfragemehrheit ist, jedenfalls in ihrer derzeitigen Form, dagegen), und die Regierungspartei LREM dürfte bei den Kommunalwahlen im laufenden Monat März 2020 eine Quittung dafür erhalten. Doch ein Sieg im Klassenkampf ist es ebenfalls nicht, keinesfalls.

Weitere Protestaktivitäten fanden im Laufe des Sonntages, 1. März statt. Um 11 Uhr etwa waren die Protestierenden dazu aufgerufen, sich überall vor den Rathäusern einzufinden. Vor dem Bezirksrathaus im 18. Pariser Arrondissement wurden es… ganze acht Personen. Doch so viele! Am Nachmittag um 17.30 Uhr nahmen hingegen rund 200 bis 300 Menschen, darunter viele prominente Aktivist/inn/en, in dieses Mal ausnehmend guter Stimmung trotz Wind & Regens an einem Spektakel mit protestierenden Kulturschaffenden an der altehrwürdigen Comédié française statt. Eine gute Sache, doch auch dies wird nicht ausreichen, um die Regierung irgendwie zu beeindrucken.

Im Laufe des gestrigen Sonntages wurde bekannt, dass mehrere Gewerkschaften sich am heutigen Montag treffen würden, um über das weitere Vorgehen zu beraten.

Die im Laufe der Monate Dezember 19, Januar (und Februar 20) am Sozialprotest teilnehmenden Gewerkschaften und Gewerkschaftsverbände wie CGT, Solidaires und FO riefen ursprünglich – bereits seitmehreren Tagen – zu einem nächsten „Aktionstag“ mit Protesten und Streiks erst wieder am 31. März (!) dieses Jahres auf. Der letzte fand am 20. Februar 20, ohne größeren Widerhall oder Mobilisierungserfolg. Doch nunmehr, nach der relativ plötzlich kommenden Ankündigung vom Samstagnachmittag (29.02.20) zum Abbruch der Parlamentsdebatte zwecks Durchdrückens der Renten„reform“, wollten die beteiligten Gewerkschaften an diesem Montag, den 02. März 20 zusammentreten. Dazu kündigte CGT-Chef Philippe Martinez am Sonntag früh (1. März) an, Aktionen, d.h. Proteste „bereits in der kommenden Woche“ seien zu diskutieren, eine AFP-Meldung vom Sonntag früh erklärt eine neue Protestmobilisierung im Laufe der Woche folglich für „möglich“ (vgl. lefigaro.fr…).

Und hier nun das Ergebnis: Es bleibt letztendlich bei einem Datum für einen nächsten Aufruf zum (24stündigen) Streiken am 31. März dieses Jahres. Hinzu kommt nun jedoch in der gemeinsamen Presseerklärung der betreffenden Gewerkschaften noch ein Aufruf zu dezentralen Demonstrationen vor den Präfekturen und Unterpräfekturen (eine Art Regierungspräsidien in den französischen Départements) am morgigen Dienstag, den 03. März, „den Rückgriff auf das Streikrecht inbegriffen“, was faktisch eine punktuelle Kann-Formulierung bedeutet. Ganz nett so weit, ja, doch Emmanuel Macron dürfte kaum mit vor Furcht schlotternden Knien im Elyséepalast hocken. (Vgl. zur gemeinsamen Presseerklärung, unteres Dokument; das obere ist eine Erklärung der CGT, welches seinerseits doch klarer zum Streiken auch am Dienstag, den 03.03.20 aufruft: cgtservicespublics.fr… und cgt.fr…)

Abzuwarten bleibt, ob dabei noch einmal eine echte und ernsthafte Dynamik möglich wird, nachdem diese in den zurückliegenden Tagen ausblieb. Im Augenblick sieht es jedoch nicht wirklich danach aus.

Artikel von Bernard Schmid vom 2.3.2020 – wir danken!

Siehe auch unseren Überblick vom 1.3.2020: Gegenreform der Rentenversicherung ohne französisches Parlament: Der „kleine Putsch“ des Herrn Macron mobilisiert weiteren Widerstand

Quelle: labournet.de… vom 2. März 2020

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