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Paris: Der Tag nach COVID hat begonnen

Eingereicht on 11. Juni 2020 – 9:21

Folgender Text ist in eine leicht bearbeite Übersetzung eines im Original auf Französisch bei ACTA erschienen Textes. ACTA ist eine autonome Pariser Online-Zeitung, die 2019 mit dem Ziel Brücken zwischen den unterschiedlichen Akteur*innen der letzten Kampfzyklen zu schlagen. Der folgende Bericht wurde am 3. Juni, sprich einem Tag nach der in Paris stattgefundenen Demonstration gegen Polizeigewalt, die mehr als 30.000 Menschen zusammenbrachte, veröffentlicht.

Der 2. Juni 2020 war einer jener Tage, die den Auftakt eines neuen politischen Abschnitts eröffnen können. Erstens wegen der massiven Mobilisierung, die er erfahren hat, mit mindestens 30.000 anwesenden Demonstrant*innen. Zweitens aufgrund seiner Zusammensetzung, da es mehrheitlich Nicht-Weiße Menschen waren, die sich am Dienstag die Pariser boulevards zu eigen gemacht haben, was die Hauptstadt seit den Unruhen für Gaza im Jahr 2014 nicht mehr erlebt hatte. Und drittens durch die Entschlossenheit, die an den Tag gelegt wurde und in einem extrem offensiven und konfrontativen Kampftag mündete.

Auf der anderen Seite erlebten der französische Staat, das Innenministerium und die Pariser Polizeipräfektur eine große Demütigung. Der Pariser Polizeipräsident Didier Lallement ist seinem üblich provokanten Handeln treu geblieben und hatte nur wenige Stunden vor Beginn der Demonstration das Verbot der Versammlung angekündigt. Außerdem beauftragte er seine Polizei, in das Haus von Assa Traoré, einer antirassistischen Aktivistin und Schwester des 2016 von Polizist*innen ermordeten Adama Traoré, einzubrechen, in einem schändlichen und schlussendlich auch vergeblichen Versuch, die Bewegung einzuschüchtern, deren Ikone sie seit mehreren Jahren ist. Nichts Neues für einen erzkonservativen Politiker, der in der Pariser Polizei erst seit dem 19. Akt der Gelbwesten das Zepter schwingt und gerade wegen seinem eisernen Durchgreifen von Macron und Konsorten nach Paris verlegt wurde.

Bereits um 17.00 Uhr platzierten sich um das Zivilgericht von Porte de Clichy unzählige dunkelblaue Polizeiwagen der Spezialeinsatzkräfte, Wasserwerfer und mobile Einheiten, die seit der Bewegung der Gelbwesten mit ihren Schlagstöcken wedelnd durch die Straßen rasen. Je näher jedoch die Stunde der Kundgebung rückte, desto mehr Menschen flossen von überall her in Richtung des Platzes. Schlussendlich musste die Polizei die Kundgebung doch stattfinden lassen, da innerhalb kürzester Zeit das gesamte Gebiet um der Porte de Clichy von einer extrem dichten Flut von Menschen eingenommen war. Die U-Bahn-Haltestelle “Porte de Clichy” liegt genau zwischen dem stark migrantisch geprägten département Seine Saint-Denis und Paris und hatte lange die höchste Anzahl an Coronavirus-Infektionen in ganz Frankreich

Viele Jugendliche aus den Pariser banlieus füllten den Platz. Letztere sind zweifelsohne keine Stammgäste der sozialen Bewegungen der letzten Jahre, obwohl deren Teilnahme stetig gewachsen ist. Die endlose Verbissenheit der französischen Justiz gegen die Familie Traoré, die seit dem rassistischen Polizeimord an Adama Traoré gegen die Straflosigkeit des Mörders von Adama kämpfen, sowie das starke Echo des anhaltenden Aufstands in den USA haben zum Ausbruch dieser Woche beigetragen. Der Hashtag #BlackLivesMatter war allgegenwärtig, genauso wie die Slogans #JusticeForAdama und #JusticeForGeorgeFloyd. Partei- und Gewerkschaftsflaggen, die es in den letzten vier Jahren immer schwieriger hatten, ihren Weg zu den Demonstrationen zu finden, waren weit und breit nicht zu sehen.

Während die Versammlung von Stunde zu Stunde größer wurde, erschienen die Ergebnisse der neusten unabhängigen Gutachten über die Todesursache von Adama Traoré. Der Bericht bestätigt, was das “Kommitee für Wahrheit und Gerechtigkeit für Adama” seit Jahren sagt und zwar, dass der kleine Bruder von Assa Traoré durch “Erstickung” gestorben ist. Zwei erstellte Gutachten des Gerichts hatten diese These zuvor angefochten und beide Male sind die verantwortlichen Polizisten unbestraft davongekommen. Die Parallelen zum Mord von George Floyd liegen offen auf der Hand: beide erstickten unter dem Gewicht von drei Polizist*innen und in beiden Fällen haben die offiziellen Gutachten Atemprobleme der Opfer als Todesursache festgehalten.

Diese Verbrechen sind sich so schrecklich ähnlich, weil sie Teil einer gemeinsamen Geschichte sind. Und zwar jener des Rassismus, einer der Eckpfeiler der westlichen Gesellschaften . Diese Mordgeschichte ist jedoch zugleich eine Geschichte des Aufstands. Die wiederholt von der Menschenmasse skandierten Parolen “tout le monde déteste la police” (Die ganze Welt hasst die Polizei, Anm. d. Red.) und “Revolution! Revolution!” (letztere ist ebenfalls ein Erbe der Gelbwesten) zeugen für die Entschlossenheit, ein neues Kapitel in dieser Geschichte zu schreiben.

Jene Teile der Gewerkschaften, die sich seit Jahren in antirassistischen Bündnissen organisieren, waren ebenfalls anwesend. Insbesondere die Teilnahme von Arbeiter*innen des Krankenhauspersonals des „Hopital Robert Debré“ zeigt die bereits reifen und starken Verbindungen, die für die bevorstehenden Kämpfe in unsicheren Zeiten ausschlaggebend sein werden.

Nach den Redebeiträgen waren die Entschlossenheit und der Unmut aller Anwesenden immer spürbarer und es kam sehr schnell zu Auseinandersetzungen mit der Polizei und gezielten Angriffen gegen Supermärkte und Polizeiwachen. Wie während der schönsten Kampftage der letzten vier Jahre war die Stimmung aufbrausend und der festliche Zorn der banlieus brachte Paris zum Knistern. Nach den unendlich tristen Wochen der Quarantäne floss eine kollektive Kraft wieder durch die Straßen, und zwar die der migrantischen Arbeiter*innenviertel des Pariser Nordens.

Wenige Tage nach einer konfrontativen Demonstration für das Bleiberecht von illegalisierten Migrant*innen am 30. Mai und eine Woche nach der Kundgebung für Gabriel, einem 14-jährigen Teenager, welcher in Bondy von Polizisten zusammengeschlagen wurde, ist die rassistische Staatsgewalt zum Dreh- und Angelpunkt im Wiederaufflammen der sozialen Auseinandersetzung geworden. Dieser politischer Knotenpunkt ist vor dem Hintergrund auseinanderklaffender Klassenverhältnisse durch die Folgen der Coronakrise umso wichtiger. Die Krise trifft nicht alle gleich und die Pariser Arbeiter*innenkinder haben Hunger.

Die Stoßwelle ist global. Es liegt an uns, aus dem letzten Dienstag den Ausgangspunkt für eine neue Phase der Selbstorganisierung zu machen, um unsere politischen Bündnisse weiter zu festigen und ein Lager revolutionärer Kräfte aufzubauen. Die für den 16. Juni vorhergesehene Demonstration der Pflegekräfte bietet hierfür eine wertvolle Gelegenheit.

Von Minneapolis bis nach Paris, Make Racists Afraid Again !

Quelle: lowerclassmag.com… vom 11. Juni 2020

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