Sektierertum, Zentrismus und die Vierte Internationale
Leo Trotzki analysiert die Rolle dieser Tendenzen in der revolutionären Bewegung. Wir veröffentlichen diesen Text vom 22. Oktober 1935 erstmalig auf Deutsch.
Es wäre absurd, die Präsenz sektiererischer Tendenzen in unseren Reihen zu leugnen. Sie sind durch eine ganze Reihe von Diskussionen und Spaltungen aufgedeckt worden. Wie hätte ein Element des Sektierertums sich nicht in einer ideologischen Bewegung manifestieren können, die unversöhnlich gegen alle dominanten Organisationen der Arbeiterklasse steht und die weltweit monströsen, absolut beispiellosen Verfolgungen ausgesetzt ist? Reformisten und Zentristen nehmen gerne jede Gelegenheit wahr, um mit dem Finger auf unser „Sektierertum“ zu zeigen; und meistens haben sie nicht unsere schwache, sondern unsere starke Seite im Auge: Unsere ernsthafte Haltung gegenüber der Theorie; unser Bemühen, jede politische Situation auszuloten und klare Parolen vorzubringen; unsere Feindseligkeit gegenüber „einfachen“ und „bequemen“ Entscheidungen, die heute von Sorgen befreien, morgen aber eine Katastrophe vorbereiten. Von Opportunisten kommend, ist der Vorwurf des Sektierertums meist ein Kompliment.
Marx’sche Unterscheidungen
Merkwürdigerweise werden wir jedoch nicht nur von Reformisten und Zentristen des Sektierertums bezichtigt, sondern auch von Gegnern aus der „Linken“, den notorischen Sektierern, die auch als Ausstellungsstücke in jedem Museum stehen könnten. Die Grundlage für ihre Unzufriedenheit mit uns liegt in unserer Unversöhnlichkeit mit ihnen selbst, in unserem Streben, uns von den infantilen sektiererischen Krankheiten zu reinigen und auf eine höhere Ebene zu gelangen.
Oberflächlich betrachtet mag es scheinen, dass solche Worte wie sektiererisch, zentristisch usw. lediglich polemische Ausdrücke sind, die von Gegnern mangels anderer und passenderer Epitheta ausgetauscht werden. Doch sowohl der Begriff des Sektierertums als auch der Begriff des Zentrismus haben in einem marxistischen Wörterbuch eine präzise Bedeutung. Der Marxismus hat ein wissenschaftliches Programm auf den Gesetzen aufgebaut, die die Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft regeln und die von ihm entdeckt wurden. Dies ist eine kolossale Eroberung! Es reicht jedoch nicht aus ein korrektes Programm zu erstellen. Es ist notwendig, dass die Arbeiterklasse es akzeptiert. Aber es liegt in der Natur der Sache, dass der Sektierer nach der ersten Hälfte der Aufgabe stehen bleibt. Das aktive Eingreifen in den tatsächlichen Kampf der Arbeitermassen wird für ihn durch die abstrakte Propaganda eines marxistischen Programms ersetzt.
Die sektiererische Sicht der Gesellschaft
Jede Partei der Arbeiterklasse, jede Fraktion durchläuft in ihrer Anfangsphase eine Periode der reinen Propaganda, d.h. der Ausbildung ihrer Kader. Die Periode des Bestehens als marxistischer Zirkel prägt ausnahmslos die Gewohnheiten einer abstrakten Herangehensweise an die Probleme der Arbeiterbewegung. Wer nicht in der Lage ist, die Grenzen dieser umschriebenen Existenz rechtzeitig zu überschreiten, verwandelt sich in einen konservativen Sektierer. Der Sektierer betrachtet das Leben der Gesellschaft als eine große Schule, in der er selbst Lehrer ist. Seiner Meinung nach sollte die Arbeiterklasse ihre weniger wichtigen Angelegenheiten beiseitelegen und sich in einer festen Reihe um sein Podium versammeln: dann wäre die Aufgabe gelöst.
Obwohl es in jedem Satz auf den Marxismus schwört, ist das Sektierertum die direkte Negation des dialektischen Materialismus, der von der Erfahrung ausgeht und immer wieder zu ihr zurückkehrt. Ein Sektierer versteht nicht die dialektische Aktion und Reaktion zwischen einem fertigen Programm und einem lebendigen, d.h. unvollkommenem und unvollendetem Kampf der Massen. Die Denkweise des Sektierers ist die eines Rationalisten, eines Formalisten und eines Aufklärers. In einem bestimmten Entwicklungsstadium ist der Rationalismus progressiv und richtet sich „kritisch gegen blinde Überzeugungen und Aberglauben (das achtzehnte Jahrhundert!)“. Das progressive Stadium des Rationalismus wiederholt sich in jeder großen emanzipatorischen Bewegung. Aber der Rationalismus (abstrakter Propagandismus) wird zu einem reaktionären Faktor, sobald er sich gegen die Dialektik richtet. Das Sektierertum ist der Dialektik (nicht in Worten, sondern in Taten) in dem Sinne feindlich gesinnt, dass es der tatsächlichen Entwicklung der Arbeiterklasse den Rücken kehrt.
Vorgefertigte Formeln
Der Sektierer lebt in einer Sphäre von Fertigformeln. In der Regel zieht das Leben an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken; aber hin und wieder erhält er im Vorbeiziehen einen solchen Impuls, dass er sich um 180 Grad um seine Achse dreht und oft auf seinem geraden Weg weitergeht, nur … in die entgegengesetzte Richtung. Aus der Uneinigkeit mit der Realität ergibt sich für den Sektierer die Notwendigkeit, seine Formeln ständig zu präzisieren. Dies geschieht unter dem Namen der Diskussion. Für einen Marxisten ist die Diskussion ein wichtiges, aber funktionales Instrument des Klassenkampfes. Für einen Sektierer ist die Diskussion an sich ein Ziel. Je mehr er jedoch diskutiert, desto mehr entgehen ihm die eigentlichen Aufgaben. Er ist wie ein Mann, der seinen Durst mit Salzwasser stillt; je mehr er trinkt, desto durstiger wird er. Daher die ständige Reizbarkeit des Sektierers. Wer hat ihm das Salz zugesteckt? Sicherlich die „Kapitulanten“ des Internationalen Sekretariats. Der Sektierer sieht einen Feind in jedem, der ihm zu erklären versucht, dass eine aktive Teilnahme an der Arbeiterbewegung ein ständiges Studium der objektiven Bedingungen erfordert und nicht hochmütiges Bedrängen von der Tribüne des Sektierertums. Für die Analyse der Realität ersetzt der Sektierer Intrigen, Klatsch und Hysterie.
Zwillinge und Antipoden
Der Zentrismus ist in gewisser Weise das genaue Gegenteil des Sektierertums; er verabscheut präzise Formeln, sucht Wege zur Realität außerhalb der Theorie. Aber trotz Stalins berühmter Formel erweisen sich „Antipoden“ oft als … „Zwillinge“. Eine vom Leben losgelöste Formel ist hohl. Die lebendige Wirklichkeit ist ohne Theorie nicht greifbar. So gehen beide, der Sektierer und der Zentrist, am Ende mit leeren Händen auseinander und verbinden sich … in ihrem Gefühl der Feindseligkeit gegenüber dem echten Marxisten.
Wie oft sind wir schon einem selbstgefälligen Zentristen begegnet, der sich selbst für einen „Realisten“ hält, nur weil er ohne jeglichen ideologischen Ballast schwimmen geht und von jeder umherziehenden Strömung mitgerissen wird. Er ist unfähig zu verstehen, dass Prinzipien kein toter Ballast sind, sondern eine Rettungsleine für einen revolutionären Schwimmer. Der Sektierer hingegen will in der Regel gar nicht schwimmen gehen, um seine Prinzipien nicht nass zu machen. Er sitzt an den Ufern und liest der Flut des Klassenkampfes Vorträge über Moral vor. Aber manchmal springt ein verzweifelter Sektierer kopfüber ins Wasser, ergreift den Zentristen und hilft ihm beim Ertrinken. So war es; so wird es sein.
* * *
In unserer Epoche des Zerfalls und der Zerstreuung gibt es in verschiedenen Ländern eine ganze Reihe von Zirkeln, die sich ein marxistisches Programm angeeignet haben, meist durch das Ausleihen von den Bolschewiki, die dann ihr ideologisches Gerüst mehr oder weniger stark in Verknöcherung verwandelt haben.
Nehmen wir zum Beispiel das beste Exemplar dieser Art, namentlich die belgische Gruppe unter der Leitung des Genossen Vereecken. Am 10. August kündigte der Spartakus, das Organ dieser Gruppe, seinen Beitritt zur Vierten Internationale an. Diese Ankündigung war zu begrüßen. Aber gleichzeitig muss man im vornherein sagen, dass die Vierte Internationale dem Untergang geweiht wäre, wenn sie Zugeständnisse an sektiererische Tendenzen machen würde.
Vereeckens Vorhersagen
Vereecken war zu seiner Zeit ein unversöhnlicher Gegner des Eintritts der Kommunistischen Liga Frankreichs in die Sozialistische Partei. Das ist kein Verbrechen: Die Frage war eine neue, der Schritt ein Riskanter, Differenzen waren durchaus zulässig. In gewissem Sinne ähnlich zulässig, oder jedenfalls unvermeidlich, waren Übertreibungen im ideologischen Kampf. So traf Vereecken die Vorhersage, dass der unvermeidliche Ruin der internationalen Organisation der Bolschewiki-Leninisten als Folge ihrer „Auflösung“ in der Zweiten Internationale bevorstünde. Wir würden Vereecken raten, die prophetischen Dokumente von gestern heute im Spartakus nachzudrucken. Aber das ist nicht das Hauptübel. Schlimmer noch ist die Tatsache, dass sich der Spartakus in seiner jetzigen Erklärung darauf beschränkt ausweichend darauf hinzuweisen, dass die französische Sektion ihren Prinzipien „in einem beträchtlichen, man kann sogar sagen, großen Maße“ treu geblieben ist. Hätte Vereecken sich so verhalten, wie es ein marxistischer Politiker tun sollte, hätte er klar und deutlich gesagt, wo unsere französische Sektion von ihren Prinzipien abgewichen ist, und er hätte eine direkte und offene Antwort auf die Frage gegeben, wer Recht hatte: die Befürworter oder die Gegner des Eintritts?
Demokratischer Zentralismus
Noch unkorrekter ist Vereecken in seiner Haltung gegenüber unserer belgischen Sektion, die der reformistischen Arbeiterpartei1 beigetreten ist. Anstatt die Erfahrungen aus der Arbeit unter neuen Bedingungen zu studieren und die tatsächlich unternommenen Schritte zu kritisieren, wenn sie kritikwürdig sind, beklagt sich Vereecken weiterhin über die Bedingungen der Diskussion, in der er eine Niederlage erlitten hat. Die Diskussion war, wie Sie sehen, unvollständig, unzulänglich und illoyal: Es gelang Vereecken nicht, seinen Durst mit Salzwasser zu stillen. Es gibt keinen „echten“ demokratischen Zentralismus in der Liga! Im Verhältnis zu den Gegnern des Beitritts zeigte die Liga … … „Sektierertum“. Es ist klar, dass der Genosse Vereecken eine liberale und keine marxistische Auffassung von Sektierertum hat: Damit nähert er sich offensichtlich den Zentristen an. Es ist nicht wahr, dass die Diskussion unzulänglich war; sie wurde mehrere Monate lang mündlich und in der Presse geführt, außerdem auf internationaler Ebene. Nachdem es Vereecken nicht gelungen war, andere davon zu überzeugen, dass das Herumstehen an einem Ort die beste revolutionäre Politik ist, weigerte er sich, sich an die Entscheidungen der nationalen und internationalen Organisationen zu halten. Die Vertreter der Mehrheit sagten mehr als einmal zu Vereecken, dass wenn die Erfahrung zeugen würde, dass der unternommene Schritt falsch ist, wir ihn gemeinsam korrigieren würden. Ist es wirklich möglich, dass es ihnen nach dem zwölfjährigen Kampf der Bolschewiki-Leninisten an ausreichendem Vertrauen in ihre eigene Organisation mangelt, um auch bei taktischen Meinungsverschiedenheiten die Disziplin des Handelns zu wahren? Vereecken hat auf kameradschaftliche und versöhnliche Argumente keine Rücksicht genommen. Nach dem Eintritt der Mehrheit der belgischen Sektion in die Arbeiterpartei fand sich die Vereecken-Gruppe natürlich außerhalb unserer Reihen wieder. Die Schuld dafür liegt allein auf ihren eigenen Schultern.
Anpassung an die „Legalität“
Wenn wir zum Kern der Frage zurückkehren, dann fällt das Sektierertum des Genossen Vereecken in seiner ganzen dogmatischen Grobheit auf. Was ist das! Rief Vereecken empört auf, Lenin sprach vom Bruch mit den Reformisten, aber die belgischen Bolschewiki-Leninisten treten einer reformistischen Partei bei! Doch Lenin dachte an einen Bruch mit den Reformisten als unausweichliche Folge eines Kampfes gegen sie und nicht an einen Akt der Erlösung, unabhängig von Zeit und Ort. Er verlangte eine Spaltung mit den Sozialpatrioten nicht, um seine eigene Seele zu retten, sondern um die Massen vom Sozialpatriotismus wegzureißen (Hervorhebung der Übersetzung). In Belgien sind die Gewerkschaften mit der Partei verschmolzen, die belgische Partei ist im Wesentlichen die organisierte Arbeiterklasse. Der Eintritt von Revolutionären in die belgische Arbeiterpartei eröffnete freilich nicht nur Möglichkeiten, sondern legte auch Beschränkungen auf. Bei der Propagierung marxistischer Ideen ist es notwendig, nicht nur die Legalitäten des bürgerlichen Staates, sondern auch die Legalitäten einer reformistischen Partei zu berücksichtigen (diese beiden Legalitäten stimmen, wie man hinzufügen kann, in hohem Maße überein). Im Allgemeinen birgt die Anpassung an eine fremde „Legalität“ eine unzweifelhafte Gefahr in sich. Das hinderte die Bolschewiki jedoch nicht daran, selbst die zaristische Legalität zu nutzen: Viele Jahre lang waren die Bolschewiki gezwungen, sich auf Gewerkschaftsversammlungen und in der legalen Presse nicht als Sozialdemokraten, sondern als „konsequente Demokraten“ zu bezeichnen. Wahrlich, dies geschah nicht unproblematisch; eine beträchtliche Anzahl von Elementen hielt am Bolschewismus fest, die mehr oder weniger konsequente Demokraten, aber keineswegs internationale Sozialisten waren; indem der Bolschewismus jedoch legale mit illegalen Aktivitäten ergänzte, überwand er die Schwierigkeiten. Natürlich erlegt die „Legalität“ von Vandervelde, De Man, Spaak und anderen Lakaien der belgischen Plutokratie den Marxisten sehr lästige Beschränkungen auf und birgt somit Gefahren in sich. Aber Marxisten, die noch nicht stark genug sind, um eine eigene Partei zu gründen, haben ihre eigenen Methoden für den Kampf gegen die Gefahren der reformistischen Gefangenschaft: ein klares Programm, ständige Fraktionsbindungen, internationale Kritik usw. Die Aktivität eines revolutionären Flügels in einer reformistischen Partei kann nur durch die Bewertung der Dynamiken der Entwicklung richtig beurteilt werden. Vereecken tut dies weder in Bezug auf die Fraktion Action Socialiste Révolutionaire (Linker Flügel in der belgischen Arbeiterpartei – Hrsg.) noch in Bezug auf die Verité- Gruppe. Hätte er dies getan, wäre er gezwungen gewesen, zuzugeben, dass die A.S.R. in der letzten Zeit eine ernsthafte Entwicklung nach vorne gemacht hat. Was die endgültige Bilanz sein wird, lässt sich noch nicht vorhersagen. Aber der Eintritt in die belgische Arbeiterpartei ist bereits durch die Erfahrung gerechtfertigt.
Die Diskussion als Dogma
Seinen Fehler ausweitend und verallgemeinernd, behauptet Vereecken, dass die Existenz isolierter kleiner Gruppen, die sich in verschiedenen Phasen von unserer internationalen Organisation abspalteten, ein Beweis für unsere sektiererischen Methoden sei. So werden die tatsächlichen Beziehungen auf den Kopf gestellt. Tatsächlich kamen in die Reihen der Bolschewiki-Leninisten in der Anfangsphase eine beträchtliche Zahl anarchistischer und individualistischer Elemente, die im Allgemeinen unfähig waren organisatorische Disziplin zu üben, und gelegentlich ein Gescheiterter, der es nicht geschafft hatte in der Komintern Karriere zu machen. Diese Elemente betrachteten den Kampf gegen den „Bürokratismus“ in etwa wie folgt: Es dürfen niemals Entscheidungen getroffen werden, sondern die „Diskussion“ soll als ständige Beschäftigung eingeführt werden. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass die Bolschewiki-Leninisten viel, vielleicht sogar zu viel Geduld gegenüber solchen Typen von Einzelpersonen und Gruppen bewiesen. Erst seit sich ein internationaler Kern konsolidiert hat, der die nationalen Sektionen bei der Säuberung ihrer Reihen von interner Sabotage zu unterstützen begann, begann ein tatsächliches und systematisches Wachstum unserer internationalen Organisation.
Nehmen wir einige Beispiele von Gruppen, die sich von unserer internationalen Organisation in verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung abgespalten haben.
Ein seltsames Beispiel
Die französische Zeitung Que Faire ist ein lehrreiches Beispiel für eine Kombination von Sektierertum und Eklektizismus. Zu den wichtigsten Fragen legt diese Zeitschrift die Ansichten der Bolschewiki-Leninisten dar, ändert einige Kommas und richtet schwere kritische Bemerkungen an uns. Gleichzeitig erlaubt sich diese Zeitung ungestraft eine Verteidigung von sozialpatriotischem Müll, unter dem Deckmantel der Diskussion und unter dem Deckmantel der „Verteidigung der UdSSR“. Die Internationalisten von Que Faire sind selbst nicht in der Lage zu erklären, wie und warum sie nach dem Bruch mit den Bolschewiki mit Sozialpatrioten friedlich zusammenleben. Es ist jedoch klar, dass Que Faire mit einem solchen Eklektizismus am wenigsten in der Lage ist, auf die Frage zu antworten, was zu tun ist (que faire). Die „Internationalisten“ und die Sozialpatrioten sind sich nur in einem Punkt einig: Niemals die Vierte Internationale! Und warum? Man darf sich nicht von den kommunistischen Arbeitern „losreißen“. Wir haben von der S.A.P. das selbstsichere Argument gehört: Wir dürfen uns nicht von den sozialdemokratischen Arbeitern trennen. Auch in diesem Fall entpuppen sich die Antipoden als Zwillinge. Das Merkwürdige ist jedoch, dass Que Faire nicht mit den Arbeitern verbunden ist und, aufgrund ihrer eigenen Natur, auch nicht mit ihnen verbunden sein kann.
Noch weniger ist über solche Gruppen wie Internationale oder Proletaire zu sagen. Sie abstrahieren ihre Ansichten auch aus den letzten Ausgaben von La Verité, wobei sie ihnen kritische Improvisationen beimischen. Sie haben überhaupt keine Perspektiven für ein revolutionäres Wachstum; aber sie schaffen es, ohne Perspektiven auszukommen. Anstatt zu versuchen, im Rahmen einer ernsthafteren Organisation zu lernen (zu lernen ist schwierig), wollen diese Verächter der Disziplin und sehr anmaßenden „Führer“ die Arbeiterklasse unterrichten (dies scheint ihnen leichter zu fallen). In Momenten nüchterner Überlegung müssen sie selbst erkennen, dass ihre bloße Existenz als „unabhängige“ Organisationen ein reines Missverständnis ist.
Field und Weisbord
In den Vereinigten Staaten könnten wir die Gruppen um Field und Weisbord erwähnen. Field – in seiner gesamten politischen Zusammensetzung – ist ein bürgerlicher Radikaler, der sich die ökonomischen Ansichten des Marxismus angeeignet hat. Um ein Revolutionär zu werden, hätte Field einige Jahre lang als disziplinierter Soldat in einer revolutionären proletarischen Organisation arbeiten müssen; aber er begann mit der Entscheidung „seine eigene“ Arbeiterbewegung zu gründen. Field nahm eine Position zu unserer „Linken“ ein (wo sonst?) und ging kurz darauf brüderliche Beziehungen mit der S.A.P. ein. Wie wir sehen, war der anekdotische Vorfall, der Bauer widerfuhr, keineswegs zufällig. Der Drang, sich Links des Marxismus zu stellen, führt tödlich in den Zentristischen Sumpf.
Weisbord ist zweifellos näher an einem revolutionären Typus als Field. Aber gleichzeitig stellt er das reinste Beispiel eines Sektierers dar. Er ist völlig unfähig, weder in Ideen noch in Handlungen, Verhältnisse zu bewahren. Jedes Prinzip macht er zu einer sektiererischen Karikatur. Deshalb werden selbst richtige Ideen in seinen Händen zu Instrumenten, um seine eigenen Reihen zu desorganisieren.
Es ist nicht nötig, sich mit ähnlichen Gruppen in anderen Ländern aufzuhalten. Sie spalteten sich von uns ab, nicht weil wir intolerant oder unerträglich sind, sondern weil sie selbst nicht vorwärtsgehen wollten und konnten. Seit dem Moment der Spaltung ist es ihnen nur gelungen, ihre Unfähigkeit aufzudecken. Ihre Versuche, sich auf nationaler oder internationaler Ebene miteinander zu vereinigen, haben in keinem einzigen Fall zu Ergebnissen geführt: dem Sektierertum eigen ist nur die Kraft der Abstoßung und nicht die Kraft der Anziehung.
Irgendein Spinner hat die Anzahl der „Spaltungen“ gezählt, die wir hatten und kam auf etwa zwanzig. Er sah darin einen vernichtenden Beweis für unsere schlechte Führung. Das Merkwürdige ist, dass es in der S.A.P. selbst, die diese Berechnungen triumphierend veröffentlicht hat, in den wenigen Jahren ihres Bestehens mehr Risse und Spaltungen gab, als in allen unseren Sektionen zusammen. Für sich genommen ist diese Tatsache jedoch bedeutungslos. Es ist notwendig, nicht die kahle Statistik der Spaltungen, sondern die Dialektik der Entwicklung zu nehmen. Nach all ihren Spaltungen ist die S.A.P. eine äußerst heterogene Organisation geblieben, die nicht in der Lage sein wird den ersten Ausbruch großer Ereignisse zu überstehen. Dies gilt in größerem Maße auch für das „Londoner Büro der Revolutionären Sozialistischen Einheit“ (“London Bureau of Revolutionary Socialist Unity”), das von unversöhnlichen Widersprüchen zerrissen wird: Seine Zukunft wird nicht aus „Einheit“, sondern nur aus Spaltungen bestehen. In der Zwischenzeit wuchs die Organisation der Bolschewiki-Leninisten, nachdem sie sich von sektiererischen und zentristischen Tendenzen gereinigt hatte, nicht nur zahlenmäßig, sondern verstärkte ihre internationalen Verbindungen und fand auch den Weg zur Fusion mit Organisationen, die ihr ähnlich sind (Holland, Vereinigte Staaten). Die Versuche, die niederländische Partei (von rechts, durch Molinar!) und die amerikanische Partei (von links, durch Bauer!) in die Luft zu sprengen, haben nur zu einer internen Konsolidierung dieser beiden Parteien geführt. Wir können mit Sicherheit voraussagen, dass parallel zur Auflösung des Londoner Büros ein immer schnelleres Wachstum der Organisationen der Vierten Internationale stattfinden wird.
Der Weg zur Neuen Internationale
Wie die Neue Internationale Gestalt annehmen wird, welche Etappen sie durchlaufen wird, welche endgültige Gestalt sie annehmen wird – das kann heute niemand vorhersagen; und es ist auch nicht nötig: Die historischen Ereignisse werden es zeigen. Aber es ist notwendig, damit zu beginnen, ein Programm zu verkünden, das den Aufgaben unserer Epoche gerecht wird. Auf der Grundlage dieses Programms ist es notwendig, die Mitdenker, die Pioniere der Neuen Internationale, zu mobilisieren. Kein anderer Weg ist möglich.
Das Kommunistische Manifest von Marx und Engels, das sich direkt gegen alle Arten des utopisch-sektiererischen Sozialismus richtet, weist eindringlich darauf hin, dass Kommunisten sich nicht gegen die eigentlichen Arbeiterbewegungen stellen, sondern an ihnen als Avangarde teilnehmen. Zugleich war das Manifest das Programm einer neuen Partei auf nationaler und internationaler Ebene. Der Sektierer begnügt sich mit einem Programm, als Rezept der Erlösung. Der Zentrist lässt sich von der berühmten (im Wesentlichen bedeutungslosen) Formel Eduard Bernsteins leiten: „Die Bewegung ist alles; das Endziel – nichts“. Der Marxist zieht sein wissenschaftliches Programm aus der Bewegung als Ganzes, um dieses Programm dann auf jede konkrete Phase der Bewegung anzuwenden.
Die Anfangsschwierigkeiten
Auf der einen Seite werden die ersten Schritte der Neuen Internationale durch die alten Organisationen und deren Splitter erschwert, während sie auf der anderen Seite durch die kolossalen Erfahrungen der Vergangenheit erleichtert werden. Der in den ersten Phasen sehr schwierige und quälende Kristallisationsprozess wird in Zukunft einen ungestümen und schnellen Charakter annehmen. Die jüngsten internationalen Ereignisse sind für die Bildung der revolutionären Avantgarde von ungeheurer Bedeutung. Auf seine eigene Weise hat Mussolini – und das sollte man anerkennen – der Sache der Vierten Internationale „geholfen“. Große Konflikte fegen alles Halbfertige und Künstliche weg und geben andererseits all dem Kraft, was funktionsfähig ist. Der Krieg lässt in den Reihen der Arbeiterbewegung nur Platz für zwei Tendenzen: den Sozialpatriotismus, der vor keinem Verrat Halt macht, und den revolutionären Internationalismus, der kühn und fähig ist, bis zum Ende zu gehen. Genau aus diesem Grund, aus Angst vor den bevorstehenden Ereignissen, führend die Zentristen einen wütenden Kampf gegen die Vierte Internationale. Sie haben auf ihre Weise Recht: In dem Kontext großer Erschütterungen wird nur jene Organisation überleben und sich entwickeln können, die ihre Reihen nicht nur vom Sektierertum gesäubert hat, sondern die sie systematisch im Geist der Verachtung aller ideologischen Schwankung und Feigheit ausgebildet hat.
- Oktober 1935
Quelle: New Militant, Vol II No. 1, 4. Januar 1936, S. 3.
Transkription/Markierung: Einde O’Callaghan für das Trotzki-Internetarchiv (20. März 2018). Abschrift links: Leo Trotzki Internet-Archiv (www.marxists.org) 2018. Creative Commons (Teilen & Attribut).
Fußnoten
- 1. Fußnote Anmerkung der Übersetzung: Gemeint ist die Belgische Arbeiterpartei (Parti Ouvrier Belge)
Quelle: klassegegenklasse.org… vom 12. November 2020
Tags: Arbeiterbewegung, Lenin, Marx, Strategie, Trotzki
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