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«Podemos» – Die neue linke Sammelbewegung in Spanien als Kind der Bewegung «15-M»

Eingereicht on 12. Juni 2014 – 11:58

Über die vergangenen 20 Jahre haben sich in Europa immer wieder linke politische Formationen herausgebildet, die den Anspruch haben, links der Sozialdemokratie zu politisieren. Diese ihrerseits hat sich seit den 90er Jahren immer klarer zu einer politischen Kraft gewandelt, die nicht davor zurückschreckt, Hand an die Errungenschaften der Zeit vor allem ab der Zeit seit 1945 zu legen. Diese «neuen» linken Formationen waren in der Periode nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 um die sich reorientierenden Kommunistischen Parteien entstanden (Rifondazione, Synapsismos, Izquierda Unida, Die Linke, u.a.). Gelegentlich gelang es ihnen, an soziale Bewegungen anzuknüpfen (so etwa die um Synapsismos 2004 entstandene  Syrizain Griechenland), meistens aber waren es eher Neuausrichtungen «von oben», wie etwa die Linke, Front de Gauche, Izquierda Unida u.a. Davon scheint sich die spanische Podemos zu unterscheiden, auch wenn sie ebenfalls von Kräften dominiert wird, die eine starke, ja prioritäre Ausrichtung auf Institutionen und Wahlen haben und letztendlich auf ein Bündnis mit den Sozialliberalen und auf eine Beteiligung an einer bürgerlichen Regierung aus sind. Entsprechende Verlautbarungen und Signale waren denn auch im Vorfeld der EU-Wahlen mehrfach aus den Führungskreisen um Pablo Iglesias zu vernehmen. Diesbezüglich also nichts Neues; vielmehr wirkt auch hier die fatale Schwerkraft der Fokussierung auf institutionelle politische Prozesse. Damit besteht die sehr grosse Gefahr, dass die vorauseilenden Kompromisse mit den Kräften der Austeritätspolitk  die basisdemokratischen Kräfte an die Wand spielen werden. Wie andernorts.

Bei den Europawahlen vom 25. Mai 2014 hat Podemos [Wir können] mit einem Stimmenanteil von knapp 8%, d.h. mit über 1.2 Millionen Stimmen und mit 5 Sitzen im EU-Parlament einen Achtungserfolg verbucht. Auch wenn die Austeritätsoffensive der Regierung Rajoy und der EU bislang kaum Tempo genommen werden konnte, so verzeichnet doch der breite Widerstand in Spanien Teilerfolge. Beispielsweise die «Marea blanca» [weisse Flut], die mit breiten Mobilisierungen 2012 und 2013 die Privatisierung von sechs Spitälern in Madrid verhindert und den Rücktritt des verantwortlichen Ministers erreicht hat; oder die Bevölkerung von Garmonal, bei Burgos, die im Januar 2014 ein Projekt städtebaulicher Umgestaltung der rechten Regierung blockiert hat und in deren Gefolge es unter breiter Beteiligung zu den «Märschen für die Würde» gekommen ist.  

In diesem Zusammenhang ist mit «Podemos» ein neues politisches Projekt hervorgetreten, welches in mancherlei Hinsicht wieder die Anliegen aufnimmt, die vor vier Jahren durch die Bewegung der «Indignados» [Empörten] an die Öffentlichkeit getragen wurden. In diesem Beitrag beschreiben Raúl Camargo und Daniel Albarracín, zwei Aktivisten der spanischen «Izquierda Anticapitalista» [Antikapitalistische Linke] das zugrundeliegende Projekt und nennen die Bedingungen seines Gelingens. Der Originaltext erschien in Katalanisch; diese Übersetzung basiert auf der französischen Übersetzung, die in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift L’Anticapitaliste n°54 (mai 2014), also vor den Europawahlen vom 25. Mai, erschienen ist.[Anm.L’Anticapitaliste und Redaktion maulwuerfe.ch, Übersetzung maulwuerfe.ch]

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Die politische Initiative Podemos wurde am 17. Januar 2014 auf Anregung von Pablo Iglesias, dem Fernsehsprecher  des Senders La Tuerka [«Schraubenmutter»], einer um ihn versammelten Gruppe von Lehrerinnen und Lehrern und von Izquierda anticapitalista  öffentlich lanciert. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, an den Europawahlen mit einer eigenen Liste aufzutreten.

Am Anfang des Projektes stand ein Manifest des Namens Mover Ficha [«machen wir vorwärts»], das von dreissig Persönlichkeiten der sozialen, der politischen und der kulturellen Linken unterzeichnet wurde. Dieses Manifest fordert insbesondere die Durchführung eines öffentlichen Schulden-Audits und die Annullierung der illegitimen Schulden, die Nationalisierung der Banken, die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, die Verteidigung der reproduktiven Rechte der Frau, die Enteignung des Energiesektors und eine Umwandlung der Produktionsweise.

Innerhalb sehr kurzer Zeit wurde es von mehr als 100‘000 Personen unterstützt. Die Versammlungen, an denen es vorgestellt wurde und die in mehreren Städten organisiert wurden, übertrafen alle Erwartungen; sie waren voll von Jungen aber auch von Veteranen zahlreicher Kämpfe. Der Geist der Bewegung vom «15-M» [1] schien sich nun in dieser politischen Bewegung eines neuen Typs zu verkörpern. An den Primärwahlen für die Europawahlen haben 33‘000 Wählerinnen und Wähler ihre Stimme für Kandidatinnen und Kandidaten von Podemos abgegeben, was die höchste Zahl in ganz Europa im Vorfeld der Europawahlen war. Pablo Iglesias, aufgrund seines regelmässigen Auftretens im Fernsehen die bekannteste Persönlichkeit, kam auf der Liste an die erste Stelle, vor der Aktivistin Teresa Rodríguez von Izquierda anticapitalista.

Ein grosser Teil der breiten Bevölkerung und der Arbeiterklasse, der nicht in Ohnmacht versinken will, möchte über glaubwürdige politische Instrumente verfügen, die es erlauben, sich weitgehend am politischen Prozess zu beteiligen. Die kritische Situation, in der wir uns befinden, hat im grösseren und komplexen Rahmen der Linken einen Raum für die Schaffung eines politischen Instruments wie Podemos geschaffen.

Es ist unbestritten, dass es Innerhalb dieser Bewegung verschiedene Bestrebungen gibt – einige orientieren sich auf eine Bekämpfung der Korruption, andere auf einen Ausbau der Demokratie, usw. Diese könnten innerhalb des Rahmens eines breiten, selbst technokratischen politischen Ansatzes integriert werden. Aber es gibt auch Strömungen, und dies im wachsenden Masse, die erkennen, dass das eigentliche Problem das System ist und die keinen organisatorischen Rahmen finden, um sich auszudrücken. Gerade für diese eröffnet Podemos jetzt einen Weg.

Was ist mit Izquierda Unida?

Izquierda Unida [IU, Vereinigte Linke] ist ein von der kommunistischen Partei Spaniens [Partido Comunista de España, PCE] angeführtes Bündnis. Als reformistische Formation verficht sie eine Orientierung, die in allen Institutionen auf eine Einigung mit der sozialistischen Partei PSOE hinarbeitet. Dies ist gegenwärtig zum Beispiel in der Regierung der Region Andalusien der Fall, der bevölkerungsreichsten autonomen Region Spaniens. Das Fehlen alternativer Formationen, die die Mehrheit begeistern und den Widerstand organisieren könnten, lässt die zahlreichen Menschen aussen vor, die sich nun den Kämpfen anschliessen.

Für viele ist die elektorale Option notwendig, aber nicht ausreichend. Umso mehr als man am Willen gewisser politischer Führungen zweifeln kann, über die Institutionen der «transiciòn» [«Übergang»; der Prozess, der zwischen 1975 und 1978 den Übergang vom Franquismus in eine formelle Demokratie bezeichnete] und des darauffolgenden Regimes hinauszugehen – eine Herausforderung, die antikapitalistische Kühnheit erfordert. Gewisse Organisationen haben sich gleichfalls  als wenig fähig erwiesen, sich ausreichend in der horizontalen, radikal-demokratischen Kultur zu verankern, wie sie durch die Bewegung der Indignad@s eingebracht wurde. Vielleicht kann das Auftauchen von Podemos dazu beitragen, Veränderungen bei ihnen zu beschleunigen.

Wie dem auch sei, dies ist eine Herausforderung, die wir anpacken müssen, mit neuen, für alle verpflichtenden Organisations- und Handlungsformen. Falls sich solche Veränderungen ergeben, umso besser; sie werden die Versammlungen leichter gestalten. Aber selbst wenn einige Reaktionen erfolgen, wurde die Botschaft verstanden? Bis jetzt scheint es eher nein, oder dann wollte man sie nicht hören.

In jedem Fall, für uns, die wir keine Loyalität gegenüber einer Verfassung empfinden (diese wurde 1978 in einem Referendum angenommen und liess viele Fragen offen und wurde im Baskenland verworfen), für die wir nicht gestimmt haben (wie andere auch, von denen man verlangte, zwischen dem Franquismus und dem Zugestehen von einigen sehr beschränkten demokratischen Rechten zu wählen) , ist es erforderlich, etwas Besseres und soweit möglich Einheitliches aufzubauen. Eine Einheit, die sich auf gegenseitiges Zuhören stützt und nicht auf einen Monolog, wo dem Anderen nur widersprochen wird oder der einfach nur darauf abzielt, Lektionen zu erteilen.

Es sind genau diese Fehler von IU und ihrer wichtigsten Komponente, der PCE, und die durch die Initiative  Podemos entstehende Hoffnung, die zahlreiche nicht organisierte Personen –  die sahen, dass ihre persönliche und gemeinsame Zukunft zerbrochen ist – dazu brachten, sich neuen gemeinsamen politischen Organisationsformen anzunähern. Einem politischen Instrument, das sich politischen Massnahmen widersetzt, die die breite Bevölkerung angreifen und das Alternativen vorschlägt, um die Regierung zu vertreiben, das Regime zu überwinden und mit dem Kapitalismus zu brechen.

Zweifelsohne kann sich Podemos nicht die Ausschliesslichkeit der politischen Repräsentation der Linken anmassen. Die mehr oder weniger gefestigte Präsenz von organisierten Kräften, die seit langem über ein Wählerpotential in ganz Spanien verfügen, sowie die linksnationalistischen Kräfte sind eine Realität. Alle sind wichtig und für uns sind alle wichtig. Es ist dringend, uns mit unseren Unterschieden anzuerkennen und insbesondere im Stande zu sein, die Themen und die Mittel zu finden, um gemeinsam Einfluss auszuüben – und dies auch zu tun.

Podemos, eine Herausforderung im Aufbau

Wir möchten daran erinnern, dass wegen des Fehlens wirksamer Gegenmassnahmen (zeitliche Begrenzung der Mandate, Absetzbarkeit, Arbeitspläne und –bilanzen, Rotation der Gewählten, usw.) die Ausdrucksmöglichkeiten der Basis zu einem sehr hohen Grade durch die von der Führung vorgegebenen Rhythmen und von deren Informationspraxis bestimmt wird; dies in einer Situation, wo diese hinsichtlich der Kontakte, der Informationen, der verfügbaren Zeit und der Ressourcen privilegiert ist. Dies erklärt das Zögern dieses Sektors, der  sich bis jetzt nicht repräsentiert fühlt.

Podemos ist ein Zusammenhang der Selbstorganisation, der den Leuten insbesondere die Möglichkeit verschafft, Macht auszuüben, die Dinge im Rahmen der gegenseitigen und kollektiven Unterstützung selbst zu tun; ein Zusammenhang, in dem die Delegation nur zeitweilig sein kann und nur für konkrete Aufgaben definiert ist, wo die Erfahrung, die Verantwortung und die politische Fähigkeit aller auf allen Ebenen sozialisiert wird.

Podemos ist eine Herausforderung, die auf den Weg gebracht wurde. Wenn man sich natürlich auch bewusst sein muss (was gerade für uns gilt), dass es weder magische Formeln, noch einfache und schnelle Rezepte gibt, so bietet es doch etwas an, was andere Instrumente bislang nicht verwirklichen konnten oder doch nur bis zu einem gewissen Punkt, ohne aber sehr weit zu führen; eine horizontale Beteiligung, die sich an demokratische Prozesse hält, ohne vertikale Unterordnung, wie sie von den herrschenden Führungen der bürokratischen Apparaten durchgesetzt wird – ohne eine wirksame demokratische Kontrolle; die Versammlung der Kollektive und der ehrlichen und kämpferischen Personen; eine wirkliche Öffnung um ein politisches Projekt, das eine gute Ausgangsposition hat.

Aus diesem Grund beruht das Potenzial von Podemos grundsätzlich auf den Prozessen der Selbstorganisation der breiten Bevölkerung, der neuen Aktivistinnen und Aktivisten, die daraus hervorgegangen sind – obwohl wir die politischen Organisationen der Linken immer wieder zu einer politischen Strategie aufrufen, sich mit den sozialen Kämpfen zu verbinden. Dieser Aufruf impliziert ohne Zweifel eine Linkswende, die nicht nur in der Förderung von partizipativen Mechanismen besteht, sondern einen Bruch mit dem Sozialliberalismus in jeder Hinsicht erfordert – sei dies nun in Andalusien (wo eine Koalition aus PSOE und IU regiert), auf der Ebene Spaniens oder der EU. Genau auf diesen zwei Punkten stellt sich Izquierda Unida, der «grosse Bruder» der Linken, bis heute taub.

Vielleicht könnten andere Personen, die sich bereits einer anderen Formation angeschlossen haben, dieser Initiative misstrauisch begegnen (weil sie aus Gewohnheit neue Initiativen als Gegner im Wahlkampf interpretieren). Die Leute, die sich über die vergangenen Jahre den sozialen Kämpfen angeschlossen haben oder lediglich mit ihnen sympathisieren und noch nicht organisiert sind, haben sich für Podemos begeistert. Einfach, weil es sich um ein Werkzeug handelt, das sie von gleich zu gleich mitaufbauen können, mit der Garantie, dass man keine Kompromisse mit der hergebrachten Art zu funktionieren macht, weder mit dem Neo- noch mit dem Sozialliberalismus, welcher mancherorts (Frankreich, Andalusien, usw.) ausserordentlich enttäuscht hat.

Eine kollektive, basisdemokratische Führung

Die führenden Personen, die heute den Prozess anstossen, haben eine grosse Verantwortung. Ihre erste Aufgabe besteht darin, sich keine Rollen zuzuschanzen, die andere erfüllen müssen. Sie müssen durch ihre Stimme in einem ständigen Dialog mit der politischen Bewegung, die ihnen diese Rolle anvertraut, die Erwartungen der zahlreichen Menschen respektvoll im Rahmen eines politischen Projektes einbringen.

Indem sie sich gegenüber der führenden Rolle der Circolos (den Basisgruppen, durch die sich Podemos territorial und sektorweise organsiert) loyal verhalten, sollen sie die Kontakte untereinander und die Aktionen innerhalb einzelner gesellschaftlichen Bereiche, des Arbeitslebens und der institutionellen Arbeit  erleichtern und unterstützen, um überall radikale Änderungen voranzubringen.

Geduldig die Ungeduld organisieren und die zentrale Rolle der Circolos

Lassen wir die Hoffnung arbeiten. Ohne Ungeduld, aber pausenlos. Die Wegmarke der Wahlen steht für eine Etappe auf einer Reise, die lange und voller Hindernisse sein wird. Wir wissen, dass wir in unseren Alltagsgewohnheiten einen vertrauensvollen Umgangs miteinander und das Funktionieren mit anderen verankern müssen, um in all den Widerwärtigkeiten voranzukommen. Dies ist unsere erste Aufgabe.

Aufgrund des Gegners, den wir herausfordern müssen und der Anstrengung, die der gegenseitige Austausch der Erfahrungen und Fähigkeiten erfordert, wird der Aufbau eines gemeinsamen politischen Instrumentes nicht leicht sein. Wir werden lernen müssen, einander zuzuhören, mit den Meinungsverschiedenheiten umzugehen, uns auf die gemeinsamen Positionen zu einigen und gemeinsam zu handeln. Wir werden einen lebensfähigen Kompromiss finden müssen, um unser Leben führen zu können ohne unsere Ziele aufzugeben, und ohne dass die Lebensnotwendigkeiten in eine Ecke abgedrängt werden. Wir werden dies erarbeiten und voneinander lernen müssen.

Vor allem werden wir gegen unsere Ungeduld kämpfen müssen, damit diese uns nicht verzehrt oder uns in einen illusorischen Elektoralismus führt. Das Ziel ist viel weiter entfernt, aber wir beginnen uns nun durchzusetzen. Mit dem Beispiel und der Praxis, mit einer offenen Geisteshaltung, denn diese Bewegung ist nicht ausschliessend und kann dies nicht sein; wir werden nur gegenüber Privilegien unnachgiebig sein, wo sie auch seien und wem sie auch gehören mögen. Nur so wird sich eine grössere Einheit herausbilden, in der Verschiedenheit der Menschen an der Basis, und nur so werden zukünftige Erfolge möglich sein.



[1]  Am 15. Mai 2011 fand eine grosse Manifestation auf dem Platz Puerta del Sol in Madrid statt, aus der dann die Bewegung und die Mobilisierungen der Indignados hervorging.

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