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Iran: Klassenkampf und neoliberales Akkumulationsregime

Eingereicht on 28. Februar 2019 – 18:28

Minna Langeberg. In den letzten Monaten kam es in ganz Iran zu Protesten von Lehrern und Lehrerinnen, Krankenschwestern, Arbeitern und Arbeiterinnen, Rentnern, Ölindustriearbeitern, Basarhändlern und Ladenbesitzerinnen, LKW-Fahrern, Landwirten, Arbeitslosen, Studentinnen und Studenten und vielen mehr.

Die aktuelle Welle der Proteste im ganzen Land ist eine Fortsetzung derjenigen vom Dezember 2017 bis Januar 2018, die vom Regime brutal niedergeschlagen wurden. Wie die Proteste 2017-18 signalisieren sie die tiefe Krise der Legitimität des Regimes, wie sie in einem der dauerhaftesten Slogans zum Ausdruck kommt, die aus diesen Protesten hervorgegangen sind: «Fundamentalisten, Reformisten, das Spiel ist vorbei». Das Hauptmotto der aktuellen Proteste lautet «Brot. Arbeit. Freiheit».

Diese Proteste sind sporadisch, selbstorganisiert, fragmentiert und im Allgemeinen klein – aber mehr oder weniger kontinuierlich. Es handelt sich um basisdemokratische Aktionen gegen die derzeitige Situation im Iran, die einen Siedepunkt erreicht hat. Dies sind Proteste der Arbeiterklasse, der Frauen, der Armen, der Arbeitslosen, der Marginalisierten, der Unterklasse und der «überzähligen Bevölkerung», die in der kapitalistischen Lohnarbeit keinen Platz finden.

Bei diesen Protesten geht es um Hungerlöhne, sklavereiähnliche Arbeitsbedingungen, Armut und Hunger, Arbeitslosigkeit, Inflation, Währungsabwertung, zusammengebrochene betrügerische Finanzsysteme, die die Ersparnisse der Rentner aufgefressen haben und um systematische Korruption auf allen Ebenen von Regierung und Gesellschaft. Im Gegensatz zu dem, was oft gesagt wurde, geht es bei diesen Protesten jedoch nicht nur um wirtschaftliche Bedingungen, sondern um fast jeden Aspekt des Lebens im Iran. Und obwohl die US-Sanktionen die Wirtschaftslage verschlechtert haben, sind sie nicht die Ursache dafür: Die Ursache ist ein religiöses faschistisches Regime, das sich einer tiefen Legitimitätskrise gegenübersieht.

Die Krise, um Gramsci zu zitieren, «…besteht gerade darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann; in diesem Interregnum treten eine Vielzahl von krankhaften Symptomen auf.» Oder anders ausgedrückt, der Iran befindet sich in einer «revolutionären Situation», wie von Lenin beschrieben, in der die «Oben» nicht mehr regieren können und die «Unten» nicht mehr auf die alte Weise regiert werden wollen. Das Regime, das sich in einer tiefen Krise an allen Fronten – wirtschaftlich, sozial, politisch, kulturell, international – befindet, kann weder weiterhin durch «hegemoniale» Zustimmung regieren, noch kann es weiterhin auf unbestimmte Zeit schiere Repression ausüben. Dies ist eine Zeit der Monster.

Im Folgenden möchte ich kurz auf den aktuellen Kontext dieser Proteste eingehen.

Neoliberale Kapitalakkumulation

Unter den wachsamen Augen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) wurden neoliberale Politiken der «Strukturanpassung» von verschiedenen Regierungen seit dem Ende des Iran-Irak-Krieges (1980-1988) durchgezogen. Die Politik der Privatisierung und Deregulierung des Arbeitsmarktes in den letzten drei Jahrzehnten hat katastrophale Folgen gehabt: Arbeitslosigkeit, eine riesige Reservearmee von Arbeitskräften, eine Unterschicht und die Working Poor, Wachstum von Barackensiedlungen und Schließung von Fabriken und Einknicken der Industrieproduktion. Im Ergebnis kam es insgesamt zu einer Sozialisierung der Armut.

Die iranische Wirtschaft befindet sich derzeit in einer Rezession aufgrund tiefer struktureller Probleme, die nur politisch angegangen werden können.

Aufgrund der Art der statistischen Daten ist es sehr schwierig, das genaue Ausmaß dieser strukturellen Krise auszumachen. Die Regierung betrachtet die Veröffentlichung von Wirtschafts- und Sozialdaten als politischen Akt; Daten werden entweder unterdrückt und zurückgehalten oder für den öffentlichen Gebrauch stark manipuliert. Was das Problem noch verschärft, ist die Existenz paralleler Regierungsorganisationen und -agenturen, die ihre eigenen Daten produzieren, die sich gegenseitig und manchmal auch selbst widersprechen.

Wir können jedoch einige Informationen zur Verfügung stellen. In einem Bericht vom November 2018 prognostizierte der IWF, dass die Inflationsrate des Iran bis zum Jahresende auf 40% steigen und sich die wirtschaftliche Rezession bis 2019 zu einem Wirtschaftsrückgang von 3,6% vertiefen würde, teilweise unterstützt durch die US-Sanktionen, die Abwertung der Währung sowie Rückgänge bei der Ölproduktion und den Exporten. Diese Inflationsrate ist möglicherweise eine Unterschätzung; einige Ökonomen schätzen die Inflationsrate auf 100%.

Die Inflationsrate des IWF unterscheidet sich stark von der offiziellen Inflationsrate. Die offizielle Inflationsrate wird sowohl vom Statistischen Zentrum des Iran (SCI) als auch von der Zentralbank (CB) ermittelt. Demnach lag die Inflationsrate für den 12-Monatszeitraum bis zum 21. Dezember 2018 bei 18%. Aber die jüngsten Inflationsraten der Zentralbank widersprechen dem SCI-Zins und sind viel höher und genauer – 25% für den Zeitraum von 12 Monaten bis Dezember 2018. Es gibt Berichte, dass die CB von der Regierung unter Druck gesetzt wurde, ihre Daten nicht zu veröffentlichen.

Im Iran gibt es ein System des nationalen Mindestlohns, das vom Obersten Arbeitsrat im Ministerium für Arbeit und Soziales festgelegt wird, der sich aus dem Arbeitsminister, Unternehmervertretern, Lohnabhängigenvertretern (vom Rat selbst gewählt) und einer Reihe von Experten für Wirtschaft und Soziales zusammensetzt. Der nationale Mindestlohn wird jährlich überprüft.

Berichten zufolge ist dieser Mindestlohn im Vergleich zu Inflationsrate und Lebenshaltungskosten so niedrig, dass er nur etwa 30 % der Lebenshaltungskosten eines Arbeiters und seiner Familie decken kann. Mit anderen Worten, die Arbeitskraft kann sich kaum selbst reproduzieren. Darüber hinaus sind Verstöße gegen die Mindestlohnzahlungen viel zu häufig, aber die Arbeitslosigkeit ist so hoch, die Größe der Reservearmee der Arbeitskräfte so groß, die Verhandlungsmacht der Lohnabhängigen so schwach und die Korruption so tief verankert, dass keine Chance besteht, das Gesetz ernsthaft durchzusetzen.

Es ist nun geplant, auch diesen extrem niedrigen und kaum durchsetzbaren Mindestlohn abzubauen. Einige der bisher vorgeschlagenen Deregulierungsmaßnahmen sind das «Floaten» des Mindestlohns, die Einführung eines «vielschichtigen» Mindestlohns, eines «regionalen» Mindestlohns oder eines «einvernehmlichen» Lohns sowie der Ausschluss von weiblichen Haushaltsvorständen und ländlichen Lohnabhängigen vom Mindestlohn und arbeitsrechtlichen Schutz, alles im Interesse der «Flexibilität», der Verbesserung der sinkenden Kapitalprofitrate und der Senkung der Arbeitslosenquote. Diese Vorschläge wurden von verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse, Mitgliedern des Parlaments, Beamten des Arbeitsministeriums, einigen «Wohltätigkeitsorganisationen» und vorgeblilchen, von der Regierung kontrollierten «Islamischen Arbeitsräte» befürwortet. Viele der Arbeiter und Arbeiterinnen, deren Bedingungen weiter dereguliert werden sollen, haben bereits einen Hungerlohn.

Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei über 12 %, aber in Wirklichkeit ist sie mehr als doppelt so hoch, vielleicht zwischen 25-30 %. In einigen Städten und Regionen sind 60% der Bevölkerung arbeitslos. Realistisch betrachtet, wenn alle anderen Kategorien wie «erwerbslose Bevölkerung» im erwerbsfähigen Alter, Unterbeschäftigung in Form von Teilzeitarbeit und prekärer Arbeit (beide sehr weit verbreitet), Heimarbeit und «informelle Wirtschaft» berücksichtigt würden, würden wir auf eine viel höhere Arbeitslosenquote kommen. Da jedoch keine Daten zu diesen Kategorien erhoben werden, ist eine Arbeitslosenquote, die mehr als doppelt so hoch ist wie die offizielle, nur eine «akademische» Vermutung.

Offiziell liegt die Gesamtzahl der Arbeitskräfte bei knapp 27 Millionen, von denen über 3 Millionen offiziell arbeitslos sind. Zwischen 40 und 42 Millionen der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sind «wirtschaftlich inaktiv». Einige sind Studenten und Studentinnen, aber eine große Zahl besteht aus «entmutigten Arbeitssuchenden», die mit einem schwachen Bezug zum Arbeitsmarkt, von zuhause aus arbeiten und in den informellen Sektor integriert sind. Offiziell ist informelle Arbeit eine Arbeit, die nicht durch das Arbeitsrecht und die Sozialversicherungsbestimmungen geschützt ist. Es gibt keine Daten über die Größe der «informellen Wirtschaft», aber sie ist in den letzten 10 bis 15 Jahren massiv angewachsen – ein fast neues Phänomen im Iran – die niedrige offizielle Erwerbsquote von etwa 40 % ist ein Hinweis auf eine riesige Reservearmee von Arbeitskräften, die teilweise in diesen Sektor aufgenommen wurde.

Nach einigen Schätzungen arbeiten 6 Millionen Menschen in der Schattenwirtschaft. Von allen im Jahr 2015 geschaffenen Arbeitsplätzen waren nur 30 % sozial abgesichert und 70 % in der Schattenwirtschaft. Die meisten dieser Lohnabhängigen gelten als «selbständig», aber in Wirklichkeit sind sie «Lohnjäger und -sammler», die «Arbeitsplätze ohne Definition» ausüben: Straßenhändlerinnen, Wanderhändler, Obst- und Gemüseverkäuferinnen, Taxifahrer und Abfallsammler. Sie sind überall in den Städten zu sehen, auf Straßen, Parks und U-Bahnhöfen, wo sie alles verkaufen, was sie können, ohne Miete oder Steuern zu zahlen. Aber im Großen und Ganzen sind die Hauptkategorien der Beschäftigten des informellen Sektors Straßenverkäuferinnen, Straßenhändler, sowie hauswirtschaftliche und ländliche Erzeuger. Überall dort, wo es hohe Arbeitslosigkeit und Armut gibt, wächst auch der «informelle Sektor». In diesem Sektor werden vor allem junge Menschen ohne Zukunftsperspektiven und Zugewanderte aus dem ländlichen Raum und der Stadt aufgenommen. Eine wachsende Zahl dieser Beschäftigten des informellen Sektors verfügt über eine Hochschulausbildung.

In einem weiteren Sinne müssten deshalb in die  industrielle Reservearmee der Arbeiterklasse über die offiziellen Arbeitslosen hinaus auch die Lohnabhängigen des informellen Sektors, die von zuhause aus arbeitenden Lohnabhängigen, die «Selbständigen» als verschleierte Kategorie von Arbeitslosen, Zwangsarbeiter oder die unterbeschäftigten, prekären Lohnabhängigen gezählt werden, Personen ohne «festen» oder klaren Arbeitsvertrag wie Stunden-, Tages- oder Saisonarbeiterinnen, Personen mit «Blankoverträgen» (oder «Nullstundenverträgen»), «entmutigte» Stellensuchende, «Heimwerker», Personen, die in den als «nicht identifiziert» bezeichneten offiziellen Daten aufgeführt sind, das Subproletariat und die Unterschicht. Berücksichtigt man all diese Elemente und Kategorien, könnte sich deren Zahl auf 15 bis 20 Millionen der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter belaufen – eine wiederum «akademische» Vermutung. Wenn ich Recht habe, dann liegt die Größe dieser Reservearmee ganz in der Nähe der Größe der erwerbstätigen Bevölkerung. Das ist wirtschaftlich und sozial alarmierend. Für einige sollten diese heterogenen Elemente der Enteigneten wie auch das Lumpenproletariat als Sektoren oder Fraktionen der Arbeiterklasse theoretisiert werden – aber dies ist eine theoretische Debatte, die ich hier nicht aufnehmen kann.

Im Iran sind 19 Millionen der Bevölkerung Slumbewohner und Marginalisierte. Es gibt eine Überschneidung zwischen ihnen und einigen der oben beschriebenen Elemente der Reservearmee der Arbeit, aber sie sind nicht identisch. Es gibt auch schätzungsweise sieben Millionen Kinderarbeiter, meist im Alter von 5-10 Jahren.

Jahrzehntelange neoliberale Kapitalakkumulation und Kleptokratie haben zu einem Wachstum von lohnloser Proletarisierung, prekärer Lohnarbeit, Barackensiedlungen und Kinderarbeit geführt.

Bei den Reallöhnen war der Rückgang in den letzten Jahren dramatisch. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2018 wird mit einem Rückgang der Reallöhne um 50-90% gerechnet, wobei die niedrigere Rate auf der offiziellen Inflationsrate basiert. Dieser Rückgang der Reallöhne ist zum Teil auf die Währungsabwertungen in diesem Zeitraum zurückzuführen, aber auch auf eine sehr hohe Inflationsrate und die aktive neoliberale Politik der Regierung zur Deregulierung und Privatisierung des Arbeitsmarktes.

Ebenso besteht keine Einigkeit bezüglich der Definition der Armutsgrenze und somit kann der Anteil der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze nicht genau bestimmt werden.

Die Armutsgrenze wird in der Regel am Monatseinkommen einer vierköpfigen Familie gemessen. Laut Presseberichten von 2018 liegen 33% der Bevölkerung oder fast 26 Millionen unter der absoluten Armutsgrenze, und 6% der Bevölkerung oder fünf Millionen hungern: Sie können es sich nicht leisten, genügend Lebensmittel zu kaufen. Insgesamt schwanken die Schätzungen der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze zwischen 35-80%. Eine Schätzung von etwa 50% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze wäre etwas konservativ.

Der Iran liegt weltweit an zweiter Stelle bei den nachgewiesenen Erdgasreserven und an vierter Stelle bei den nachgewiesenen Rohölreserven.

Die Bemühungen um eine Privatisierung begannen Anfang der 2000er Jahre mit der Änderung von Artikel 44 der Verfassung im Jahr 2006, die den Verkauf von Staatsunternehmen ermöglichte. Die iranische Privatisierungsorganisation (IPO) wurde vom Ministerium für Wirtschaft und Finanzen gegründet, und die Regierung hat in ihrem Fünften Fünfjährigen Nationalen Entwicklungsplan 2015-2020 ein groß angelegtes Privatisierungsprogramm angekündigt, das darauf abzielt, jedes Jahr etwa 20% der staatlichen Unternehmen zu privatisieren.

Aber die vollständige Privatisierung der Wirtschaft, der Abbau des Soziallohns, Kürzungen der Sozialausgaben und der staatlichen Subventionen und damit die Sozialisierung der Armut wurden bereits während der Präsidentschaft von Ahmadinejad (2005-2013) umgesetzt. Die Hauptnutznießer dieser Politik waren das Islamische Revolutionsgardenkorps (IRGC) und wirtschaftliche Institutionen unter der Kontrolle des Obersten Führers Chamenei.

In der ersten Jahreshälfte 2018 wuchs die Privatisierung um 100% gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres. In diesem Zeitraum wurden fast 600 Millionen Dollar an staatlichen Aktien an den privaten Sektor übertragen. Im November 2018 gab die IPO bekannt, dass der im Budget vom März 2017 bis März 2018 vorgesehene Verkauf von rund 60% der staatlichen Aktien an die Privatwirtschaft vollzogen wurde. Die Regierung erwartet, dass sie in diesem Jahr rund 2,5 Milliarden US-Dollar aus diesen Verkäufen erwirtschaften wird.

Die Privatisierung über die IPO führte zu Korruption, Vetternwirtschaft und zwielichten Geschäften. Es ist ein Netzwerk von Insidern und halbkriminellen und korrupten Kumpanen des Regimes entstanden, die sich an der Plünderung des Landes mit dem Obersten Führer Ali Khamenei und seinem Klan beteiligen. Während die Zahl der Menschen, die an oder unter der Armutsgrenze und in Slums leben, die von der «überschüssigen Bevölkerung» bewohnt werden, wächst, haben Privatisierung und neoliberale Politik eine stark polarisierte Gesellschaft und eine explosive Situation geschaffen.

Arbeitsrechte und Gewerkschaften

Im Iran gibt es kein Gewerkschaftssystem, und unabhängige Gewerkschaften sind verboten. Den Lohnabhängigen fehlt die Macht für Tarifverhandlungen und sie werden durch staatlich kontrollierte islamische Betriebsräte «vertreten», die in den meisten Betrieben und Wirtschaftssektoren vorhanden sind. Diese Räte unterstehen dem (islamischen) «Arbeiterhaus», das dem Weltgewerkschaftsbund angehört. Die Islamischen Arbeitsräte haben nichts mit Gewerkschaften gemein; sie sind tripartite Organisationen, die sich aus Regierung, Arbeitgebern und Scheinvertretungen der Lohnabhängigen zusammensetzen, die aufgrund ihrer Tantiemen an das Regime und ihres Engagements für die islamische Ideologie ausgewählt werden. Eine der Aufgaben dieser Betriebsräte ist es, militante Arbeiter und Arbeiterinnen am Arbeitsplatz auszuspionieren.

Das Streikrecht ist im Iran gesetzlich nicht anerkannt, und Streiks der Arbeiterinnen und Arbeiter werden brutal unterdrückt. Gewerkschaftsaktivisten werden routinemäßig schikaniert, verhaftet, verfolgt und zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Folter, Prügel und Mord waren von Anfang an die Vorgehensweise des Regimes und sind weder neue noch isolierte Praktiken.

Der Global Rights Index 2018 des Generalrates des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB/ITUC) ordnet den Iran als ein Land ohne «Garantie der Rechte» ein, d.h. als ein Land, in dem «die Gesetzgebung bestimmte Rechte festlegen kann, aber die Lohnabhängigen praktisch keinen Zugang zu diesen Rechten haben». Im IGB-Bericht 2018 heißt es, dass im Iran ‚»…. viele Gewerkschaftsaktivisten und -aktivistinnen willkürlich inhaftiert bleiben und unter üblen Haftbedingungen leiden».

Der Fall von Reza Shahabi ist ein Beispiel für lange Haftstrafen für Arbeits- und Bürgerrechtler und ihre Misshandlung und Folter durch das Regime. Shahabi, ein führender Gewerkschaftsaktivist des Syndikats der Arbeiter von Teheran und der Suburban Bus Company, wurde verhaftet und 2010 zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, beschuldigt wegen «Absprachen gegen die nationale Sicherheit», einer Routineanklage der Revolutionären Islamischen Gerichte. Er wurde auch zu einer weiteren Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, weil er «Propaganda gegen den Staat verbreitet» hatte, mit einer Geldstrafe belegt und für fünf Jahre von allen Gewerkschaftsaktivitäten ausgeschlossen. Im März 2018 wurde Shahabi aus dem Gefängnis entlassen.

Esamil Abdi, ein Lehrer und Generalsekretär des Koordinierungsrates der Lehrergewerkschaft, wurde 2016 verhaftet und ebenfalls wegen «Absprachen gegen die nationale Sicherheit» und «Verbreitung von Propaganda gegen den Staat» angeklagt. Er verbüßt eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren.

Im Mai 2018 wurde Mohammad Habibi, ein Lehrer und Mitglied des Lehrerverbandes, während einer friedlichen Versammlung verhaftet und im August dieses Jahres zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt. Außerdem wurde er für zwei Jahre von allen politischen und sozialen Aktivitäten ausgeschlossen und erhielt neben 74 Peitschenhieben ein Reiseverbot von zwei Jahren.

Sehr oft kommen Aktivistinnen und Aktivisten im Gefängnis um. Der Tod tritt entweder nach Verletzungen durch Folter oder durch Krankheit infolge von Misshandlungen und entsetzlichen Haftbedingungen sowie durch die gezielte Weigerung des Regimes, medizinische Versorgung zu g, ein. In jüngster Zeit wurden Fälle von Mord an inhaftierten Aktivisten bekannt, bei denen die Todesursache offiziell als «Selbstmord» bezeichnet wurde.

Streiks der Haft Tappeh Sugarcane Company und der National Steel Company

Vor diesem Hintergrund fallen zwei gleichzeitige Wellen von Arbeiterprotesten auf, sowohl in der weitgehend industriell geprägten südwestlichen Provinz Chuzestan: in der Haft Tappeh Sugarcane Company, als auch in der National Steel Company wird protestiert;  Ahvaz, die Hauptstadt der Provinz Chuzestan, in einer Region des Iran, die durch den Iran-Irak-Krieg, Umweltzerstörung, Wasserknappheit, Armut, Unterdrückung und Emigration ethnischer Minderheiten zerstört wurde.

Haft Tappeh liegt in der südwestlichen Provinz Khuzestan, etwa 15 Kilometer von der alten Stadt Shush entfernt. Das Zuckerrohrunternehmen wurde 1961 gegründet, umfasst eine Fläche von 24 Hektar und war der größte staatliche Arbeitgeber der Region. Im Jahr 2015 wurde das Unternehmen privatisiert, was zu einem Abbau von 7000 Arbeitsplätzen führte. Es gibt ein Haft Tappeh Arbeitersyndikat, das eine lange Geschichte hat, aber in seiner jetzigen Form 2008 im Zuge eines 42-tägigen Massenstreiks über unbezahlte Löhne gegründet wurde. Die Gewerkschaft wird weder vom Unternehmen noch von den Behörden anerkannt.

Die Arbeiterinnen und Arbeiter von Haft Tappeh haben seit einigen Jahren mit einer Vielzahl von Problemen und Aufgaben zu kämpfen: über vier Monate unbezahlte Löhne und Leistungen, ein korruptes und inkompetentes Management, Informalisierung der Arbeit, Bildung unabhängiger Betriebsräte und Verstaatlichung des Unternehmens.

Mittlerweile ist es im Iran ziemlich verbreitet, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht bezahlt werden, über fünf, sechs oder sogar zwölf Monate oder noch länger. Die Nichtzahlung von Löhnen ist ein Zeichen für die tiefe strukturelle Krise von Staat und Wirtschaft. Aus Gründen, die wir hier nicht näher erläutern können, ist die Rentabilität des Kapitals in den letzten drei Jahrzehnten in der Industrie und im verarbeitenden Gewerbe des Iran gesunken und die Finanzialisierung des Kapitals ist exponentiell gestiegen, wobei das Finanzkapital ein besonders korrupter Sektor der iranischen Wirtschaft ist.

Die Streiks in Haft Tappeh begannen ungefähr am 2. November und dauerten über einen Monat, was die Produktion zum Erliegen brachte. Gerade bei diesen Protesten entwickelte sich Esmail Bakhshi zu einem prominenten Aktivisten für Arbeitsrechte. In seinen Reden hat er wiederholt Kleptokratie, systematische Korruption und Misswirtschaft unter dem Deckmantel der Privatisierung angeprangert, die Ausbeutung der Arbeiter und Arbeiterinnen angegriffen und sich für die Verstaatlichung des Unternehmens und die Bildung eines unabhängigen Betriebsrats eingesetzt.

Am 16. November besetzten die Arbeiter den Ort des Freitagsgebets in Shush und sangen wütende Slogans gegen den Klerus und die Regierungsbehörden. Freitagsgebete sind staatlich organisierte religiös-politische Anlässe, und die Leiter der Freitagsgebete werden unter der direkten Aufsicht des Obersten Führers Khamenei gewählt. Im postrevolutionären Iran sind sie zu einem der wichtigsten ideologischen Apparat des Staates geworden und sind ein Mittel zur Vermittlung offizieller staatlicher Politik und Ideologien. Sie verbinden Religion, Politik und Volksbewegung. Das Eindringen in diese Institutionen und deren Besetzung ist ein ernstzunehmender Schritt.

Am 18. November schickte das Regime seine Anti-Aufstandstruppen nach Shush, um seine Muskeln spielen zu lassen; weil jedoch eine Eskalation befürchtet wurde, handelte das Regime vorsichtig und versuchte, direkte Konfrontationen zu vermeiden. Dies war als Warnsignal seitens des Regimes angelegt.

Bakhshi wurde an diesem Tag von den Repressionskräften in Shush zusammen mit der Bürgerrechtlerin Sepideh Gholian und 18 weiteren Arbeitern und Arbeiterinnen verhaftet. Andere Arbeiter und Arbeiterinnen wurden später entlassen, aber Bakhshi und Gholian blieben im Gefängnis. Letztere wurde am 18. Dezember gegen Kaution freigegeben.

Bakhshi wurde unter dem Vorwurf verhaftet, die «nationale Sicherheit» gefährdet zu haben. Während seiner 25 Tage in Haft lag ein Schleier des Schweigens über Bakhshi’s Aufenthaltsort und Zustand, abgesehen von den Nachrichten bei einer Gelegenheit, dass er infolge von Schlägen in ein örtliches Krankenhaus mit inneren Blutungen und einem geschwollenen Gesicht gebracht worden war.

Bakhshi wurde am 12. Dezember gegen Kaution freigelassen. Am 4. Januar veröffentlichte er einen Brief auf Instagram. In dem Brief enthüllte Bakhshi, dass er während seiner 25 Tage in Haft Folter, Missbrauch und Prügeln ausgesetzt war, und forderte den Geheimdienstminister zu einer live im Fernsehen übertragenen Debatte über dieses Thema auf.

In dem offenen Brief schreibt Bakhshi: «In den ersten Tagen folterten sie mich ohne Grund und ohne Gespräch, schlugen mich mit den Fäusten und traten mich, so dass ich hätte sterben können. Sie schlugen mich so sehr, dass ich mich 72 Stunden lang nicht in meiner Zelle bewegen konnte. Ich fühlte so viel Schmerz, dass ich nicht einmal ohne Leiden schlafen konnte… Heute, fast zwei Monate nach diesen schweren Tagen, spüre ich immer noch Schmerzen in meinen gebrochenen Rippen, Nieren, im linken Ohr und an den Hoden. Aber schlimmer noch als die physische Folter war die psychologische Folter. Ich weiß nicht, was sie mit mir gemacht haben, aber ich wurde zu einem willenlosen Fleischklumpen. Meine Hände zittern immer noch. Ich stand immer mit den Füßen fest auf dem Boden, aber ich wurde soweit gedemütigt, bis ich eine andere Person war. Ich bekomme immer noch schwere Panikattacken, obwohl ich Angstmittel zu mir nehme.»

Artikel 38 der postrevolutionären Verfassung des Iran lautet: «Jede Form der Folter zum Zwecke der Entlockung von Geständnissen oder der Erlangung von Informationen ist verboten». Artikel 7 des Internationalen Vertrages über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen (ICCPR), dem der Iran beigetreten ist, lautet: «Niemand darf gefoltert oder grausam, unmenschlich oder erniedrigend behandelt oder bestraft werden.»

Aber es gibt im Iran keinen Rechtsstaat. Das System ist willkürlich, brutal und gewalttätig. Es gibt Gesetze, aber der Staat und seine Apparate haben durch die routinemäßige Verletzung dieser Gesetze und die Verletzung der Verfassung eine allgemeine Kultur der Gesetzlosigkeit verbreitet. Niemand fühlt sich verpflichtet, sich an das Gesetz zu halten, insbesondere nicht die Mächtigen und Reichen.

Bakhshis Folterung durch Agenten des iranischen Geheimdienstes hat in den Mainstream-Medien und sozialen Netzwerken für viel Aufruhr und Aufschrei gesorgt, weil er nicht als gewöhnlicher Aktivist, sondern als mutiger und freimütiger Gewerkschaftsaktivist angesehen wird, der überausgebeutete Arbeiter und Arbeiterinnen und die Unterschicht vertritt.

Nach der Veröffentlichung seines Beitrags gaben mehrere Quellen, darunter Bakhshi’s Anwalt Farzaneh Zilabi, an, dass Bakhshi von Geheimdienstagenten unter Druck gesetzt worden sei, seine Behauptungen zu leugnen; sie erhielten fast jeden Tag Drohanrufe.

Angesichts des Ausmaßes der öffentlichen Reaktion auf Bakhshis Posts in Instagram waren die Behörden der Islamischen Republik der Ansicht, dass sie reagieren müssten. Es gab eine Vielzahl von Behörden, die sich zu diesem Thema äußerten.

Am 7. Januar sagte der Leiter der Justiz Sadegh Larijani in Beantwortung des Schreibens von Bakhshi und unter dem Druck der öffentlichen Meinung, er habe eine Untersuchung in der Angelegenheit angeordnet, erinnerte Bakhshi aber daran, dass ein Gefängnis ein Gefängnis und kein «Hotel» sei.

Am 8. Januar teilte die iranische Generalstaatsanwaltschaft mit, dass ein unabhängiger «Expertenausschuss» gebildet und in die Provinz Chuzestan geschickt worden sei, um die Vorwürfe der Folter zu untersuchen. Er versuchte, sich der Angelegenheit anzunehmen und wies darauf hin, dass das Verhalten eines einzigen Sicherheitsbeauftragten nicht auf das gesamte System verallgemeinert werden sollte, und warnte davor, dass die Angelegenheit durch «feindliche und feindlich gesinnte Medien» instrumentalisiert werden dürfe. Gleichzeitig kündigte Hesamaldin Ashena, der Berater von Präsident Rouhani, die Anordnung des Präsidenten an, eine «schnelle und eingehende» Untersuchung der Foltervorwürfe einzuleiten.

Doch am selben Tag kündigte Heshmat Falahat-Pisheh, der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitskomitees des Parlaments, an, dass das Nachrichtenministerium die Folterung von Bakhshi abgestritten habe und dass der Ausschuss nach Untersuchungen zu dem Schluss gekommen sei, dass nie eine Folter stattgefunden habe. Vielmehr war Bakhshi während seiner Verhaftung in Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften verwickelt gewesen. Er behauptete weiter, Bakhshi sei mit der «Kommunistischen Arbeiterpartei» verbunden, einer iranischen politischen Partei im europäischen Exil. Er fügte hinzu, dass die «ausländischen Medien» den Aufruhr in dieser Angelegenheit und im Fall Bakhshi ausgelöst hätten, bevor der Ausschuss seine Arbeit abgeschlossen habe.

Am 9. Januar wiederholte der Leiter des Präsidialbüros, Mahmoud Vaezi, die Leugnung der Folter durch das Nachrichtenministerium und drohte damit, dass das Nachrichtenministerium das Recht habe, Bakhshi wegen angeblicher Folterungsvorwürfen zu verfolgen.

Am nächsten Tag erklärte Asghar Karimi, Vorsitzender des Exekutivkomitees der Kommunistischen Arbeiterpartei des Iran im europäischen Exil, in einem Presseinterview, dass Bakhshi nie Mitglied der Partei gewesen sei und auch nie einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt habe.

Am 14. Januar ging Mohammad-Jafar Montazeri, Generalstaatsanwalt des Iran, weiter und kündigte an, dass Bakhshi’s Behauptungen Lügen und «politisch motiviert» seien. Er fügte hinzu, dass Bakhshi «kein gewöhnlicher Mensch» sei, und aufgrund seiner Verbindungen zu «bestimmten Orten» (d.h. kommunistischen Parteien im Ausland) er diese Gerüchte als Deckmantel für seine politischen Zwecke verbreitet habe. Er drohte, dass «wenn Bakhshi ein Verbrechen begangen hat, er nach dem Gesetz behandelt werden wird».

Am 16. Januar wiederholte Mohammad Reza Tabesh, der Vizepräsident der «reformistischen» Parlamentsfraktion Omid (Hoffnung), die Ablehnung der Folter durch das Nachrichtenministerium. Er fügte hinzu, dass Bakhshi laut Dokumenten und Geständnissen «in Kontakt mit kommunistischen Parteien im Ausland stand».

Am 8. Januar hatten es Bakhshi und sein Anwalt geschafft, sich mit einigen Mitgliedern der reformistischen Fraktion des Parlaments zu treffen, die später bekannt gaben, dass Bakhshi seine Geschichte irgendwie überarbeitet und behauptet habe, er sei nur von Sicherheitskräften verprügelt worden.

Daher haben innerhalb von weniger als zwei Wochen eine Vielzahl von Behörden – der Geheimdienstminister, der Staatsanwalt, die Justiz und der Parlamentarische Ausschuss für nationale Sicherheit – die Folterung von Bakhshi geleugnet und den Fall auf «Rauffereien» mit Sicherheitskräften zum Zeitpunkt der Verhaftung reduziert. Darüber hinaus haben sie den Spieß umgedreht und Bakhshi’s Position von einem Beschwerdeführer in die eines potenziellen «Angeklagten» mit Drohungen der Strafverfolgung geändert. Zusätzlich zu den üblichen zweideutigen Anschuldigungen der «Verbreitung von Propaganda gegen den Staat» und der «Störung der öffentlichen Ordnung» wird Bakhshi nun der Verbindung zu iranischen «Kommunisten» im Ausland beschuldigt.

Sowohl Bakhshi als auch sein Anwalt haben auf diese Drohungen reagiert, sind aber gegenüber den erfahrenen und organisierten brutalen Repressionsapparaten des Staates im Nachteil. Am 16. Januar verteidigte Bakhshi’s Anwalt Bakhshi’s Behauptung von Folter und bat die Behörden, sich nicht zu den noch vor Gericht stehenden Fällen zu äußern. Das islamische Revolutionsgericht in Shush untersucht den Fall Bakhshi noch immer.

In den letzten beiden Monaten des Jahres 2018 gab es auch andere größere Verhaftungen. Ali Nejati, ein pensionierter Haft Tappeh-Arbeiter und Gewerkschaftsaktivist, wurde am 29. November in seinem Haus in Shush verhaftet, während den Haft Tappeh-Arbeiterstreiks. Nach Angaben seines Anwalts Farzaneh Zilabi wurde er von den Sicherheitsbeamten zusammengeschlagen, als er trotz seines Alters und seiner schweren Herzerkrankung um einen Haftbefehl bat. Nejati war bereits 2015 wegen seiner arbeitsrechtlichen Aktivitäten verhaftet worden. Mitte Dezember 2018 kündigte seine Anwältin Frau Zilabi an, er sei aufgrund früherer Beschuldigungen und der Teilnahme an den Streiks von Haft Tappeh verhaftet worden, aber auch der «Gefährdung der nationalen Sicherheit», der «Verbreitung von Propaganda gegen den Staat» und der «Störung der öffentlichen Ordnung» angeklagt sei. Nejati bleibt im Gefängnis.

Am 17. und 18. Dezember verhaftete die Regierung 40 führende Stahlarbeiter und Führer und Führerinnen von Streiks der National Steel Company in Ahvaz. Der Stahlwerkskomplex wurde von Sicherheits- und Geheimdiensten genauestens überwacht. Dort soll ein Islamischer Arbeitsrat geschaffen werden. Die verhafteten Arbeiter und Arbeiterinnen wurden nach und nach freigelassen, die letzten beiden am 19. Januar.

Die jüngsten Entwicklungen zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels waren die Ausstrahlung einer Sendung im nationalen Fernsehen am 19. Januar, in der sowohl Bakhshi als auch Sepideh Gholian vor die Kameras gestellt wurden und erzwungene «Geständnisse» über ihre wirklich subversiven Pläne zum Sturz des Regimes und ihre Verbindungen zu iranischen «kommunistischen» Parteien und Gruppierungen im Ausland abgaben. Einen Tag nach der Ausstrahlung dieses Programms griffen die Sicherheitskräfte Gholians Haus an und nahmen sie und ihren Bruder mit. Nach Angaben des Haft Tappeh Workers‘ Syndicate griffen Sicherheitskräfte Bakhshi’s Haus an und brachten ihn gegen Mitternacht am 20. Januar weg. Das Syndikat hat die Freilassung von Bakhshi, Nejati und anderen inhaftierten Arbeitern gefordert.

Der neue Geschäftsführer und die Gründung des «Islamischen Arbeiterrates»

Angesichts des Ausmaßes des Erfolgs von Arbeitsniederlegungen und deren öffentlicher Unterstützung und der Befürchtung einer Eskalation der Situation zahlte die Regierung den Arbeitern und Arbeiterinnen einen Teil der unbezahlten Löhne und ernannte am 1. Dezember einen neuen Geschäftsführer für das Unternehmen.

Mitte November gab die Justiz bekannt, dass der frühere Geschäftsführer des Unternehmens ausser Landes geflohen sei, nachdem er 800 Millionen Dollar gestohlen hatte. Andere Berichte im Dezember behaupteten, er sei noch im Land. Angesichts der mafiösen Verbindungen zwischen den staatlichen Behörden und ihren Kumpanen ist es immer noch nicht möglich, seinen Aufenthaltsort zu bestätigen. Der iranische Staat wird wie ein kriminelles Verbrechersyndikat geführt.

Die Bildung islamischer Arbeitsräte ist ein wichtiges Mittel, um Arbeiterstreiks zu beenden und Spaltungen unter den Lohnabhängigen zu schaffen. Am 31. Dezember riefen die Geheimdienste und der Arbeitsminister hastig Scheinwahlen für die Mitgliedschaft in den Islamischen Arbeitsräten von Haft Tappeh ins Leben. Die bloße Existenz der Islamischen Arbeitsräte ist eine Ursache für die bittere Spaltung unter den Lohnabhängigen, und nur unter Drohungen und Einschüchterungen schlossen sich einige der streikenden Arbeiterinnen und Arbeiter dem Rat an. An diesen Wahlen nahmen rund 800 Mitarbeiter von Haft Tappeh teil und acht Arbeiter wurden in den Islamischen Betriebsrat der Haft Tappeh Sugarcane Company gewählt.

Am 6. Januar veröffentlichte das Haft Tappeh Workers‘ Syndicate, der von den Arbeitern und Arbeiterinnen, nicht aber von der Regierung anerkannte wahre Vertretung der Lohnabhängigen, eine Ankündigung, in der der Islamische Arbeitsrat als gefälschte, gegen die Lohnabhängigen gerichtete Organisation  abgelehnt wird.

In der Ankündigung heißt es: «Physische Gewalt und Zwang ist nur eine Möglichkeit, eine gegen die Lohnabhängigen gerichtete Politik durchzusetzen, eine weitere Möglichkeit der Unterdrückung ist die Bildung Islamischer Arbeitsräte… Die Lohnabhängigen sind sich bewusst und wissen, dass die Islamischen Arbeitsräte weder Betriebsräte sind noch die Interessen der Arbeiter und Arbeiterinnen vertreten; vielmehr ist es ihre eigentliche Aufgabe, als Informanten für Geheimdienste der Regierung zu fungieren…. Die wahre Natur der Islamischen Arbeitsräte besteht darin, die Interessen des Staates zu verteidigen und zu schützen; sie sind gegen die Lohnabhängigen gerichtete Organisationen…..Für diejenigen, die Einschüchterungen und Drohungen durch Geheimdienste nachgegeben haben, sagen wir, dass es noch nicht zu spät ist und sie immer noch in den Schoß der Arbeiterklasse zurückkehren können; für diejenigen, die sich widersetzt und ihre Ehre und ihren Ruf verteidigt haben, sagen wir Danke und gut gemacht!»

Im Iran gab es im Jahr 2018 zahlreiche weitere Proteste von Lohnabhängigen, insbesondere:

* Lkw-Fahrer – Zwischen Mai und Dezember waren Lkw-Fahrer sporadisch im Streik, einschließlich 10 Tage im Mai und 17 Tage im Oktober. Diese Streiks, die von der Free Truckers Union organisiert wurden, richteten sich gegen die hohe Inflation, niedrige Tarife, hohe Versicherungs- und Ersatzteilkosten. Die Lkw-Fahrer forderten auch die Entfernung von Transportvermittlern aus den Terminals, die Erhöhung der Renten und die Bestrafung korrupter Beamter. Diese Streiks erstreckten sich auf mehr als 300 Städte im ganzen Land und dauerten mehrere Wochen. Im Oktober 2018 griff das Regime durch, verhaftete Hunderte von Fahrern, beschuldigte sie des Handelns «gegen die nationale Sicherheit» und drohte ihnen mit der Todesstrafe. Mehrere internationale Gewerkschaftsverbände, darunter die US-amerikanischen, italienischen und dänischen Transportgewerkschaftsverbände, erklärten ihre Unterstützung für die iranischen LKW-Fahrer. Am 12. Oktober verurteilte der Internationale Transportarbeiterverband die Todesstrafe gegen Fahrer.

* Lehrer und Lehrerinnen – Im Oktober 2018 gingen Tausende von Lehrern und Lehrerinnen in einen zweitägigen nationalen Streik, bei dem sie zwar zur Schule gingen, aber keinen Unterricht erteilten. Der Koordinierungsrat der Lehrergewerkschaft (CCTU) rief den Streik aus. Die Lehrer und Lehrerinnen verurteilten die hohe Inflation, die niedrigen Löhne, die Privatisierung des Bildungssystems und die schlechten Arbeitsbedingungen und forderten die Freilassung verhafteter Lehrerinnen und Gewerkschaftsaktivisten.

Lehrer und Lehrerinnen sind einer der am schlechtesten bezahlten Fachleute im Iran; sie leben oft unterhalb der Armutsgrenze und müssen sich auf einen Nebenjob in der «informellen Wirtschaft» stützen, wie das Fahren von Taxis, um über die Runden zu kommen. Mindestens zwei Lehrer wurden während dieses Streiks verhaftet. Später wurde ein 65-jähriger pensionierter Lehrer und Gewerkschaftsführer, der kritisches Material über das Regime geschrieben hatte, von islamischen Revolutionsgarden entführt und unfreiwillig in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Er wurde später entlassen.

Andere Proteste fanden im Juni 2018 von Basarläden und unter Händlern statt, und im Jahr 2018 von Taxifahrern, Krankenhausangestellten, Büroangestellten, Petrochemiearbeitern, Gemeindearbeiterinnen, Bauern und Studentinnen.

Es gab auch Proteste von Rentnern und solchen, die von den Zinsen ihrer Ersparnisse leben. Im Jahr 2017 führte die korrupte Finanzialisierung der Wirtschaft zum Zusammenbruch großer Privatbanken und zum Verschwinden von Millionen von Ersparnissen der Iraner. Privatbanken und Finanzinstitute dürfen seit 2000 tätig sein und sich ohne Aufsicht der Zentralbank vermehren. Es gab Proteste gegen die Regierung und diese Institutionen im ganzen Land, und sie dauern bis heute an, aber viele Menschen konnten ihre Ersparnisse zurückgewinnen.

Solidarität

Im Iran haben Lehrergewerkschaften, Busfahrergewerkschaften, die Gewerkschaft der Metallarbeiter und Mechaniker des Iran, LKW-Fahrergewerkschaften, petrochemische Arbeiter und Arbeiterinnen, Studenten und Studentinnen und andere ihre Solidarität mit den Arbeitern und Arbeiterinnen von Haft Tappeh und Ahvaz Steel Industry bekundet.

Am 9. Januar veröffentlichten die fünf großen Gewerkschaften – Arbeiter von South Pars Projects, petrochemische Arbeiter und Arbeiterinnen von Mahshahr District und Imam Port City, Arbeiteraktivisten in Shush und Andimshek und Arbeiterinnen und Arbeiter von Teheran-Karaj Mehvar – eine Erklärung zur Unterstützung der nationalen Arbeiter und Arbeiterinnen der Stahlindustrie von Haft Tappeh und Ahvaz.

IndustriALL Global Union und der Internationale Gewerkschaftsratskongress in Kopenhagen haben Erklärungen abgegeben und Resolutionen zur Unterstützung von streikenden und protestierenden Lohnabhängigen verabschiedet und ein Ende der Repressionen durch die iranische Regierung gefordert. Uniting Food, Farm and Hotel Workers Worldwide (IUF), dem das Haft Tappeh Workers Syndicate angeschlossen ist, gab im November ebenfalls eine Erklärung zur Unterstützung der Haft Tappeh-Arbeiter heraus.

Anfang Dezember schrieben mehr als 80 ausländische Gewerkschaften und Arbeiterorganisationen einen offenen Brief an den Obersten Führer Khamenei, in dem sie ihre Solidarität mit streikenden iranischen Arbeitern zum Ausdruck brachten und um die Freilassung von Bakhshi und anderen baten. Gewerkschaften und Gewerkschaftsverbände aus Frankreich, Italien, Brasilien, Spanien, Indonesien, Senegal, Ägypten, Paraguay und einer Reihe anderer Länder unterzeichneten das Schreiben. Französische, britische, deutsche, schwedische, dänische und kanadische Gewerkschaften und Gewerkschaftsverbände haben ihre Unterstützung und Solidarität bekundet.

Fazit

Die Proteste der Haft Tappeh Sugarcane Company und der National Steel Workers sind wichtig, weil sie das Ausmaß des Bewusstseins der Arbeiterklasse und der wachsenden Solidarität zwischen den Sektoren der Arbeiter und Arbeiterinnen im Iran angesichts des gemeinsamen Feindes, den sie richtig als Kapitalismus und theokratische Herrschaft identifizieren, zeigen.

Diese Protestierenden sind auch in der Geschichte der iranischen Arbeiterbewegung von Bedeutung, weil sie die Art ihrer Forderungen aufzeigen: unabhängiger Betriebsrat, Arbeitsplatzsicherheit und ein Ende der Privatisierung und Verunsicherung der Arbeit. Das sind die gemeinsamen Forderungen der gesamten Arbeiterklasse im Iran.

Diese Proteste sind in hohem Maße repräsentativ für das Ausmaß der Wut nicht nur unter der Arbeiterklasse, sondern auch unter den Arbeitslosen, Ausgeschlossenen und Marginalisierten – den sozialen Ablehnungen und der «überschüssigen Bevölkerung» des Kapitalismus – gegen das Regime und seine kapitalfreundliche Politik.

In beiden Fällen haben sich Proteste, die mit Forderungen nach unbezahlten Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen begonnen hatten, zu Protesten gegen den Kapitalismus, die neoliberale Privatisierung und die Deregulierung des Arbeitsmarktes entwickelt.

Um sie unter Kontrolle zu halten, erfüllte der Staat einige der kleineren Forderungen, wie die Teilzahlung der Löhne, und begann, sich mit der Neueinstufung der Berufe, der Sicherung der Arbeitsplätze und der Informalisierung der Arbeit zu beschäftigen, aber die größeren Forderungen nach Verstaatlichung der Industrie und der Bildung unabhängiger Betriebsräte wurden nicht berücksichtigt.

Der iranische Staat ist ein gescheiterter Staat, der durch schiere repressive Kontrolle der Gesellschaft überlebt. Seine strukturelle Krise ist tief und hartnäckig; es gibt parallele Machtzentren, einige versteckt und informell, andere in bitterer Rivalität miteinander, alle gleichermaßen korrupt und jenseits jeder Reformmöglichkeit.

Die Situation ist angespannt, aber der Kampf geht weiter. Das ist aber noch lange nicht das Ende der Geschichte.

Quelle: links.org.au… vom 27. Februar 2019; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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