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Plattformkapitalismus und die Reorganisation der Arbeit

Eingereicht on 14. März 2021 – 19:04

Patricia Fachin. Wenn einerseits die technologisch-wissenschaftliche Entwicklung die Schaffung neuer Technologien ermöglicht hat, wie z. B. die Nutzung von Apps zum Kauf von Essen, so hat sie andererseits den Kapitalismus und folglich auch die Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse verändert und verändert sie weiterhin. Zu den Berufen, die in dieser Zeit des technologischen Wandels im Mittelpunkt der soziologischen Analyse stehen, gehören die Arbeiter der Lieferplattformen, die allein in London bereits für 80 % aller Lieferungen zuständig sind.

Callum Cant, Doktor der Soziologie an der University of West London, untersucht, wie der Plattform-Kapitalismus organisiert ist und welche Auswirkungen er auf die Reorganisation der Arbeit, das tägliche Leben der Arbeiter und die Organisation kollektiver Aktionen zur Forderung besserer Arbeitsbedingungen hat. Nach Abschluss seines Masterstudiums arbeitete er für die 2013 in London gegründete Deliveroo-Food Delivery, die derzeit in mehreren Ländern vertreten ist, darunter die Niederlande, Frankreich, Belgien, Irland, der Schweiz, Spanien, Italien, Australien, Neuseeland, Singapur, Hongkong, die Vereinigten Arabischen Emirate und Kuwait.

Im Februar dieses Jahres nahm Cant am XIX. Internationalen Symposium IHU Homo Digitalis -The Escalation of the Algorithmization of Life – teil, das vom Institut Humanitas Unisinos-IHU gefördert und über dessen YouTube-Kanal ausgestrahlt wurde. In dem Vortrag mit dem Titel «Algorithmic Discrimination and Social Justice» (Algorithmische Diskriminierung und soziale Gerechtigkeit) berichtet er von seiner persönlichen Erfahrung der Teilnahme an den Streiks, die zwischen 2016 und 2017 in London und Brighton (England) stattfanden, den Gründen für den Widerstand der Streikenden, den Konflikten zwischen Arbeitern und Plattformen sowie von den Grenzen und Möglichkeiten der neuen vernetzten Arbeitsorganisationen.

Im Folgenden geben wir seinen Vortrag in Form eines Interviews wieder, in dem er beschreibt, wie Lieferplattformen funktionieren, die von einem algorithmischen Management überwacht werden, und wie diese Art der Tätigkeit prekäre Arbeitsplätze geschaffen hat. «In England ist eine der Hauptauswirkungen, dass es in diesem Sektor keinen Mindestlohn gibt, es gibt keine Möglichkeit zu garantieren, dass der Arbeiter das Minimum verdient. Wir verdienen keine 8 Pfund pro Stunde, egal was passiert. Wir können null Pfund pro Stunde verdienen. Das bedeutet, dass die Löhne aussergewöhnlich niedrig sein können, weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn, weil wir technisch gesehen nicht arbeiten.»

Cant zeigt auch die Notlage von Einwanderern auf, die durch die Angst vor Abschiebung zu einer sehr verletzlichen Bevölkerungschicht geworden sind, die für jeden Lohn arbeitet. «Mein Argument ist, dass dies grundlegend ist für das, was auf den Essensplattformen geschieht. Da es kein formelles Arbeitsverhältnis und keinen Mindestlohn gibt, sind viele Arbeiter undokumentierte Einwanderer aus dem globalen Süden, die ihre Lieferungen auf Motorrädern erledigen und niedrige Löhne erhalten. Sie sind gezwungen, diese Bedingungen zu akzeptieren, denn wenn sie versuchen, sich zu wehren, riskieren sie Abschiebung und Repression», sagt er. Callum Cant ist freier Autor und Forscher, promovierte in Soziologie an der University of West London und ist Autor von Riding for Deliveroo (Polity, 2019). Sein Buch ist ein Porträt einer neuen Klasse von kämpferischen Arbeitern.

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Um was geht es in deiner Forschung über Algorithmen vs. soziale Gerechtigkeit?

Ich werde über «Algorithmen vs. soziale Gerechtigkeit: Der Widerspruch zwischen der Produktion im Plattformkapitalismus und der ‚freien Assoziation der Produzenten’» sprechen. Was ich damit meine? Grundsätzlich gehe ich von der Marx’schen Prämisse aus, dass diese neueste Entwicklung der Produktionsweise den Interessen der Arbeiter, die ja eigentlich die ganze Arbeit machen, im Innersten widerspricht. Während dies wie ein relativ radikaler Ausgangspunkt erscheinen mag, ist dies tatsächlich der Ort, an dem ein Großteil der Forschung über die Gig-Ökonomie beginnt, nämlich im Plattform-Kapitalismus. In diesem Bereich gibt es eine sehr starke Strömung der marxistischen Forschung. Diese Strömung überwiegt bis heute.

Was ist in diesem Sektor vor sich gegangen? Ich denke, es ist wichtig, von folgender Prämisse auszugehen: Was diesen Sektor bisher charakterisiert hat, ist kollektives Handeln. Also von der Entwicklung einer Art Plattform-Kapitalismus in seinen frühen Formen – und insbesondere werde ich mich auf Essenslieferplattformen konzentrieren; im Jahr 2015 gab es Unternehmen wie Deliveroo, Ubereats, u.a., die ihre Lieferplattformen starteten. Und von Anfang an hat es in dieser Branche Konflikte gegeben. Diese wurden immer als kollektives Handeln der Arbeiter und Arbeiterrinnen verstanden, und dieser Trend des Konflikts, der sich bis heute zeigt, hat sich fortgesetzt. Man muss sich nur anschauen, was vor Monaten in Sao Paulo passiert ist, um zu sehen, dass diese kontinuierliche Welle von Kämpfen das bestimmende Merkmal dieser Plattformen ist. Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit bestimmt, wie wir dieses Feld verstehen müssen. Für mich gibt es also keine echte Studie über die Gig-Ökonomie, ohne auf kollektives Handeln einzugehen, und meine gesamte Forschung in diesem Bereich konzentriert sich auf das Feld des kollektiven Handelns. Insbesondere interessiere ich mich dafür, wie die Lohnabhängigen in diesem Sektor mit Innovationen auf die neuen Bedingungen reagieren.

Das vorläufige Argument unserer Arbeit über den Plattform-Kapitalismus ist, dass wir mit der Entwicklung von Apps und Technologien, wie z. B. der App/Benutzerschnittstelle, keine grundlegende Veränderung der sozialen Beziehungen sehen. Was sich stattdessen geändert hat, ist die Art und Weise, wie diese organisiert sind. Das Arbeitsverhältnis ist also immer noch das kapitalistische Lohnarbeitsverhältnis, aber es wird jetzt durch eine neue Reihe von technischen Komponenten produziert. Was sich damit geändert hat, ist die Art der Organisation des Widerstandes.

Ich selbst und andere Forscher, wie Jamie Woodcock und einige der Leute, mit denen ich jetzt gearbeitet habe, sprechen darüber in Bezug auf die Klassenzusammensetzung. Wir sagen: Solange die kapitalistische Produktionsweise – und wir gehen im Kapitalismus von einem grundsätzlichen materiellen Interessenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit aus – fortbesteht, wird es fortlaufend Veränderungen in der Art und Weise der Ausbeutung der Arbeit geben.

Was sind die Auswirkungen dieser Veränderungen?

Diese Veränderungen sind von einem zentralen Antagonismus geprägt. Hier stütze ich mich auf Tassinari und Maccarrone. Die Studie der Autoren basiert auf einem Artikel mit dem Titel «Riders on the Storm». In meiner Einschätzung fassen sie die Entwicklung des Klassenkonflikts innerhalb des Plattformkapitalismus gut zusammen.

Globale Entwicklung der Arbeiterkämpfe bei den Lieferplattformen, 2015 – 2019

Das in der Grafik sichtbare Muster ist nicht auf die Lieferplattformen beschränkt; eine ähnliche Dynamik ist oft auch in anderen Sektoren erkennbar. Es gibt Konfliktquellen in den Arbeitsbedingungen, seien es niedrige Löhne, ungerechtfertigte Entlassungen oder ein Restaurant, das die Arbeiter zwingt, draußen in der Kälte zu warten, während ihre Lieferungen vorbereitet werden. Diese Art von Situation kann sich zu einem ausgewachsenen Konflikt entwickeln.

Dies ist von einer Reihe von Faktoren abhängig. Je nach Plattform, oder wann oder in welcher Stadt sich der Konflikt entwickelt, können diese Faktoren unterschiedlich sein. Infolgedessen kann es zu einer etwas anderen Solidarität und zu neuen Formen kollektiven Handelns kommen.

Die Autoren listen einige der wichtigsten auf: Wo treffen sich die Arbeiter, sowohl im realen Leben als auch beim Warten auf Lieferaufträge? Und wie kommen sie online zusammen? Wie schaffen sie eine digitale Gemeinschaft, in der sie Ideen diskutieren? Wie ist ihr Verhältnis zum Management? Schicken die Plattformen lokale Manager, um sie zu überzeugen, oder kommunizieren die Manager gar nicht mit ihnen? Es gibt noch andere Faktoren, die die Autoren nicht aufzählen: Wie ist, wie wir es nennen, die soziale Klassenzusammensetzung der Stadt? Welche Art von Arbeitsmigranten gibt es? Sind die Immigranten untereinander gut organisiert?

Ein großer Teil meiner Forschung konzentrierte sich auf Brighton. In dieser Stadt haben wir eine sehr starke brasilianische Einwanderergemeinde. Für uns deuten also alle Faktoren darauf hin, dass die brasilianischen Arbeiter kollektiv gehandelt haben, um diesen ganzen Prozess zu initiieren. Das hat die Art und Weise verändert, wie Solidarität entstanden ist.

Wie werden kollektive Aktionen unter den Arbeitern auf der Plattform entwickelt und organisiert?

Es gibt mehrere Möglichkeiten. Eine der wichtigsten meiner Ansicht nach und wahrscheinlich die sichtbarste, ist die wilde Streikaktion. Das ist es, was mir in der Branche aufgefallen ist. Im Jahr 2016 gab es in London eine Anzahl wilder Streiks, zu einem Zeitpunkt, als kaum Forschung in diesem Sektor stattfand. Wir wussten nicht, was los war, aber wir sahen 2016 schnell in der Stadt eine Art Streikbewegung von einer beträchtlichen Anzahl von Arbeitern aufgrund von Lohnkürzungen entstehen. Wir sahen, wie sich Hunderte von ihnen dem Streik anschlossen und auf die Straße gingen, um zu protestieren.

Sie kamen aus dem Nichts und keiner von uns verstand, was da passierte, woher diese Bewegung kam. Beobachtend und lernend begannen wir, den Sektor zu untersuchen. Aber dieses Verhalten ist eines der Merkmale der Branche: Es scheint nichts zu passieren, dann bricht es von Zeit zu Zeit aus; es gibt große Streiks. Wie Tassinari und Maccarrone zeigen, gibt es andere Formen kollektiven Handelns mit weniger Auswirkungen. Es gibt Rechtsfälle, Online-Petitionen und so weiter. Alle diese Prozesse treten auch auf.

Wie begann deine Recherche und dein Interesse an diesem Thema?

Ich war 2016 ein Masterstudent. Zu dieser Zeit sah ich die Streiks in London und suchte nach einem Job bei Deliveroo. Ich habe nicht mit der Absicht zu forschen in der Firma gearbeitet, sondern um zu verstehen, was vor sich geht und um mir etwas Geld zu beschaffen. Ich lebte in einer Stadt namens Brighton, wo Deliveroo die Belegschaft vor kurzem ausgebaut hatte. Ich habe dort ein paar Monate gearbeitet und während dieser Zeit haben wir uns in einer Gewerkschaft organisiert. Wir nahmen an dem Streik teil, und diese Arbeit mit der Gewerkschaft bildete die Grundlage für meine heutige Forschung. Danach habe ich ein Buch mit dem Titel «Rider for Deliveroo» und andere Arbeiten geschrieben.

Lieferplattformen sind die am wenigsten dezentralen Logistik-Arbeitsplätze, die von einem algorithmischen System überwacht werden. Was heisst das? Grundsätzlich arbeiten zwei verschiedene Ebenen zusammen: Eine sehr breite Schicht von Orten für die Bereitstellung des Essens; das sind die Restaurants rund um das Stadtzentrum. Und eine Ebene von Orten, an die zu liefern ist; das heißt, die Adressen rund um die Innenstadt. Was die Plattformen also tun, ist die Interaktion zwischen diesen beiden Ebenen zu verwalten. Sie verteilen Mitarbeiter für bestimmte Aufgaben und verwalten ein mitunter kompliziertes Logistiksystem. Das meiste davon wird von einem algorithmischen System überwacht.

In der Vergangenheit waren Lieferjobs von Controllern abhängig, einer Person, die in einem Büro vor Monitoren saß und überprüfte, wo sich die Arbeiter befanden und ihnen sagte: «Ihr müsst zu X gehen, um eine Lieferung an Y zu machen.» Heute ist dieser Prozess automatisiert, und die Art der Zuweisung von Arbeitern zur Erledigung dieser Aufgaben wird von einem System übernommen. Die Anwendung, die den Arbeiter anweist, ist eine Art algorithmischer Manager.

Selbst wenn wir keinen menschlichen Vorgesetzten haben kann seine Abwesenheit in gewisser Weise befreiend sein. Aber es unterwirft den Arbeiter auch einer starren Form der algorithmischen Kontrolle. Diese Abwesenheit ist Teil des breiteren Trends des Fehlens eines Vermittlers zwischen den Anforderungen des Kapitals und der Organisation der Arbeit, um maximale Profite für das Kapital zu erzielen, und zwischen den Arbeitern und der Arbeit selbst.

Wie wird die Plattformarbeit von Algorithmen verwaltet und gesteuert?

Es handelt sich um eine sehr direkte Steuerung. Sie zeichnet sich durch diese direkte, fast kybernetische Art der Anweisung aus. Wir hören genau, was zu tun ist und wann wir es tun sollen. Und der Arbeiter hat eine gewisse Freiheit, wie er die Anweisungen befolgt, aber wir sprechen hier von einer sehr direkten Beziehung zur Arbeit.

Hier gibt es keine Tarifverhandlungen. Ich meine, diese Plattformen vermeiden es systematisch, mit den Arbeitern in eine kollektive Beziehung zu treten, oder eine Beziehung zu haben, die durch eine Gewerkschaft vermittelt wird. In vielen Fällen besteht eine strikte Weigerung, mit der Gewerkschaft zu sprechen. Als ich für Deliveroo gearbeitet habe, war ich selbstständig. Technisch gesehen sind in England viele Lieferfahrer selbständig.

Heißt das, sie arbeiten nicht für das Kapital und sind Kleinunternehmer, die diesen Weg gewählt haben, um Geld zu verdienen? Nein. Es bedeutet, dass wir ganz klar eine Beziehung zwischen Lohnarbeit und Kapital haben, aber da sich die rechtliche Kategorisierung geändert hat, wird das Arbeitsverhältnis anders reguliert und die Arbeit wird anders erlebt. In England zum Beispiel gibt es in diesem Sektor keinen Mindestlohn, keinerlei Garantie, dass der Arbeiter mindestens ein Minimum verdient. Wir verdienen keine acht Pfund pro Stunde, egal was passiert. Wir können jedoch null Pfund pro Stunde verdienen. Das bedeutet, dass sie außergewöhnlich niedrige Löhne zahlen können, die unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegen, weil wir technisch gesehen keine Lohnabhängige sind.

Diese Art der Veränderung ist wichtig für die Art und Weise, wie der Arbeitsprozess erlebt wird. Es gibt keinen zwischengeschalteten Staat, der sich um unsere Interessen kümmert, es gibt keine Gesundheits- und Sicherheitsstandards, es gibt keinen Mindestlohn, es gibt keinen Schutz für den Arbeiter, außer dem, was die Arbeiter durch kollektive Aktionen erreichen können. Dies der Grund, dass einige Reaktionen zugunsten kollektiver Maßnahmen so stark sind.

Wie ist die Arbeitshierarchie auf diesen Plattformen organisiert?

Schließlich wissen wir heute, dass es sich um eine Beschäftigungsstruktur ohne Aufstiegsmöglichkeit handelt. Es gibt die Chefs, diejenigen, die in der Zentrale arbeiten, die Techniker und die Auslieferungsarbeiter. Es gibt keine Möglichkeit, als Zusteller weiterzukommen. Wir haben keine Aufstiegschancen, keine Karriereperspektiven. Und dann gibt die Zentrale kein Geld dafür aus, um uns bei Laune zu halten. In der Tat machen glückliche Lieferfahrer keinen großen Unterschied. Für die Auslieferungen braucht es das nicht. Wenn wir nicht zufrieden sind, werden wir wahrscheinlich die Plattform verlassen und das Unternehmen wird jemand anderen einstellen. Es ist also eine sehr flache Beschäftigungsstruktur.

Vielleicht sind einige von euch mit Katharine Stones Werk «Radical America» vertraut, in dem es um die Entwicklung der amerikanischen Stahlindustrie geht und darum, wie sie die Art von Arbeitsstrukturen entwickelt hat, bei denen es Zwischenstufen gibt, um sicherzustellen, dass die Arbeiter glauben, es gäbe einen Weg zum Aufstieg. In diesem Zusammenhang wurde uns die Möglichkeit genommen, im Job voranzukommen, und es gibt keine so intelligenten Personalstrategien, die die Belegschaft bei der Stange halten. Stattdessen sehen wir, wie Arbeiter mit einer App zusammenstoßen, die App verhält sich oft diktatorisch; die Plattformarbeiter verstehen somit schnell, dass ihre Interessen den Interessen der Plattform-Bosse entgegengesetzt sind.

Wer sind die Arbeiter auf diesen Plattformen? Was ist das Profil der Arbeiter?

In vielen Fällen geht es um die außerstädtische Bevölkerung, um Menschen, die durch eine Reihe von Faktoren von der Erwerbsbevölkerung ausgeschlossen sind, sei es durch mangelnde Sprachkenntnisse oder Rassenzugehörigkeit oder was auch immer. Der größte Teil der Arbeit wird von Motorradkurieren erledigt, entgegen dem Selbstverständnis einiger Unternehmen. Manchmal gibt es auch Fahrradkuriere. Lieferfahrer erledigen 80 % der Lieferungen in London. Ich bin nicht überrascht, dass es anderswo genauso ist.

Sicher spielen undokumentierte Migranten eine wichtige Rolle. Ich beziehe mich bei der Behandlung dieser Problematik auf das Konzept von Emmanuel Terray, das «Délocalisation sur place» [Auslagerung vor Ort, rvs] genannt wird. Im Grunde spreche ich hier über den Einsatz von Wanderarbeitern, um die Kosten niedrig zu halten, was eines der zentralen Merkmale ist.

Wie kommt es in diesem Zusammenhang zur Selbstorganisation der Arbeiter?

Natürlich haben wir das logistische Netzwerk, die Restaurants und die Lieferstellen, die über die ganze Stadt verteilt sind und eine große Elastizität erfordern. Ich weiß nicht genau, wie spät es in Brasilien mit dem Abendessen ist, wahrscheinlich ist es später als in England. Aber hier, gegen 19 Uhr, gibt es eine große Nachfrage nach Lieferungen. Die Leute sagen: «Ich möchte eine Pizza. Ich benutze die Liefer-App.» Das bedeutet, dass plötzlich alle verfügbaren Arbeiter schnell arbeiten müssen, aber eine oder zwei Stunden vorher war das Auftragsvolumen vielleicht viel geringer. Früher erzeugten Lieferungen kaum Arbeitsstress. Die Arbeiter konnten in Erwartung zukünftiger Aufträge herumlungern. Hier haben wir eine ähnliche Dynamik wie die des Hafenarbeiters, des LKW-Fahrers der 1920er Jahre in den Vereinigten Staaten. Es besteht eine elastische Nachfrage nach Arbeitskräften. Das bedeutet, dass wir irgendwo Arbeiter horten müssen, um ihre Arbeitskraft zu nutzen, wenn wir sie brauchen.

Solche Situationen führten in der Arbeitergeschichte zu Momenten, in denen Arbeiter sich selbst organisieren, indem sie viel Zeit miteinander verbringen, nicht arbeiten, die Tatsache diskutieren, dass sie nichts tun, und oft die Tatsache beklagen, dass sie arbeitslos sind, weil das bedeutet, dass sie kein Geld verdienen.

Meiner Erfahrung nach handelt es sich dabei um so genannte zonale Treffpunkte. Dies sind auf Apps markierte Orte, in denen Arbeiter zwischen den Lieferungen warten. Es gibt aber auch informelle Versionen davon. Immer wenn wir eine Gruppe von Motorradkurieren sehen, die sich an einer Straßenecke versammelt haben, ist es so weit. Und diese Besammlungspunkte schaffen die Möglichkeit einer schnellen Organisation. Die Verbreitung von Massennachrichten ermöglicht eine Art Selbstorganisation der Arbeiter durch Chatgruppen. Besonders in England ist WhatsApp ein wichtiges Instrument, und viele sprechen über Gruppen miteinander. Man wird zum Arbeiter in einer Stadt und gerät in diese Art von Netzwerken.

Oftmals mobilisieren sich die Arbeiter gegen Kürzungen der Lieferquoten. Diese Jobs werden auf Quotenbasis bezahlt, d.h. sie werden auf Lieferbasis und nicht als Festgehalt bezahlt. Und wenn sich die Quoten ändern, wenn der Lohn sinkt, ist die einzige Reaktion kollektives Handeln. So werden diese Chat-Gruppen zu einer Art von organisatorischen Netzwerken, und das geschieht organisch.

Die Aktionen müssen nicht von einem externen Agitator erzeugt werden. Es ist die Natur des Arbeitsplatzes, die diesen Impuls entwickelt.

Was dabei herauskommt, sind wilde Streiks, die eskalieren und ziemlich effektiv sein können. Sie können die große Mehrheit der Lieferungen in einer Stadt zunichtemachen. Sie neigen dazu, einen sehr begrenzten Zeitrahmen zu haben und sind nicht unbedingt auf längere Fristen angelegt. Sie mögen effizient sein, wenn es darum geht, eine kurzfristige Lohnerhöhung zu bekommen, aber sie bauen keine Gewerkschaft auf, die langfristige Siege garantiert. Das ist die Logik des wilden Streiks. Es gibt keine vorherrschende Einflusslogik unter den großen Arbeitsmarktakteuren, die bereit sind, die Ausbreitung des kapitalistischen Plattformmodells zu begrenzen, Leute, die nicht wollen, dass sich diese informelle Beziehung zwischen Arbeit und Kapital auf andere Sektoren ausbreitet, in denen es vorerst bessere regulatorische Schutzmaßnahmen gibt.

Wie bereits erwähnt, gibt es einen weltweiten Trend zu zunehmenden Klassenkonflikten. Das liegt daran, dass Plattformen wie Deliveroo, Ubereats und Glovo länderübergreifend sind und mit vielen verschiedenen Verträgen arbeiten, so dass die Arbeiter am Ende diese Verbindungen herstellen. In Europa gibt es eine Organisation namens Transnational Couriers Federation. Heute sind viele Arbeiter miteinander in Kontakt, weil sie auf den gleichen Plattformen arbeiten. Diese entstehende Arbeiterbewegung, diese selbstorganisierte Bewegung, ist also auf der ganzen Welt intensiv vernetzt.

Wie verändern Massenselbstkommunikationsnetzwerke die Organisierung von Arbeitern?

In England hat ein Forscher namens Alex Wood über Massenselbstkommunikationsnetzwerke gearbeitet und darüber, wie sie Räume für die Entstehung von Gewerkschaften bei Walmart geschaffen haben. Es ist eine Studie aus dem Jahr 2015, aber ich denke, wir können das im Kontext des Plattform-Kapitalismus noch deutlicher sehen.

Es gibt einen Forscher namens Mafi, der über Web 2.0-Communities und den Aufstieg der App-Fahrer arbeitet. Er spricht von Uber-Fahrern. Grundsätzlich hat Mafi eine quantitative Studie durchgeführt und festgestellt, dass das Interesse an kollektiver Repräsentation umso größer ist, je größer die digital vermittelte Interaktion mit anderen App-Fahrern ist. Das heißt, wenn Arbeiter an WhatsApp-Gruppen teilnehmen, an Formen digitaler Gemeinschaften, die mit der kollektiven Identität der Arbeiter verbunden sind, steigt ihr Interesse, Arbeits- und Kollektivorganisationen beizutreten. Somit ist das Online-Arbeiternetzwerk eine der aufkommenden Formen der Arbeiterbewegung, die in diesen neuen Kontexten von entscheidender Bedeutung war.

Es ist klar, dass Lohnabhängige die Kommunikationstechnologie nutzen, um komplexe Netzwerke aufzubauen und daran teilzunehmen. Dabei verändern sie den Prozess der Gewerkschaftsbildung. Es geht nicht darum, der Gewerkschaft beizutreten, sondern einem WhatsApp-Netzwerk beizutreten. Ein mit dem Arbeitsplatz verbundenes digitales Kommunikationsnetzwerk kann ein grundlegender Bestandteil sein, um sich über die Realität des Arbeitsprozesses auszutauschen.

Eric Blanc, der in den USA lebt und über die Lehrerstreiks in West Virginia, Oklahoma und Arizona arbeitet, spricht darüber, wie die militante Mehrheit, der ideologisch sozialistische Teil der Arbeiterbewegung, der sich der Entwicklung einer kämpferischen Arbeitermacht verschrieben hat, diese Gruppen, wie die auf Facebook, als ein wirklich nützliches Mittel zur Ausweitung ihres Einflusses innerhalb der Belegschaft nutzen kann. Sie können schnell in ihrer Fähigkeit wachsen, Arbeiter an sehr unterschiedlichen Orten zu beeinflussen.

Wenn Arbeiter diese digital vermittelten Netzwerke nutzen, um viele Menschen zu erreichen, können sie ihre Reichweite sehr schnell vergrößern, sie können weit verbreitete direkte Aktionen katalysieren, sie können die Art und Weise verändern, wie kollektive Aktionen verbunden werden, sie können «Öl ins Feuer gießen», in Ermangelung eines besseren Ausdrucks.

Gleichzeitig haben diese verschiedenen Varianten auch ihre eigenen Schwächen. Zum Beispiel kann das Fehlen von persönlichem Kontakt das Fehlen einer tieferen Beziehung bedeuten. Diejenigen, die einen Streik organisieren, bauen nicht unbedingt tiefe Beziehungen zu denjenigen auf, die sich daran beteiligen werden. Vielmehr gibt es eine leichtere Wechselwirkung. Es gibt nicht unbedingt eine Möglichkeit für Arbeiter, Entscheidungen kollektiv zu treffen.

Ich denke also, dass es hier eine mobilisierende Dynamik gibt, die zu einer allgemeinen und schnellen Eskalation von kollektiven Aktionen führt, aber es gibt auch eine mobilisierende Dynamik, die nicht in das klassische Gewerkschaftsmodell passt. Während die Gewerkschaften dazu neigen, die Entwicklung von Mobilisierungen zu kollektiven Aktionen von einem zentralisierten Standpunkt aus zu lenken und zu beaufsichtigen – sie halten eine Versammlung ab, entscheiden, was dort geschehen soll, und gehen auf die Straße, um zu mobilisieren –, hat diese kollektive Aktion viele Zentren der Leitung. Es hat keinen bestimmten zentralen Punkt. Jedes dieser Zentren kann die Vorhut sein, kann den Weg weisen und den Rest des Netzwerks anführen.

Überwindung des Arbeitsverhältnisses

Es ist wichtig zu erkennen, dass auch die Überwindung des Arbeitsverhältnisses gewisse Vorteile bietet. So ist in England die Teilnahme an einem Streik, ohne verklagt werden zu wollen, ein sehr langer und komplizierter Prozess, der mehrere rechtliche Schritte umfasst. Diese geschützten Rechtsinstrumente sind darauf ausgelegt, die Handlungsfreiheit der Lohnabhängigen einzuschränken. In diesem Kontext, in dem es kein Arbeitsverhältnis gibt, sei es auf Deliveroo oder einer anderen Plattform, vermeiden die Unternehmen die formale Beschäftigung von Lohnabhängigen, sie sind von der Verpflichtung zur Zahlung des Mindestlohns befreit, aber sie sind auch vom Schutz vor wilden Streiks befreit. Hier eröffnet sich für diese Lohnabhängigen die Freiheit, sofort bestimmte Aktionsformen zu ergreifen, ohne darüber nachdenken zu müssen, ob sie formale Abstimmungen benötigen. Sie können einfach handeln, ohne Zeremonie.

Vermittlung zwischen Kapital und Arbeit und die Redundanz der Gewerkschaften

Die Rolle einer Gewerkschaft ist es, zwischen Kapital und Arbeit zu vermitteln. Die klassische marxistische Perspektive ermächtigt die Arbeiter, kollektiv die Kontrolle über ihre Arbeitsbedingungen auszuüben, da sie diese nicht als Individuen besitzen können. Der Plattform-Kapitalismus ist der Vermittlung beraubt. Es liegt jedoch in der Natur der Sache, dass die Plattform sich weigert, mit den Belegschaften zu vermitteln. Die Gewerkschaft kann ein wenig überflüssig werden mit dem, was sie tatsächlich erreicht. Denn wenn sie keine Tarifverhandlungen mit dem Arbeitgeber erzwingen kann, was ist dann die Rolle der Gewerkschaft? Ich denke, dieser Ausschluss der Gewerkschaften in den rechtlichen Prozessen und im Regulierungsprozess durch die Unternehmer verschärft die Spannung zwischen dem Streiknetzwerk, den WhatsApp-Netzwerken und der Gewerkschaft, denn die Gewerkschaft muss eine Rolle erfinden, weil sie hier nicht einbezogen wird.

So fragen viele Arbeiter: Was ist der Zweck der Gewerkschaft? Wenn wir einen Streik selbst organisieren können, ohne eine Organisation aufzubauen, warum sollten wir uns dann die Mühe machen, eine Organisation aufzubauen? Wir müssen nur unsere Telefone benutzen. Wenn wir einen Streik organisieren können, ohne an zwei Abenden im Monat an Versammlungen teilzunehmen, bei denen wir uns hinsetzen und darüber sprechen müssen, wie wir einen Streik organisieren, und wenn wir nur das Telefon benutzen können, werden wir die einfachere Option wählen. Es gibt also eine Tendenz, die Gewerkschaften auszuschließen, weil sie in diesem Zusammenhang fast überflüssig erscheinen.

Das bedeutet, dass wir in einer Situation enden, in der sich die Arbeiter, wenn sie die Bedingungen verbessern wollen, zuerst von der Arbeit zurückziehen und dann fragen. Indem sie den Unternehmern wirtschaftlichen Schaden zufügen, gehen sie davon aus, dass sie in den folgenden Monaten Gehaltserhöhungen erhalten werden.

Ich denke, wir können uns das als ein Plattform-Äquivalent zu Kollektivverhandlungen via Aufstand vorstellen, den Eric Hobson als den Modus Operandi der Ludditen identifiziert. Obwohl es keinen formellen Kommunikationskanal gibt, wissen die Arbeiter, dass es sich auszahlt, Plattformen zu ruinieren. Sie erhalten eine Gehaltserhöhung, wenn sie Schäden verursachen. Sie wollen durch Streiks verhandeln und setzen weiterhin auf diese Form der vernetzten Aktion, die es ihnen erlaubt, diesen Einfluss auszuüben, anstatt sich mit den Gewerkschaften einzulassen oder eine zentralere Kontrolle der Mobilisierungsprozesse aufzubauen.

Wie kann diese Spannung überwunden werden?

Ich denke, es ist wichtig, dass wir an die Zukunft denken. Die Gewerkschaften können viele Schritte unternehmen, um die Situation zu verbessern. Ich denke, sie müssen sich innerhalb der WhatsApp-Netzwerke verorten, sie müssen eine Rolle für sich in diesem neuen technischen Kontext finden. Das bedeutet, eine mobilisierende Rolle zu spielen, anstatt nur zu versuchen, den Arbeitsmarkt durch Gerichtsverfahren zu beeinflussen. Die Gewerkschaften müssen weniger ein Regulator des Arbeitsmarktes und mehr ein Zentrum der Arbeitermobilisierung sein. Sie müssen in sich selbst investieren, in diese selbstorganisierten Massenkommunikationsnetze der arbeitenden Menschen.

Kannst du Emmanuel Terrays Konzept der Délocalisation sur place zusammenfassen? Worum geht es dabei?

Délocalisation sur place ist besonders wichtig im Kontext der europäischen Länder, in denen Arbeitsmigranten eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Streikaktionen spielen; egal ob es sich um Arbeiter aus Nordafrika, Südamerika oder Osteuropa handelt. In Großbritannien können wir die Funktionsweise dieser Plattformen nicht verstehen, ohne über die Dynamik der Migration zu sprechen.

Emmanuel Terray ist ein französischer Marxist, der die Idee der „délocalisation sur place“ vorschlug, was so viel bedeutet wie «örtliche Verlagerung». Er spricht grundsätzlich über die Suche nach billigeren Arbeitskräften. Zum Beispiel geschieht dies in der Fertigung, wenn Fabriken ins Ausland verlagert werden. Wenn die Lohnkosten zu hoch sind, können wir die Fertigung einfach nach Vietnam auslagern und die Produkte dann auf dem Seeweg importieren. Dies ermöglicht deutlich niedrigere Produktionskosten und billigere Waren. Sie ermöglicht es einem Konzern, wettbewerbsfähig zu bleiben und senkt die Arbeitskosten, was möglicherweise die Ausbeutungsrate erhöht, da Länder wie Vietnam weniger regulierte Arbeitsmärkte haben.

Dies steht allen Branchen zur Verfügung, die ihre Produktion auslagern können. Sie können die Rohstoffproduktion woanders hinschicken und die Ergebnisse importieren. Nun, im Dienstleistungssektor ist das unmöglich. Eine Lieferung in London kann nicht von jemandem in Vietnam durchgeführt werden. Es gibt keine räumliche Justierung, um es mit David Harveys Worten zu sagen.

Wenn es für diesen Sektor keine räumliche Anpassung gibt, wie kommt man dann an billigere Arbeitskräfte? Terrays Argument ist, dass die Hauptfunktion von Grenzregimen, die in Europa in letzter Zeit zunehmend militarisiert wurden, darin besteht, eine Kategorie von ausgelagerten internen Arbeitern zu schaffen. Das heißt, undokumentierte Einwanderer als eine höchst gefährdete Bevölkerungsgruppe zu schaffen, die für jeden Lohn arbeitet, weil sie unter ständiger Bedrohung durch das Grenzregime steht. Das Grenzregime ist also völlig unwirksam, wenn es darum geht, Migranten zu stoppen, die nach Großbritannien kommen.

Zum Beispiel können die englischen Grenzbeamten nichts tun, um jemanden zu stoppen, der ohne Arbeitserlaubnis einreisen will. Es ist wie ein Elefant, der versucht, Ameisen aufzuhalten. Das militarisierte Grenzregime mag stark und mächtig sein, aber es kann nur einen kleinen Teil der Menschen erreichen, die nach England einwandern.

Aber was dieser Wächter tun kann, ist, Bedingungen zu schaffen, unter denen jeder Wanderarbeiter, der keine Arbeitserlaubnis hat, extremen Repressionen ausgesetzt ist. Das bedeutet, dass undokumentierte Arbeitsmigranten eher jeden Job annehmen; sie werden für 3 £/Stunde arbeiten, wenn das für ihren Lebensunterhalt ausreicht und sie sich fortpflanzen können. Sie sind sich bewusst, dass sie, wenn sie sich organisieren, wenn sie sich an kollektiven Aktionen beteiligen, Gefahr laufen, von den Grenzschützern abgeschoben zu werden.

Dies ist eine zentrale Entwicklung für das, was in den Lebensmittelplattformen vor sich geht. In Ermangelung eines formellen Arbeitsverhältnisses und eines Mindestlohns sind viele Arbeiter undokumentierte Migranten aus dem globalen Süden, die ihre Lieferungen auf Motorrädern durchführen und niedrige Löhne erhalten. Aber sie sind gezwungen, diese Bedingungen zu akzeptieren, denn wenn sie versuchen, sich zu wehren, riskieren sie Abschiebung und Repression.

Aber es gibt kollektive Aktionen in Form von wilden Streiks, weil sie nicht die Form einer Gewerkschaft annehmen müssen. Er bleibt informell, weil er einem improvisierten Stil folgt, ähnlich dem Guerillakrieg: Es gibt keine langfristigen Ziele, die eine Integration in den Staat anstreben. Es gibt keine prominenten Mitglieder der Gewerkschaft, die sagen können: «Okay, diese Leute müssen abgeschoben werden».

Die Plattformökonomie ist eine Arbeitsweise, die das kollektive Handeln der Lohnabhängigen begünstigt. Diese kollektive Aktion erfolgt durch selbstorganisierte Massenkommunikationsnetzwerke und nicht durch formale gewerkschaftliche Organisation. Es hat seinen Ursprung in der Art und Weise, wie Migration und digitale Kommunikation in unserer heutigen Gesellschaft funktionieren, in der Art und Weise, wie wir verschlüsselte Chatrooms als eine Art Substrat des Sozialen nutzen.

Widerspruch zwischen Plattform-Kapitalismus und der freien Produzentengemeinschaft

Ich habe versprochen, über den Widerspruch zwischen Plattform-Kapitalismus und der freien Assoziation der Produzenten zu sprechen, und das werde ich auch tun. «Freie Assoziation» ist ein Ausdruck, den Marx verwendet, um die Gesellschaft zu bezeichnen, die nach dem Kapitalismus kommt, in der die Menschen nicht gezwungen sind, unter Androhung des Verhungerns zu arbeiten, in der die Produktion kollektiv und demokratisch organisiert ist, nicht für den Profit, in der wir den Gebrauchswert, das, was den Menschen wichtig ist, über die Tauschwerte der kapitalistischen Form der Wertproduktion stellen.

Ich denke, wir sehen heute diese Wahrheit in Marx‘ Motiv, wenn wir folgendes betrachten: Wir leben in einer Gesellschaft, in der fossile Brennstoffe als unglaublich wertvoll angesehen werden und in der ein großer Teil der Weltwirtschaft an die Förderung und Nutzung dieser Brennstoffe gebunden ist. Aber in Wirklichkeit bedroht die Gewinnung und Nutzung fossiler Brennstoffe unsere Existenz als Spezies. Es gibt einen Widerspruch zwischen der kapitalistischen Wertform, der kapitalistischen Produktionsweise, und dem, was wir als Menschen grundsätzlich brauchen. Das gilt nicht nur in Bezug auf fossile Brennstoffe, wo diese Industrie – von Firmen wie Shell, British Petroleum – das Leben auf der Erde zu zerstören droht.

Wenn den Plattform-Kapitalismus betrachtet, so sieht man, dass es die Apps und die extrem wohlhabenden Eigentümer und Investoren gibt, die die Arbeiter ausbeuten, denen sie absolute Armutslöhne zahlen, um möglichst viel Wert zu schaffen. Diese Leute kümmern sich nicht um die sozialen Auswirkungen. Wenn die Arbeiter gezwungen sind, schneller zu arbeiten und versuchen, so viele Lieferungen wie möglich zu machen, und dabei möglicherweise Verkehrsunfälle erleiden, ist das für die Bohrinseln nicht von Belang.

Eines der Dinge, die mir am meisten aufgefallen sind, als ich für diese Plattformen gearbeitet habe, ist, dass es einen sozialen Nutzen für diese Arbeit gibt. Die Lieferung von Essen ist ein ziemlich fürsorglicher Service. Was wir tun, ist der Person zu helfen, die ihr Essen bekommt. Wir sollten darüber nachdenken, wie das algorithmische Management und die kapitalistische Nutzung von Algorithmen dem möglichen sozialen Nutzen von Arbeit völlig entgegengesetzt sind.

Soziales Potenzial von Plattformen

Die Höherentwicklung und Befreiung der Arbeitsformen erfordert eine Gesellschaftsform, in der wir sagen: Was ist der Wert dieser Arbeit in Bezug auf den Gebrauchswert? Was produziert sie gesellschaftlich? Wie können wir den Arbeitern erlauben, die Kontrolle über ihre Arbeitskraft zu übernehmen? Wie können wir eine demokratische Beteiligung an dem haben, was wir tagsüber tun? Wie können wir die gesellschaftlichen Ergebnisse optimieren?

Profitoptimierung ist meiner Ansicht nach eine zutiefst entmenschlichte, zutiefst korrupte Optimierungslogik, die unsere Gesellschaft in eine schädliche Richtung geführt hat, und zwar, wie meine Verweise auf Marx zeigen, schon seit Hunderten von Jahren.

Abschließend muss unser Forschungshorizont nicht nur darin bestehen, zu verstehen, was innerhalb des Kapitalismus geschieht, sondern auch darüber nachzudenken, was ein Ausweg sein könnte. Welche Gesellschaftsformen, welche Organisationsformen, welche demokratischen Möglichkeiten könnten es uns ermöglichen, zu einer Situation zu gelangen, in der der potenzielle Nutzwert dieser Arbeit tatsächlich realisiert wird? Wie können wir Essens-Lieferplattformen von einem erniedrigenden und unterbezahlten Sektor, in dem Menschen ihr Leben für den Profit von Multi-Millionen-Dollar-Plattformen quer durch die Städte aufs Spiel setzen, in eine soziale Dienstleistung verwandeln, die für uns alle von Bedeutung ist?

Original: http://www.ihu.unisinos.br/159-noticias/entrevistas/607391-discriminacao-algoritmica-e-justica-social-a-situacao-dos-migrantes-indocumentados-do-sul-global-entrevista-especial-com-callum-cant

Traducción: viento sur

Quelle: vientosur.info… vom 14. März 2021; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch mit grösseren Kürzungen

 

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