Irans Öl- und Gasstreik: Weg in die Hoffnung
Ruben Markarian. Der bislang grösste Öl- und Gasstreik der iranischen Arbeiterklasse als eine Rebellion gegen den Neoliberalismus. Wirtschaftliche und politische Forderungen verbinden sich.
Vor etwas mehr als einem Monat begannen die iranischen Ölvertragsarbeiter ihren Streik. Diese Aktion, zu der der Council for Organising Protests by Oil Contract Workers (COPOCW) aufgerufen hat, ist der umfangreichste Arbeitskampf, den die Ölarbeiter im Iran je geführt haben. Ihre Forderungen gehen über blosse sektorielle Interessen hinaus.
Die erste Erklärung des COPOCW enthielt 13 spezifische Forderungen:
- Eine sofortige Lohnerhöhung und die Festsetzung des Mindestlohns auf 12 Millionen Tomans pro Monat in der Öl- und Gasindustrie (ca. 400 € zum inoffiziellen, aber realen Wechselkurs);
- Die sofortige Auszahlung der Rückstände und die Verpflichtung, alle Löhne pünktlich zu zahlen;
- Zehn Tage Urlaub für jeweils 20 Arbeitstage;
- Die Abschaffung von Zeitarbeitsfirmen und -agenturen;
- Arbeitsplatzsicherheit und unbefristete Arbeitsverträge sowie ein Verbot der sofortigen Entlassung von Lohnabhängigen;
- Die Bereitstellung von Sicherheitsausrüstungen an allen Arbeitsplätzen sowie von angemessenen Kühl-, Heiz- und Klimatisierungssystemen;
- Die Wiedereinstellung aller entlassenen Kollegen;
- Bessere Gesundheitsstandards in Arbeiterwohnheimen und anderen Räumen, wie Toiletten, Bädern usw;
- Die sofortige Aufhebung der arbeiterfeindlichen Gesetzgebung und die Abschaffung der „Sonderwirtschaftszonen“;
- Die Abschaffung der Sicherheitskontrollen am Arbeitsplatz;
- Versammlungs- und Protestfreiheit;
- Sofortige Akzeptanz von offiziell anerkannten Standards in der Öl- und Gasindustrie;
- Die Gewährung von Grundrechten der sozialen Sicherheit, einschliesslich kostenloser Gesundheitsversorgung und Bildung für alle.
Auch die Kampagne 1400 beteiligt sich an der Organisation des Streiks – nach der Anzahl der Aktivisten, Akademiker, Sportler, Autoren usw., die ihre Gründungserklärung unterschrieben haben – unter dem Slogan „Nein zur Islamischen Republik“. Aber wie hat er begonnen? Die Vertragsarbeiter werden in verschiedenen Funktionen auf Zeit beschäftigt, wobei die Länge ihres Vertrags von der Art des Projekts abhängt. Wenn ein bestimmter Auftrag abgeschlossen ist, braucht der Auftragnehmer sie vielleicht nicht mehr und so werden sie arbeitslos. Aber die meisten kennen viele andere solcher Vertragsarbeiter von ihrer Arbeit in vielen Projekten in verschiedenen Regionen im Süden des Irans. Nach Beendigung ihres Vertrages versuchen sie also, über ihre Kontakte in sozialen Netzwerken oder familiäre Beziehungen einen Job in anderen Projekten zu finden.
Diese Netzwerke dienten als Ausgangspunkt für die Koordinierung der aktuellen Arbeitskämpfe in Ermangelung von Gewerkschaften sowie anderen offiziellen oder halboffiziellen Arbeiterorganisationen, die in der Islamischen Republik verboten sind.
Noch immer Ausweitung des Streiks
Der Streik hat sich inzwischen auf mindestens 117 Öl- und Gasanlagen, Raffinerien und petrochemische Anlagen in 17 Provinzen ausgeweitet, wobei Berichten zufolge zwischen 60.000 und 100.000 Arbeiter zu Hause oder in ihren Wohnheimen bleiben.
COPOCW hat bisher neun Erklärungen abgegeben, von denen die siebte eine Reihe von Mindestforderungen enthielt. Diese erweiterten einige der oben aufgeführten und enthielten weitere spezifische, wie die Bereitstellung von geeigneten Lebensmitteln und medizinischen Einrichtungen am Arbeitsplatz sowie eine kostenlose Krankenversicherung für alle Arbeiter. Aber sie betonte, dass die Hauptforderung ein Ende aller Leiharbeitsverhältnisse und die Abschaffung dieser „Sonderwirtschaftszonen“ sei, in denen die Unternehmer ihre eigenen Regeln aufstellen können.
Einige Unternehmen haben versucht, die Aktion zu untergraben, indem sie Zugeständnisse versprachen – darunter eine erhebliche Erhöhung oder sogar Verdoppelung der Löhne, acht Tage Urlaub auf je 22 geleistete Arbeitstage – in der Hoffnung, den Rest zu zwingen, ihrem Beispiel zu folgen. Einige Arbeiter sind tatsächlich zur Arbeit zurückgekehrt, aber nur sehr wenige.
Eine der jüngsten Entwicklungen ist die Organisation lokaler Treffen der Streikenden, bei denen Meinungen über die Notwendigkeit, ihre Forderungen aufrechtzuerhalten, die Ziele des Streiks zu verteidigen und Solidaritätsbotschaften an andere Streikzentren zu senden, ausgetauscht werden.
Bisher hat die Regierung nicht versucht, die Streikenden gewaltsam zu unterdrücken, sondern versucht, die Einheit der Arbeiter zu brechen, indem sie sie auffordert, zur Arbeit zurückzukehren, mit dem Versprechen, dass es Verhandlungen geben wird, wenn sie den Streik beenden. Die Regierung hat auch versucht, sie von innen über so genannte „Gewerkschaften“ zu untergraben, wie die islamischen „Arbeiterräte“, die in Wirklichkeit Kollaborateure der staatlichen Sicherheitsorgane sind.
In der Ölindustrie gibt es zwei Hauptzweige: den operativen Zweig, der aus Technikern und besonderen Facharbeitern besteht, und den Management- und Personalzweig, der aus den Beschäftigten in den Projektzentralen besteht, einschliesslich der Aufsichtspersonen, Koordinatoren, usw. Letztes Jahr gab es einen kleineren Streik, der nur im operativen Bereich stattfand und an dem bis zu zweitausend Arbeiter beteiligt waren, aber trotz seines begrenzten Umfangs gelang es den Arbeitern in einigen Projekten, Lohnerhöhungen von 50-70% durchzusetzen.
Es gibt jedoch drei Gründe, die diesen jüngsten Streik so stark gemacht haben. Erstens hat er zwar bei den operativen Arbeitern begonnen, aber zur Überraschung der Unternehmer haben sich diesmal auch die Beschäftigten im Management und im Personalbereich den Aktionen angeschlossen, was bedeutet, dass verschiedene Projekte komplett zum Stillstand gekommen sind. Diese bisher unerhörte Einigkeit zwischen beiden Bereichen hat eine starke Dynamik für die Ausweitung des Streiks geschaffen.
Der zweite Grund ist die Unfähigkeit der Unternehmer, schnell eine neue Belegschaft einzustellen, da in beiden Sektoren die Mehrheit professionell und erfahren ist. Der letzte Grund ist die rebellische und trotzige Psychologie der Mehrheit der Arbeiter, die hauptsächlich zu einer jüngeren, aufmüpfigen Generation gehören, die eher bereit ist, das Regime herauszufordern. Dies ist dieselbe junge Generation, die so zahlreich an den Aufständen von Dezember 2017 bis Januar 2018 und November-Dezember 2019 teilgenommen hat.
Generell hat die neoliberale Umgestaltung dazu geführt, dass sich die Arbeiterklasse des Irans in einem katastrophalen Ausmass von einem Proletariat zu einem Prekariat gewandelt hat. Nach der Revolution von 1979 waren nur etwa acht Prozent der Arbeiterschaft Vertragsarbeiter ohne offizielle arbeitsrechtliche Anstellung. Aber nach dem Iran-Irak-Krieg 1980-88 begann diese neoliberale Umgestaltung und hat sich seitdem unter ausnahmslos jeder Regierung dramatisch ausgeweitet, was bedeutet, dass bis zu 95 Prozent der Arbeitskräfte mit Kurzzeitverträgen beschäftigt sind.
Früher genossen die Ölarbeiter relativ sichere und stabile Arbeitsplätze mit einem guten Gehalt und anderen Zusatzleistungen. Doch Mohammad Khatami begann nach seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 1997 unter seinem Erdölminister Bijan Namdar Zangeneh mit dem Outsourcing der Ölarbeiter. Vor Zangenehs Ernennung waren alle Arbeiter in der Ölindustrie offiziell angestellt. Im Jahr 1997 wurde der Abbau der Vollzeitbeschäftigung unter dem so genannten „Code 23“ verkündet.
Dieses Gesetz orientierte sich an Massnahmen, wie sie unter der Regierung von Margaret Thatcher in Grossbritannien eingeführt wurden. Nach dieser Denkweise ist es die Aufgabe der Regierung, zu regieren und zu regulieren, und nicht, Unternehmen und Betriebe zu besitzen und zu führen. Infolgedessen wurden alle Dienstleistungsjobs in den privaten Sektor ausgelagert. Zangeneh stoppte die Einstellung neuer Mitarbeiter, um die Rentner zu ersetzen, und engagierte gleichzeitig Vertragsfirmen, deren Aufgabe es war, die Ölindustrie in all ihren verschiedenen Bereichen zu entwickeln und zu erweitern.
Der nächste Präsident, Mahmoud Ahmadinejad (2005-13), ernannte einen Kommandeur der Revolutionsgarden, Rostam Ghasemi, zum Ölminister. Ghasemi stellte die Ölindustrie unter die wirtschaftliche Leitung der Revolutionsgarden, die zu den Hauptauftragnehmern wurden – etwa 300 mit ihnen verbundene Unternehmen waren nun an den Vertragsgeschäften der Ölindustrie beteiligt.
Wichtig dabei ist, dass es unterhalb der Hauptauftragnehmer, die die verschiedenen Projekte durchführen, mindestens fünf Ebenen von Subunternehmern gibt, die ohne direktes operatives Engagement riesige Geldbeträge verdienen. Heute hat weniger als ein Drittel der Beschäftigten (28%) einen offiziellen und sicheren Arbeitsplatz. Diese enorme „Prekarisierung“ der Belegschaft im reichsten Sektor der iranischen Wirtschaft ist das Ergebnis von etwa einem Vierteljahrhundert neoliberaler Privatisierung und der entsprechenden Umgestaltung der Belegschaft.
Grösseres Bild
Die einzigartige Bedeutung dieses Streiks bezieht sich nicht nur auf die Tatsache, dass es sich um den umfangreichsten Arbeitskampf in der gesamten Lebenszeit der Islamischen Republik handelt. Er markiert einen grossen Wendepunkt, da seine Forderungen eine neue Agenda gesetzt haben – von der Abschaffung der Leiharbeit und ihrer Ersetzung durch sichere Arbeitsplätze über die Unterstützung der Versammlungsfreiheit und des Rechts auf Protest bis hin zur Forderung nach einer umfassenden sozialen Absicherung. Die COPOCW-Plattform fasst die dringendsten Forderungen der grossen Mehrheit der iranischen Bevölkerung zusammen.
Aber die Frage ist, warum gerade jetzt? Warum gibt es nach mehr als 30 Jahren einen so grossen landesweiten Aufstand der Arbeiterklasse gegen den Neoliberalismus? Die Antwort liegt in dem Erdbeben, das in den letzten Jahren die gesamte politische Landschaft in ihren Grundfesten erschüttert hat. Die Islamische Republik wird von einer multiplen Krise heimgesucht, die ihre Legitimität in Frage stellt und diese durch einen ideologischen, sozioökonomischen Zerfall bedroht, nachdem sie in den entscheidenden Fragen völlig versagt hat, nicht zuletzt im Umgang mit der Coronavirus-Pandemie. Um nur einige der jüngsten Ereignisse zu nennen:
- Die Reihe der Proteste im Zeitraum vom 28. Dezember 2017 bis zum 3. Januar 2018, die als „Tagesproteste“ bekannt sind, fand in mindestens 180, hauptsächlich kleinen, Städten und Provinzstädten im ganzen Land statt. Sie brachten Slogans gegen den obersten Führer vor und forderten den Sturz des islamischen Regimes.
- Aban-Proteste: Diese wurden im November-Dezember 2019 durch eine plötzliche Erhöhung der Kraftstoffpreise und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Härten ausgelöst. Diesmal breiteten sich die Proteste auf über 200 grosse und kleine Städte im ganzen Land aus und wurden nur durch die Sicherheitskräfte und den Einsatz von mörderischer Gewalt unterdrückt. Bei der Niederschlagung durch die Regierung wurden mindestens 1.500 Menschen getötet, 2.000 verwundet und 7.000 verhaftet. Die Aban-Proteste markierten einen Wendepunkt, der zu der aktuellen Gesamtkrise und einer revolutionären Situation geführt hat.
- Wahlboykott: Bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2020 gab es die niedrigste Wahlbeteiligung in der Geschichte der Islamischen Republik, während die diesjährigen Präsidentschaftswahlen (genauer gesagt, die Wahlfarce) von einem noch grösseren Boykott geprägt waren. Beide Wahlen – insbesondere die Präsidentschaftswahl, bei der der Oberste Führer Ali Khamenei den Killer-Richter Ebrahim Raisi als Präsidenten installierte – zeigten, dass der herrschende Klerus einen klaren und entscheidenden Schritt in Richtung der endgültigen Homogenisierung der Machtstruktur gemacht hat, deren Hauptzweck darin besteht, der Gefahr einer Revolution von unten zu begegnen. Es ist kaum ein Zufall, dass der Streik am Tag nach den Präsidentschaftswahlen begann, die selbst einen grossen Akt des Widerstands und eine Herausforderung für das islamische Regime darstellten.
- Aufruhr in Khuzestan: Am 16. Juli brachen über Nacht weitreichende Proteste wegen der schweren Wasserknappheit im Südwesten des Iran aus. Khuzestan ist mit seinen Öl- und Gasvorkommen, seiner Industrie und Landwirtschaft die reichste Provinz des Landes. Die Herrscher der Islamischen Republik haben Khuzestan in den mehr als vier Jahrzehnten ihres Regimes ruiniert, eine ökologische Katastrophe geschaffen und die Mehrheit der einheimischen arabischen Bevölkerung in bitterer Armut und sogar unter Trinkwasserknappheit leiden lassen. Infolgedessen ist Khuzestan eines der Hauptzentren des aktuellen Streiks. Dies verbindet diese mächtigste Aktion der Arbeiterklasse mit dem Kampf gegen nationale Diskriminierung, ökologische Katastrophe und Geschlechterapartheid nicht nur in Khuzestan, sondern im ganzen Land.
Die landesweite Streikaktion der Arbeiterklasse hat ein Fenster des Lichts und der Hoffnung in der langen, dunklen Nacht der Herrschaft der Ayatollahs geöffnet. Aber trotz seiner enormen Bedeutung ist der Streik der Öl-Vertragsarbeiter nur der erste Schritt in einem langen und schwierigen Prozess des Klassenkampfes für Freiheit, Demokratie und Sozialismus, der zuallererst das dringende Wiederaufleben einer marxistischen revolutionären Linken erfordert, um den Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse zu führen.
Quelle: weeklyworker.uk… vom 24. Juli 2021; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitskämpfe, Arbeitswelt, Covid-19, Gesundheitswesen, Iran, Neoliberalismus, Politische Ökonomie, Service Public, Strategie, Widerstand
Neueste Kommentare