Die A-Karte gezogen: Die Beschäftigten des russischen Gesundheitswesens
„… Der Grund ist keineswegs nur das sich weiter rasant verbreitende Coronavirus. Vor allem scheinen die Russen unzufrieden damit zu sein, wie das „Zentrum“, also Kreml und Regierung, auf die wirtschaftlichen Folgen der Quarantäne reagieren. Arbeitsminister Anton Kotjakow meldet seit Anfang März einen Anstieg der Zahl der Arbeitslosen von etwa 500 000 auf mehr als 1,2 Millionen. Er schließt nicht aus, dass es bis zu sechs Millionen werden. Die unabhängige National Rating Agency aber schätzt, 15,5 Millionen könnten ihren Job verlieren. „In der Praxis bekommt jemand, der Ende März arbeitslos geworden ist, erst Ende Mai Unterstützung, muss also zwei Monate ohne Geld auskommen“, schimpft der Wirtschaftswissenschaftler Ruslan Grinberg. „Unsere Regierung sitzt wie ein geiziger Ritter auf der Truhe und wartet auf das Unglück, das schon längst eingetreten ist.“ Tatsächlich zeigt die Regierung in Russland sehr begrenzten Willen, ihren mit gut 150 Milliarden Euro gefüllten „Nationalen Wohlstandsfonds“ anzutasten, um die schon jetzt von der Pleite bedrohten sechs Millionen Kleinunternehmer sowie die privaten Haushalte zu unterstützen. Mit Helikoptergeld könnten nur die um sich werfen, die Reservewährungen druckten, sagte Finanzminister Anton Siluanow der Zeitung „Wedomosti“ etwas spitz. Viele Unternehmer protestieren lautstark, weil die Regierung ihre Finanzhilfe auf eine Liste von gut 500 „systemrelevanten“ Betrieben konzentrieren will; nach Einschätzung von Experten gehören etwa 30 Prozent davon Personen, die der politischen Führung nahestehen, weitere 30 Prozent sind Staatsunternehmen…“ – aus dem Beitrag „Wladimir Putin in Problemen – nicht nur wegen der Corona-Krise“ von Stefan Scholl am 14. Mai 2020 in der FR online über die allgemeinen wirtschaftspolitischen und sozialen Folgen der Epidemie in Russland. Siehe zur sozialen Lage in Russland – sowohl von Migranten, als auch von Gesundheitspersonal, aber auch von protestierenden Ölarbeitern, einige weitere aktuelle Beiträge, aus denen auch deutlich wird, warum der Herr Nawalny hierzulande so beliebt ist…
„Half a Million Migrants in Moscow Have Lost All Sources of Income“ von Sergey Vilkov am 12. Mai 2020 beim Russian Reader (in englischer Übersetzung) berichtet von der Situation der Arbeitsmigranten in Moskau – von denen eben nunmehr rund eine halbe Million Menschen ohne jedes Einkommen bleiben. Grundlage des Beitrags ist eine aktuelle soziologische Studie, die die Situation der rund 1,5 Millionen Migranten in Russlands Hauptstadt untersuchte – und auch Empfehlungen daraus ableitet (unter anderem, den Migranten irgendeine Art Unterstützung zu geben, um Unruhen zu vermeiden). Denn rund ein Drittel von allen ohne jede Unterstützung – das sei mehr als Doppelt so viele, wie es BürgerInnen Russlands betreffe (was dann ja aber auch immerhin rund jede oder jeder sechste ist).
„Russland: Lockerungen auf dem Höhepunkt der Corona-Krise“ von Juri Rescheto am 12. Mai 2020 bei der Deutschen Welle über die auch in Russland überraschenden „Lockerungen“: „… Die Lockerung der Schutzmaßnahmen ist in der Russischen Föderation Ländersache – genauso wie ihre Länge und Härte zuvor von den Gouverneuren einzelner Gebiete bestimmt wurde. Darauf hat Russlands Präsident Wladimir Putin gerade erst hingewiesen und damit die Bedeutung des Föderalismus in der russischen Innenpolitik unterstrichen. Grundsätzlich gilt jedoch: “Das Regime der arbeitsfreien Tage”, wie der Zustand des öffentlichen Lebens in Russland seit sechs Wochen offiziell heißt, ist seit diesem Dienstag zu Ende. Die Situation erlaube die allmähliche Abschaffung aller Einschränkungen, resümierte Putin in seiner Rede an die Nation. Das betreffe alle Wirtschaftszweige: Sämtliche Betriebe sollen künftig wieder funktionieren können, insbesondere in der Schwerindustrie, dem Bau, der Landwirtschaft, dem Transport- und dem Energiesektor. Menschen jenseits der 65 und Patienten aus den Risikogruppen müssten aber weiterhin zu Hause bleiben, erklärte der Präsident. In vielen russischen Regionen gilt nun eine Maskenpflicht an öffentlichen Orten. (…) Aus wirtschaftlicher Sicht ändere sich – zumindest in den Ballungsgebieten – nichts, stellt Sergej Zhaworonkow vom Gaidar-Institut für Wirtschaftspolitik im Interview mit der DW fest. Putin verlagere die Verantwortung auf die Gouverneure und die Gouverneure würden eher weitere Verschärfungen statt Lockerungen beschließen wollen. “Die einzige Änderung, die die Menschen wirklich interessieren würde, wäre die Öffnung der Non-Food-Geschäfte, die auch wichtig fürs Überleben sind. Das macht aber die russische Regierung leider nicht”, sagt Zhaworonkow. Nach wie vor haben nur Lebensmittelläden und Apotheken geöffnet. Dabei trage eine kleine Autowerkstatt weniger zur Ausbreitung des Virus bei als ein riesiger Supermarkt, meint Zhaworonkow. Er befürchtet “katastrophale Folgen” für die russische Wirtschaft…“
„Vorbei mit arbeitsfrei“ von Klaus Helge Donath am 11. Mai 2020 in der taz online zu einem gesellschaftlichen Sektor, bei dem die Unzufriedenheit wächst (taz-nahe): „… Für viele Moskauer kommt die Aufhebung der Beschränkungen recht unerwartet, dennoch dürften sie erleichtert sein. Nach anderthalb Monaten in sogenannter Selbstisolation ließen viele Bürger durchblicken, dass ihre Geduld langsam am Ende sei. Vor allem sind Selbständige betroffen, die kaum finanzielle Unterstützung für die arbeitsfreie Zeit erhielten. Vielen droht der Bankrott. Solche Überlegungen werden Putins Entscheidung zur Einleitung des Ausstiegs bewegt haben. Auch die Befürchtung, aufgebrachte Bürger könnten sich mit der Zeit gegen Vertreter der politischen Führung wenden. Denn von einem Ende der Pandemie oder einem Sinken der Infektionen könne keine Rede sein, meinte Michail Fischman vom privaten TV-Sender Doschd. Ab dem 12. Mai sind alle Bürger verpflichtet, in Geschäften und Verkehrsmitteln Handschuhe und Masken zu tragen. Verstöße werden mit 5.000 Rubel (umgerechnet 62,50 Euro) Strafe geahndet…“
„Russland: Operieren am Existenzminimum“ von Tatiana Kondratenko am 28. November 2019 bei der Deutschen Welle über die Arbeitsbedingungen an Krankenhäusern unter anderem: „… Viele ehemalige Kollegen von Alexej sind in Privatkliniken gewechselt oder arbeiten mittlerweile für Pharmakonzerne. “Diejenigen, die in den staatlichen Krankenhäusern geblieben sind, fahren Taxi, um sich was dazuzuverdienen”, sagt er. Rund zehn Prozent der Fachärzte kehren jedes Jahr dem russischen Gesundheitswesen den Rücken. Dadurch ist ein immenser Fachkräftemangel entstanden. Russlandweit fehlen rund 25.000 Mediziner. Beispielsweise gibt es im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen im hohen Norden Russlands 43.000 Einwohner, aber nur noch einen Onkologen. Russland gibt heute 3,7 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus. In Deutschland sind es 11,5 Prozent, in Belgien 10,5 und in den Niederlanden 9,9 Prozent. Nicht nur erfahrene Ärzte, auch junge Mediziner verlassen die staatlichen Krankenhäuser. Jelena und Jewgenij Tumasow (Namen v.d. Red. geändert) haben vor zwei Jahren ihr Studium in Sankt Petersburg abgeschlossen. Eigentlich wollte die junge Frau Sportärztin werden. Noch während ihres Studiums jobbte sie als Krankenschwester in einer städtischen Klinik. “Als Trainerin im Fitnessstudio habe ich mehr verdient”, erinnert sich Jelena. Zudem seien die Arbeitsbedingungen im Krankenhaus hart gewesen: Pausen gab es kaum, Überstunden dafür täglich. Jelena entschloss sich daher zu einer Fortbildung als Stylistin. Nun macht sie ihre ersten Schritte in einer Branche, die nichts mit Medizin zu tun hat. Auch Ehemann Jewgenij kehrte nach erfolgreicher Ausbildung zum Chirurgen der Medizin den Rücken – nach insgesamt 13 Jahren. (…) Im August streikten alle Unfallärzte des Krankenhauses der Region Wladimir und in Nischni Tagil verließen alle Chirurgen die städtische Klinik. “Die Menschen sind seit Jahren überarbeitet. Bei ihnen brennen die Sicherungen durch”, sagt Andrej Konowal von der Mediziner-Gewerkschaft “Dejstwije”. Dabei sollten bis 2018 die Arztgehälter in staatlichen Einrichtungen verdoppelt und in einigen Regionen sogar verdreifacht werden. Das hatte Präsident Putin bereits 2012 in mehreren präsidentiellen Dekreten zugesichert. Geschehen ist jedoch nichts. Offiziellen russischen Statistiken zufolge verdient ein Arzt in Russland im Durchschnitt 79.000 Rubel (ca. 1120 Euro) pro Monat. Doch viele Ärzte sehen diese Angaben kritisch. Denn in die Berechnung der russischen Statistikbehörde fließen auch die Gehälter der Krankenhausmanager ein, die um ein Vielfaches höher sind als die der normalen Ärzte. Laut einer Umfrage, die von Mediziner-Gewerkschaften durchgeführt wurde, liegt das tatsächliche durchschnittliche Gehalt eines Arztes bei 42.000 Rubel (rund 600 Euro). Selbst Kurierfahrer verdienen in Russland mehr…“
„Corona-Krise in Russland: Liberale und Linke stellen Forderungen“ von Ulrich Heyden am14. Mai 2020 bei telepolis – worin auch deutlich wird, warum ein Herr Nawalny bei bundesdeutschen Medien so beliebt ist: „… Soziale Fragen spielen bei den russischen Liberalen – und vor allem dessen starken rechten Flügel – traditionell eine untergeordnete Rolle. Doch die steigende Arbeitslosigkeit und Armut, die auch die Mittelschicht trifft, zwingt die Liberalen, Stellung zu nehmen. Nur mit Anti-Putin-Parolen kommt man in einer sozial angespannten Situation nicht weiter. Ljubow Sobol, die als juristische Beraterin des Oppositionspolitikers Aleksej Nawalni bekannt wurde und im Sommer letzten Jahres während der Proteste zu den Moskauer Wahlen mehrmals in Haft saß, forderte 20.000 Rubel (250 Euro) Soforthilfe für jeden Erwachsenen. Das Argument von Sobol: Die Kühlschränke der Russen seien leer. 60 Prozent der Menschen hätten nichts Erspartes. Die Fernseh-Moderatorin Ksenia Sobtschak entgegnete Sobol, die Forderung von “250 Euro für Alle” sei “bolschewistisch”. Wozu brauche Igor Setschin, Chef des halbstaatlichen Ölkonzern Rosneft, 250 Euro?, frotzelte Sobtschak. Sie sei auch für soziale Hilfen, aber nur für “die wirklich Bedürftige” wie “Studenten, Mütter und Freiberufler”. Vom populistischen Gießkannen-Prinzip halte sie nichts. Die Mitarbeiterin im Stab von Aleksej Navalny, Ljubow Sobol, keilte zurück, Sobtschak mache nichts anderes als Putin. Sie zwinge die Menschen sich dem bürokratischen System zu unterwerfen, Anträge auf Hilfe einzureichen und dann lange auf soziale Unterstützung zu warten. 250 Euro für jeden, das sein kein Populismus, sondern reale Hilfe für Menschen, deren Kühlschrank leer ist. Aber die einfachen Menschen interessierten Ksenia Sobtschak im Grunde ja gar nicht. Die Fernseh-Moderatorin Sobtschak interessiere nur das Krabbengeschäft ihrer Mutter im russischen Fernen Osten, sagte Sobol. Für dieses Geschäft fordere Sobtschak staatliche Unterstützung. (…) Der linke Soziologe Boris Kagarlitsky berichtet auf seinem Video-Kanal “Rabkor”, dass Studenten in Studentinnen in Moskau und St. Petersburg zum Einsatz in Infektionskrankenhäusern mobilisiert werden. Der Einsatz sei aber nicht freiwillig, wie versprochen. Wer nicht mitmache, dem drohe man mit der Verweigerung weiterer Krankenhaus-Praktika. Auch würden den Studenten, damit sie ihre Familienmitglieder nicht gefährden, während ihres Einsatzes keine Extra-Wohnungen zugeteilt. Kagarlitsky kritisiert, dass es für den Einsatz der Medizinstudenten keine rechtliche Grundlage gibt. In Russland sei kein Notstand ausgerufen worden, weshalb die Studenten auf rechtlicher Ebene schlechtere Chancen hätten, ihre sozialen Forderungen hinsichtlich eines Corona-Einsatzes durchzusetzen. Trotzdem hätten sie sich jetzt organisiert und ein Manifest verfasst, berichtet der Soziologe. Das Massenblatt “Moskowski Komsomolez” berichtete, Medizinstudenten würden je nach Einsatzgebiet in einem Corona-Krankenhaus 870 bis 2.200 Euro verdienen. Trotz dieser ansehnlichen Summe würden sich die Studenten im Internet darüber beschweren, dass man sie zur Arbeit zwinge. Es werde sogar gedroht, Arbeitsverweigerer von der Liste der Studierenden zu streichen. Die Studenten seien bereit in die Corona-Krankenhäuser zu gehen, schreibt das Blatt. Sie forderten aber bessere Schutzmaßnahmen und die Garantie, dass jemand die Kosten übernimmt, wenn der Praktikant sich infiziert. Die staatlichen Verwaltungen hätten Entschädigungsansprüche von Studenten mit dem Hinweis bestritten, die betreffende Person habe im Krankenhaus keinen direkten Kontakt mit Infizierten gehabt. Doch die Studenten sagen, infizieren könne man sich überall im Krankenhaus, nicht nur im direkten Kontakt mit den Erkrankten…“
„Ölarbeiter fordern Schutzmaßnahmen“ am 06. Mai 2020 bei den Rote Fahne News meldet: „Am Montag demonstrierten hunderte Ölarbeiter des Gazprom-Konzerns gegen die Arbeits- und Gesundheitsbedingungen und die Verpflegung auf dem Oilfeld Chayandinsky in der sibirischen Republik Sacha (Yakutien). “Wo sind die Masken?“ „Wo ist die Quarantäne?“ ’Wir sind doch keine Schweine!“ riefen sie. Mit Holzstämmen blockierten sie die Straße zur nächsten Stadt und weigerten sich, diese wieder zu öffnen, bevor ihre Forderungen erfüllt sind. Sie werden seit Wochen wie Gefangene behandelt ohne Information über die Corona-Infektionen und ohne Trennung der Infizierten von den Gesunden. Auf dem Ölfeld arbeiten 10.500 Menschen“.
„Russia. Gazprom Pipeline Workers Protest Conditions Amid Coronavirus Outbreak“ am 29. April 2020 im Twitter-Kanal von Conseils Ouvriers ist ein kurzer Videobericht vom Protest der sibirischen Ölarbeiter. Im anschließenden Thread gibt es noch weitere, konkretere Informationen über ihre Situation und ihre Forderungen.
• Siehe zuletzt am 29. April 2020: Der Epidemie-Ausnahmezustand in Russland: Alle Formen der Überwachung auch hier massiv verstärkt. Die Ausstattung der Krankenhäuser: Nicht
Quelle: labournet.de… vom 15. Mai 2020
Tags: Arbeitswelt, Covid-19, Gesundheitswesen, Gewerkschaften, Russland, Widerstand
Neueste Kommentare